KAPITEL 1
Heimweh in Heidenheim
HEIDENHEIM, JANUAR 2014. Eines wusste ich genau, das konnte nicht wirklich Kaffee sein. »Entschuldigen Sie, können Sie mir sagen, was das ist?« Die junge Frau an der Theke der Bäckerei in der Innenstadt Heidenheims, einem romantischen Industriestädtchen in Schwaben, schaute mich irritiert an.
»Verzeihen Sie die Frage, ich möchte nicht unhöflich sein …«, der Südeuropäer in mir neigt auch bei tadelloser hochdeutscher Aussprache zu wortreichen Floskeln, »… aber wurde die Kaffeemaschine eventuell gerade gereinigt? Ist das eine neue Teesorte oder Spülwasser?«
»Der ist immer so«, sagte eine andere Kundin, die an einem Stehtisch aus ihrer Tasse schlürfte. Einen Augenblick lang zögerte ich – meinte sie den Kaffee oder mich? Hier kannte mich doch niemand. Ich lebte erst seit einem halben Jahr in Deutschland. Fast hätte ich aufbrausend reagiert: »Was wollen Sie damit sagen?« Ich konnte knapp die Worte zurückhalten und lächelte.
Die Iberische Halbinsel und Deutschland leben seit viereinhalb Jahrzehnten in einem Kampf der Kulturen in meinem Kopf. Ich bin ein katalanischer Deutschportugiese. Mit der Krise und den radikalen Sparmaßnahmen, die Spanien 2009 und Portugal 2011 auferlegt wurden, weitete sich mein innerer Kampf leider zu einem öffentlichen Krieg aus: Das Schlachtfeld sind jetzt die Straßen Lissabons und Madrids, wo die Menschen, die an der Austeritätspolitik aus Berlin leiden und verarmen, verbal gegen Deutschland aufrüsten und attackieren. Deutschland dagegen scheint die Feindseligkeit des Südens einfach zu ignorieren.
In Lissabon hatte ich von Anfang der 90er bis zu unserem Familienumzug an die Südküste Portugals vor zwei Jahren die Gewohnheit gehabt, auf dem Weg in die Redaktion vor einem der vielen Kaffeehäuser unter Palmen, Palisanderholzbäumen oder den majestätischen Tipuanas meine Bica zu trinken. Bica ist ein kleiner, sehr starker Espresso, der in anderthalb Litern Wasser verdünnt in den Bäckereien der deutschen Provinz als Kaffee verkauft werden könnte.
Ich hätte mich von dem dünnen Kaffee an meinem jetzigen Wohnort Heidenheim nicht überraschen lassen sollen. Getränke, Menschen, selbst Tiere: Ich kannte die Unterschiede zwischen Deutschland und einem südeuropäischen Land seit meiner Kindheit. Als kleiner Junge war ich Mitte der 70er kurz nach der Nelkenrevolution mit meinen Eltern von meinem Geburtsland Portugal nach Deutschland gezogen. Schon damals staunte ich, dass deutsche Hunde nicht an jedem Gartenzaun laut bellten, am Straßenrand schliefen oder den radfahrenden Kindern wadenbedrohend hinterherliefen, sondern ihren Frauchen und Herrchen auf Schritt und Tritt gehorchen, deren Lebensaufgabe damals wie heute darin zu bestehen scheint, den Vierpfotlern menschliche Manieren beizubringen und sie still zu halten.
Als ich Anfang 20 war, zog ich für mehr als zwei Jahrzehnte aus dem Ruhrgebiet nach Lissabon an den Atlantik zurück. Letztes Jahr, im Juni 2013, zwang mich die soziale und wirtschaftliche Krise im Süden als Mittvierziger mit meiner Frau und unseren zwei Töchtern nach Deutschland, ausgewandert aus dem schon wieder bettelarmen Portugal in das reiche Baden-Württemberg. Meiner persönlichen Wiedervereinigung mit Deutschland war eine monatelange Jobsuche vorangegangen, in der Hoffnung, von unserer Ferienwohnung an der Algarve aus eine erste Arbeitsstelle in Deutschland zu finden. Eine »Wende« in meinem Leben, wie es mir schien, bei der Deutschland wenig gewonnen und ich viel verloren hatte.
Noch bis Juni 2013 hatte ich jeden Morgen in unserer Wohnung an der Praia da Rocha in Südportugal mit meiner Frau Alexandra gefrühstückt und durch das Wohnzimmerfenster auf den 800 Meter entfernten Atlantik geschaut, während meine Töchter Maria und Sofia beim Spielen auf der Terrasse lauter kreischten als die vorbeifliegenden Möwen. Ich verfasste erstmals in meinem Leben Anschreiben und Bewerbungen auf Deutsch und kannte die deutsche Arbeitswelt nicht.
Aus Berlin gab mir Kirsten, eine ehemalige Schulkameradin meines Jugendfreundes Michael, wertvolle Tipps zur Jobsuche. Kirsten und ich telefonierten und tauschten viele E-Mails. Sie half unermüdlich, und als erfahrene Pressesprecherin konnte sie mir die deutsche Mentalität und Erwartungshaltung entziffern.
Auch Michael, der eine Komparsenagentur in Berlin leitet, bot mir seine Hilfe an. Wir könnten die erste Zeit in Deutschland in seinem Gartenhäuschen unterkommen, schlug er vor, und sollte ich keinen Job finden, würde er mir Statistenrollen vermitteln. Er meinte es so. Wir kannten uns seit der Zeit, als wir Winnetou und Old Shatterhand waren, später hatten wir gemeinsam Bochums Kneipen und Clubs unsicher gemacht und über die Mittelmäßigkeit der Welt gestaunt.
