Kapitel 4
Vorstellung des von mir entwickelten therapeutischen Vorgehens
Meiner Erfahrung nach sind Menschen, die unter einem übertragenen Trauma leiden, oft bereits durch die Benennung desselben entlastet. Nicht selten eröffnet sich hierdurch erstmalig ein Verständnis für das eigene Leiden.
Als Traumatherapeutin erschien es mir naheliegend zu untersuchen, ob übertragene Traumata – analog zu selbst erlittenen – durch spezifische Traumakonfrontation der Verarbeitung zugänglich sind und so der therapeutische Prozess rasch und schonend verlaufen kann.
Insbesondere eine vorgestellte »innere Bühne«, auf der die verschiedenen Anteile, die wir in uns tragen, miteinander agieren können, ist eine hilfreiche Metapher (Reddemann, 2001; Watkins & Watkins, 1997). Das aus der Identifikation mit dem traumatisierten Elternteil entwickelte verinnerlichte traumatisierte Introjekt können wir uns als einen Akteur unter vielen auf der inneren Bühne vorstellen. Ist dieser Akteur etwa durch ein unverarbeitetes Trauma stark beeinträchtigt, kann er negativen Einfluss auf das gesamte Bühnengeschehen nehmen.
Die PatientIn wird eingeladen, wie bei einem Rollenspiel den traumatisierten Akteur für die Dauer einer traumatherapeutischen Sitzung die Hauptrolle übernehmen zu lassen. Das ererbte Trauma kann so unmittelbar mithilfe von Traumatherapie verarbeitet und somit eine Heilung des Introjekts eingeleitet werden. Ich selbst arbeite vorwiegend mit EMDR und möchte Ihnen die Methode kurz vorstellen. (Wenn Sie mit EMDR vertraut sind, können Sie den folgenden Abschnitt getrost überspringen.)
EMDR steht für Eye Movement Desensitization and Reprocessing, also Desensibilisierung und Aufarbeitung durch Augenbewegungen.
EMDR ist eine von der US-amerikanischen Literaturwissenschaftlerin und Psychologin Francine Shapiro in den 80er-Jahren entwickelte traumatherapeutische Behandlungsmethode.
Bei einer Traumatisierung kommt es durch massive Ausschüttung von Hormonen zu einer Fehlfunktion von Hirnarealen, deren Aufgabe es ist, neu eintreffende Sinneseindrücke aus den unterschiedlichen Sinnesorganen zu sammeln und diese in einen autobiografischen Gesamtzusammenhang einzubetten. Aufgrund der traumatisch bedingt einsetzenden Fehlfunktion wird die räumliche und zeitliche Erfassung des Geschehens massiv gestört. Dadurch werden die Sinneseindrücke aus den unterschiedlichen Sinnesorganen oft zusammenhangslos als akustische, visuelle, olfaktorische (den Geruchssinn betreffende) und haptische (die Berührungswahrnehmung betreffende) Informationsfragmente von der PatientIn gespeichert. Diese Fragmente werden nicht ins explizite Gedächtnis und in das Bewusstsein eingespeist, sondern bleiben im impliziten Gedächtnis fragmentiert. Bei einem Flashback werden diese fragmentierten Gedächtnisinhalte abgerufen. Häufig kann das Geschehene kaum in Worte gefasst werden, es ist »unsäglich«, wodurch eine Verarbeitung des Erlebten erschwert ist.
In der Regel werden bei EMDR Augenbewegungen angeregt, indem die PatientIn gebeten wird, mit ruhigem Kopf den Fingern der TherapeutIn, die diese vor ihr von links nach rechts bewegt, mit den Augen zu folgen. Manche PatientInnen bevorzugen akustische Signale über Kopfhörer, die von links nach rechts wechseln, oder abwechselndes Klopfen auf die Hände oder Knie.
Es wird angenommen, dass bei EMDR durch die bilaterale Stimulation mittels der Augenbewegungen (oder akustischer oder taktiler Reize) eine Synchronisation der Gehirnhälften ermöglicht wird (Fischer & Riedesser, 2009). Vermutet werden kann auch, dass eine Parallele besteht zu den REM (Rapid Eye Movement)-Phasen, den Phasen schneller Augenbewegungen während des Schlafes. In diesen Phasen finden die meisten unserer Träume statt, und sie sind maßgeblich an der Langzeitspeicherung von Gedächtnisinhalten beteiligt.
Die Wirksamkeit von EMDR konnte in zahlreichen Studien belegt werden, sodass EMDR 2006 vom Beirat für Psychotherapie als wissenschaftlich begründete Psychotherapiemethode anerkannt wurde. In seiner Metaanalyse stellte der gemeinsame Bundesausschuss bei EMDR »eine statistisch signifikante Überlegenheit gegenüber einer indikationsunspezifischen und -spezifischen Kontrollbehandlung (in der Regel Verhaltenstherapie) nach Abschluss der Therapie« fest. Diese Metaanalyse wurde die Grundlage der Zulassung von EMDR in der Richtlinienpsychotherapie (Schulz et al., 2015).
