1 Geschichte und biblische Erzählung
GESCHICHTE ALS LONGUE DURÉE
Innerhalb der von Christen betriebenen Geschichtsschreibung zum Nahen Osten und zu Palästina lassen sich durchgängig und ohne Ausnahme zwei Zugänge beobachten. Zunächst ist da die biblische Geschichtsschreibung, die ungefähr bei Abraham einsetzt und mehr oder weniger bis in die Zeit Jesu reicht. Dementsprechend bemühen sich die Gelehrten, etwas über die Geschichte der Assyrer, der Babylonier, der Perser, der Griechen und Römer herauszufinden, und überlegen, welche Auswirkungen die Existenz dieser Großreiche auf Palästina hatte. Für gewöhnlich endet diese Linie der Geschichtsbetrachtung mit dem Zweiten jüdischen Aufstand Mitte des zweiten Jahrhunderts n. Chr. Wegen des biblisch geprägten Blickwinkels endet das Interesse solcher Geschichtsschreibung an Palästina an dieser Stelle. Niemand, der diese Linie verfolgt, sieht sich veranlasst, irgendetwas zur Kenntnis zu nehmen, zu lernen oder gar zu untersuchen, das mit der palästinensischen Geschichte seit dieser Zeit zu tun hat.
Der zweite Zugang ist die Geschichte der Kirche. Dabei wird Kirchengeschichte zumeist als Weltgeschichte und vor allem als Geschichte des Westens gedacht. Für gewöhnlich setzt sie bei der frühen Kirche ein und schreitet vom Konstantinischen beziehungsweise Byzantinischen Reich über das Heilige Römische Reich, die Kreuzzüge, das Zeitalter der Scholastik bis zur Reformation fort und schließlich von der Geschichte der Mission bis in die Gegenwart. Lediglich in den ersten beiden Jahrhunderten und – bis zu einem gewissen Grad – im Hinblick auf die Zeit der Kreuzzüge erscheint Palästina erwähnenswert, und so bleibt seine Geschichte weitgehend im Dunkeln.
In meinen Augen ergeben diese Herangehensweisen überhaupt keinen Sinn. Für mich als Palästinenser lässt sich die Geschichte meines Landes von der Ur- und Frühgeschichte bis in die Gegenwart nachzeichnen, und Rom war auch nicht die letzte imperiale Macht, die über die Palästinenser herrschen sollte. Auf die Römer folgten in unserer Geschichte, wie bereits erwähnt, die Byzantiner (332), die Araber (637), die Tartaren (1040), die Kreuzfahrer (1099), die Ayyubiden (1187), wiederum die Tartaren (1244), die Mameluken (1291), die Mongolen (1401), die Osmanen (1516), die Briten (1914) und die Israelis (1948/67) – um nur die wichtigsten Besatzungsmächte zu nennen.
Dasselbe gilt für die Kirchengeschichte, die die Zeit von der Geburt der Kirche zu Pfingsten in Jerusalem bis in die Gegenwart umfasst. Die biblische Geschichte hingegen ist in beträchtlichem Maße zugleich die Geschichte meines Landes. Als Palästinenser betrachte ich sie als wesentlichen Teil der Geschichte meiner Vorfahren. Ich lese biblische Geschichte nicht als Geschichte eines Landes in der Mitte von »Irgendwo« oder des »Ostens von Irgendwas«, sondern als unsere Geschichte. Insofern schließt für mich die Kirchengeschichte nahtlos an die biblische Geschichte an. Da gibt es keinen Bruch. Diese Einsicht verhilft mir zu einer ganzheitlichen Geschichtsbetrachtung.
Was für die christlichen Gelehrten gilt, gilt auch für die säkularen Geschichtswissenschaftler von heute. Ob im Rahmen von Nahoststudien und von Studien zu Nordafrika oder in der Politikwissenschaft – stets fällt ein Umstand ins Auge: Sämtliche Verfasser der schier unzähligen Arbeiten zum israelisch-palästinensischen Konflikt beginnen ihre Betrachtung irgendwann im späten neunzehnten Jahrhundert mit dem Entstehen der zionistischen Bewegung. Jeder nur denkbare Aspekt dieser Bewegung und der mit ihr zusammenhängenden Konflikte wurde wissenschaftlich untersucht. Und dennoch mangelt es allen diesen Untersuchungen an historischem Zusammenhang. Ganze Jahrhunderte entgehen ihrem auf die Einzigartigkeit des gegenwärtigen Konfliktes verengten Blick, den sie daher auch nicht als Teil eines fortlaufenden Musters erkennen können. Diese Abkoppelung der Untersuchungen vom historischen Zusammenhang hat falsche Ergebnisse zur Folge, welche die Palästinenser teuer zu stehen kommen.
Dieser doppelte Bruch hat für die Betrachtung der Geschichte Palästinas zweierlei Folgen: Entweder befassen sich die Historiker mit antiker »Sakralgeschichte« ohne wesentlichen politischen Belang für die Palästinenser von heute, oder die säkulare Zeitgeschichtsschreibung beschränkt sich auf ihr Fachgebiet ohne Bezug zur vorangegangenen Geschichte. Die einen sind ausschließlich der biblischen Geschichte verpflichtet, während die anderen sich einzig und allein der Kolonialgeschichte widmen. Beides wird also in voneinander getrennten Fachbereichen behandelt – unter Verwendung jeweils unterschiedlicher Herangehensweisen und Theorieansätze. Niemand möchte Bibelwissenschaft mit zeitgenössischen Fragestellungen vermischen, die einem gegenwärtig andauernden Konflikt entspringen, und kein Säkularhistoriker fühlt sich von etwas herausgefordert, das in seinen Augen als religiöser Diskurs daherkommt.