Was ich vor der Kamera als Statist in Berlin hätte sein können: ein Passant mit Hund, ein Familienvater in einem Kurzfilm für eine Krankenkasse, ein Obdachloser in einem Krimi, ein Mitläufer in der Menge. Ich zog es vor, in unserer Ferienwohnung am Atlantik am Schreibtisch zu bleiben und weiter an meiner wichtigsten Rolle zu arbeiten: Lebensläufer. Curricula und Bewerbungsschreiben zu redigieren und sie elektronisch an alle möglichen und unmöglichen Orte in der deutschen Republik zu schicken. Arbeiten Sie in der Personalabteilung eines Verlags, einer Agentur oder Medienunternehmens? Dann schauen Sie im Archiv nach unter Szymanski, Miguel. Vielleicht finden Sie mich, den Idealkandidaten.
Ich hatte von Portugal aus nach sechs Monaten endlich meine erste Anstellung gefunden: als Texter in einer kleinen Werbeagentur in Heidenheim. Nach dem Verarmen meines Geburtslandes kam mein beruflicher Abstieg: vom Lifestyle-Journalisten und Korrespondenten in Lissabon zum Schreiber für Unternehmensmagazine in einer Provinzstadt an einem Wasserlauf namens Brenz.
»Wie, du fängst deinen neuen Job nächste Woche schon an, hast noch keine Wohnung und bist schon mit der ganzen Familie nach Deutschland gekommen?«, fragte Kirsten am Telefon. Kaum hatte ich meinen ersten Arbeitsvertrag in der Tasche, 15 Tage Kündigungsfrist und befristet auf ein Jahr, schon war ich mit Frau und Kindern im Familienkombi aus Portugal nach Baden-Württemberg gekommen. Ich war zuversichtlich. Wir würden schon eine Unterkunft finden. »Das ist gar nicht deutsch! Ein Deutscher zieht erst mal allein um, wartet das Ende der Probezeit ab und sucht in der Zeit eine Wohnung. Dann erst kommt die Familie nach«, erklärte mir Kirsten. Ein südländischer Kopf tickt etwas anders und wird stärker vom Herzschlag beeinflusst als eine germanische Birne.
Nach einer ersten Woche in einer Jugendherberge fanden wir dann auch eine Studentenwohnung für einen Monat zur Zwischenmiete – ein einziges Zimmer mit Küche und Bad. Wir mussten nur eine Doppelbett und zwei Matratzen für die Kleinen kaufen. Ich hatte bereits angefangen zu arbeiten und suchte nebenher fieberhaft eine langfristige Bleibe, die sich schließlich drei Tage vor Ablauf der Zwischenmiete fand. Eine wunderbare dritte Etage in einem ruhigen Wohnviertel im Grünen mit großem Wohnzimmer und Balkon, Einbauküche, drei Schlafzimmern und Waldblick. Die Wohnung war leer, und wir hatten nichts, was wir hätten hineinstellen können. Aus unserer aufgelösten Mietwohnung in Lissabon und unserer Ferienwohnung an der Algarve hatten wir nichts mit nach Deutschland gebracht. Aber nach drei Fahrten in ein internationales Möbelhaus und mehreren Wochenenden masochistischen Schraubens waren wir eingerichtet.
»Mensch, da hast du aber Glück gehabt«, sagte Kirsten. »Desenrascar« heißt das auf Portugiesisch. Es ist eine Landeskunst, auf die Portugiesen sehr stolz sind. Der Ausdruck bedeutet in etwa: trotz selbstverschuldeter mangelnder Planung ein Problem zur allgemeinen und eigenen Überraschung gerade noch rechtzeitig vor Ablauf einer knappen Frist lösen. Dies gelingt den Portugiesen dank eines festen Glaubens an die Fügung der Dinge und an die heilige Improvisation. Die einzigartige Kunst des »Desenrascar« wird von den Portugiesen regelmäßig in Leitartikeln analysiert und täglich tausendfach im ganzen Land angewandt, von der Staatsfinanzierung bis zum Städtebau, vom Workflow in einem Krankenhaus bis zur Organisation eines internationalen Events. Sie erklärt einiges im Land. Unter anderem, warum Portugiesen mit einer Rolle Tesafilm, was ich persönlich bezeugen kann, vom Röntgengerät bis zur zerbrochenen Heckscheibe eines Autos alles reparieren können.
Sechs Monate später in einer Heidenheimer Bäckerei, zweieinhalbtausend Kilometer, vier Menschenleben auf den Kopf gestellt, und ich kam nicht los von meinem Land. Maria, Sofia, meine Frau Alexandra und ich, wir waren alle zusammengeblieben. Die ganze Zeit. Die Wirtschafts- und Bankenkrise in Portugal, im westlichsten Land Europas, hatte mich ausgetrickst und einen roten Strich durch alle meine Rechnungen und Zukunftsperspektiven gemacht. Wir hatten unser Portugal und unsere Iberische Halbinsel verlassen. Das Streben nach Sicherheit für die Kinder hatte uns nach Deutschland gebracht, sozusagen – wir waren im Schwabenland gelandet.
Früh hatte sich das Heimweh eingeschlichen und nagte an meinen Nerven. Jeden Morgen schleppte ich mich von der neuen Wohnung in Deutschland in ein deutsches Büro. Es war mein erster Job in Deutschland, Schreibkraft in einer Werbeagentur, in der es für einen Vielschreiber sehr wenig zu tun gab. Das Sprachzentrum dachte jetzt die täglichen acht Stunden, die ich am Schreibtisch absitzen musste, auf Deutsch und gab deutsche Befehle, die meine Finger auf der deutschen Tastatur hämmerten. Die Seele war weit weg. Im Süden war jede neue...