Zunächst vereinbart die TherapeutIn mit der PatientIn ein Stopp-Signal für den Fall, dass sie irgendwann die Arbeit unterbrechen möchte. Anschließend werden die Sessel so umgestellt, dass die PatientIn bequem den Fingern der TherapeutIn mit ihren Augen folgen kann und ein für sie angenehmer Abstand gegeben ist.
Die TherapeutIn bittet die PatientIn, sich das belastende Ereignis, an dem sie arbeiten möchte, zu vergegenwärtigen und dann ein Bild auszuwählen, das den schlimmsten Moment darstellt oder das gesamte Erlebnis repräsentiert.
Danach wird die mit dem Ereignis verknüpfte negative Selbstüberzeugung erhoben. Darin kommt eine grundlegende behindernde Aussage über sich selbst zum Ausdruck, die zum Bild in Bezug steht. Diese Aussage sollte mit »Ich bin« beginnen. Negative Selbstaussagen können sich auf unterschiedliche Grundthemen beziehen. Ein Beispiel für den Bereich Sicherheit/Überleben ist die Selbstüberzeugung: »Ich bin hilflos«, für das Thema Verantwortlichkeit/Schuld: »Ich bin schuld«, für das Selbstwertfühl: »Ich bin wertlos« und das Grundthema Wahlmöglichkeiten: »Ich bin gefangen«.
Nun hilft die TherapeutIn dabei, eine positive Selbstüberzeugung zu finden, von der die PatientIn hofft, dass sie einmal Wirklichkeit werden wird. Analog zu den oben genannten Beispielen können das folgende Sätze sein: »Ich kann (heute) etwas tun«, »Ich bin unschuldig«/»Ich habe getan, was ich tun konnte«, »Ich bin wertvoll«, »Ich bin frei«. Diese positive Selbstüberzeugung wird dann in der Stimmigkeit, die sie zu dem Zeitpunkt bereits hat, eingeordnet auf einer Skala von 1 für »völlig unzutreffend« bis 7 für »völlig richtig«.
Anschließend werden die belastenden Gefühle erhoben, die auftauchen, wenn die PatientIn sich das Bild zusammen mit der negativen Selbstüberzeugung vergegenwärtigt. Der Grad der Belastung durch diese Gefühle wird auf einer Skala von 0 für »neutral« bis 10 für »maximal« bewertet.
Schließlich wird noch erhoben, wo in ihrem Körper die PatientIn diese Belastung jetzt spürt.
Anschließend erfolgt die eigentliche Behandlung, die Desensibilisierung, bei der die PatientIn mit den Augen den Handbewegungen der TherapeutIn folgt und dabei beobachtet, was innerlich in ihr geschieht, möglichst ohne irgendetwas zu machen oder zu beurteilen. Wenn die TherapeutIn den Eindruck gewinnt, ein innerer Bogen könnte abgeschlossen sein, hält sie inne mit den Handbewegungen, fordert auf, das Bild auszublenden, und bittet um eine kurze Information darüber, was die PatientIn beobachtet hat.
Durch den Verarbeitungsprozess tritt in der Regel eine Entlastung ein. Ist die Belastung auf 0 oder 1 zurückgegangen, wird am Ende der Sitzung die positive Selbstüberzeugung überprüft. Manchmal hat sich der Satz verändert, geht zuweilen sogar deutlich über den anfänglich genannten hinaus. Die Stimmigkeit der Selbstüberzeugung wird überprüft. In der Regel ist diese parallel zum Abklingen der Belastung wahrer geworden. Anschließend wird sie mit Augenbewegungen verankert, indem die PatientIn gebeten wird, sich das Ausgangsereignis und den positiven Satz zu vergegenwärtigen. Mit der Verankerung wird so lange fortgefahren, bis keine Steigerung mehr erreicht wird. Als Letztes erfolgt der Körpertest, indem die PatientIn gebeten wird, sich auf das Ereignis und die positive Selbstüberzeugung zu konzentrieren und im Körper nachzufühlen, ob irgendwo noch etwas spürbar ist.
Danach erfolgt eine Nachbesprechung, in der unter anderem darauf hingewiesen wird, dass es zu verstärktem Träumen kommen kann und Erschöpfung nach so einer emotionalen Schwerstarbeit normal ist.
In der folgenden Sitzung wird überprüft, ob der Belastungsgrad neutral geblieben ist.
Hin und wieder habe ich auch ererbte Wunden mithilfe der...