In diesem Buch werde ich die antike und die moderne Geschichte Palästinas als kontinuierliche historische Entwicklung innerhalb ebenso vielfältiger wie einzigartiger Zusammenhänge behandeln, innerhalb derer sich allerdings bestimmte Themen wiederholen. Während ich das Teleobjektiv zu schätzen weiß, das es uns erlaubt, geschichtliche Ereignisse genauer in Augenschein zu nehmen, werde ich das Weitwinkelobjektiv der »longue durée«1 einsetzen, um die Geschichte über längere Zeiträume und als fortlaufende Entwicklung zu betrachten. Für mich als Historiker ist der israelisch-palästinensische Konflikt untrennbarer Bestandteil der Geschichte des europäischen Kolonialismus. Schließlich war es die Führung des British Empire, die den Staat Israel in den Nahen Osten einfügte, und es ist der Westen, der Israel fortlaufend – militärisch, finanziell und ideologisch – unterstützt. An dieser Stelle spreche ich von Imperium, von imperialer Macht. Gleichzeitig sehe ich, wie die gesamte Bibel, das Alte ebenso wie das Neue Testament, darum ringt, auf verschiedene und wiederkehrende Imperien eine Antwort aus dem Glauben zu entwickeln. Ich verstehe »Sakralgeschichte« als eine mögliche Antwort auf die »weltlichen« Geschichten gewalttätiger Imperien. Weil mächtige Imperien weiterhin den roten Faden in der Geschichte Palästinas bilden, bleibt die Frage nach Gott entscheidend und der Glaube ist ebenso herausgefordert wie einbezogen.
GESCHICHTE UND IDENTITÄT
Mein Vater wurde 1905 in Bethlehem als Bürger des Osmanischen Reiches geboren und hatte osmanische Ausweispapiere. Als Jugendlicher erlebte er mit, wie die Osmanen von den Briten abgelöst wurden, und plötzlich, nahezu über Nacht, wurde aus ihm ein Bürger des palästinensischen Mandatsgebietes, der einen von den britischen Mandatsbehörden ausgestellten palästinensischen Pass besaß. Als Bethlehem im Jahr 1949 Teil von Jordanien wurde, verwandelte er sich ebenso plötzlich in einen Bürger des Haschemitischen Königreiches von Jordanien. Und 1975 starb er unter israelischer Besatzung und besaß eine Israeli ID Card. Durch alle Wechselfälle der politischen Geografie hindurch blieb er indes ein und dieselbe Person, der keine andere Wahl blieb, als sich den jeweils veränderten politischen und hoheitlichen Gegebenheiten anzupassen.
Durch die ganze palästinensische Geschichte hindurch kamen imperiale Mächte, hielten das Land für eine gewisse Anzahl von Jahren besetzt und wurden dann jedoch wieder vertrieben. Meistens machte ein Imperium lediglich dem nächsten Platz. Die Mehrheit der Einheimischen verließ das Land nur selten. Während der ganzen langen Geschichte – und zum ersten Mal im Rahmen des Assyrischen Exils – wurde jeweils nur eine kleine Minderheit außer Landes gezwungen und nur ein geringer Teil der Bewohnerschaft wanderte aus freien Stücken aus. Weitaus die Mehrheit blieb im Land ihrer Väter (2 Kön 25,11). Sie bildeten die »Am Haaretz«, die alteingesessenen »Leute des Landes«, ungeachtet der verschiedenen Imperien, die das Land jeweils beherrschten. Deshalb benutze ich in diesem Buch den Ausdruck »Leute des Landes« als Bezeichnung für die ursprünglichen Bewohner, die durch die ganze Geschichte hindurch im Land blieben – denn sie sind die Träger des historischen Zusammenhangs.
Ihre Identität mussten sie freilich verändern und den neuen Gegebenheiten und Imperien anpassen, unter deren Herrschaft sie sich jeweils wiederfanden. Sprachlich wechselten sie vom Aramäischen über das Griechische zum Arabischen, während ihre Identität von kanaanitisch zu hethitisch wechselte und danach zu hiwitisch, perisitisch, girgaschitisch, amoritisch, jebusitisch, philistisch, israelitisch, judäisch/samaritanisch, gefolgt von hasmonäisch, jüdisch, byzantinisch, arabisch, osmanisch und schließlich palästinensisch – um nur einige zu nennen. Und auch der Name des Landes veränderte sich von Kanaan zu Philisterland, von Israel zu Samaria und Judäa, schließlich zu Palästina. Religiös gingen die Menschen vom Baalskult zur Jahwe-Verehrung über. Später dann glaubten viele von ihnen an Jesus Christus und wurden Christen. Waren die ersten aramäisch sprechenden Christen noch »Monophysiten«, wurden sie alsbald zum griechisch-orthodoxen Glauben gezwungen. Um den ihnen auferlegten Sondersteuern zu entgehen, konvertierten viele zum Islam und wurden Muslime. Trotz allem blieben sie durch die Jahrhunderte dort, wo sie waren, als »Leute des Landes« mit einer dynamischen Identität. In diesem Sinne stehen heutige Palästinenser in geschichtlicher Kontinuität zum biblischen Israel. Die...