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Forensische Psychiatrie

Klinik, Begutachtung und Behandlung zwischen Psychiatrie und Recht

AutorJürgen Leo Müller, Norbert Nedopil
VerlagGeorg Thieme Verlag KG
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl544 Seiten
ISBN9783132400931
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis159,99 EUR
Dieses Standardwerk bietet eine praxisorientierte und anschauliche Einführung in die Begutachtung im Straf-, Zivil-, Verkehrs- und Sozialrecht. Schwierige gutachterliche Fragestellungen werden detailliert dargestellt und beantwortet. Das Werk wurde komplett überarbeitet und ergänzt; es berücksichtigt die aktuellen gesetzlichen Änderungen und politischen Rahmenbedingungen. - Umfassend: Beschreibung der rechtlichen und formalen Aspekte der Begutachtung mit Zitaten relevanter Gesetzestexte. - Systematisch: Darstellung psychischer Störungen in direktem Bezug zur Delinquenz, einschließlich Therapieoptionen. - Anschaulich: Anleitung zur Erstellung eines Gutachtens. - Speziell: Berücksichtigung besonderer Fragestellungen der Forensik, z. B. Affekt- und Aggressionsdelikte, Sexualdelinquenz, Suizidalität. - Ideal: als Lehrbuch und Nachschlagewerk. Neu in der 5. Auflage: - Behandlungsstandards für den psychiatrischen Maßregelvollzug. - Aktualisierung der Kapitel unter Einbeziehung rechtlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen. - Aufgreifen der aktuellen Gesetzgebung (Paragraph 63 StGB, Unterbringungsgesetze der Länder, medikamentöse Zwangsbehandlung). - Aktuelle Entwicklungen in Österreich und der Schweiz. Jederzeit zugreifen: Der Inhalt des Buches steht Ihnen auch digital im Wissensportal eRef und in der eRef App zur Verfügung. Zugangscode im Buch.

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Leseprobe

1 Einführung


Die forensische Psychiatrie ist nach heutigem Verständnis ein Spezialgebiet der Psychiatrie, welches sich mit den fachspezifischen Begutachtungsfragen auf allen Rechtsgebieten und mit der Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher befasst.

Forensisch vom lateinischen „Forum“ (= der Platz, das Theater, das Gericht) bezieht sich im weitesten Sinn auf die Anwendung einer Wissenschaft zur Beantwortung von gerichtlichen Fragen. „Forensisch“ ersetzt somit den deutschen Begriff „Gerichts- “ oder „Rechts-“ in den jeweils zusammengesetzten Wörtern, wie Gerichtsmedizin, Rechtsmedizin und gerichtliche Psychiatrie.

Seine historischen Wurzeln hat das Fach in der Rechtswissenschaft und der Rechtsmedizin. Der forensische Psychiater bewegt sich an den Grenzen zu einer Reihe anderer Fächer: Rechtswissenschaften, Kriminologie, Soziologie, Psychologie, Rechtsmedizin und die verschiedenen Strömungen der Psychiatrie haben Anteil an seinem Denkgebäude. Aus der Vielzahl der Wissenschaften sind es jedoch jeweils nur Einzelbereiche, die er für die Erfüllung seiner Aufgaben beherrschen muss. Der forensische Psychiater gerät somit in Gefahr, von vielen Fachgebieten ein wenig zu wissen, keines aber durch fundierte und umfassende Kenntnis zu beherrschen.

Dieses Dilemma spiegelt sich auch in dem vorliegenden Lehrbuch wider, nicht zuletzt, weil dessen Umfang relativ begrenzt sein soll: Keines der von der forensischen Psychiatrie tangierten Gebiete kann ausführlich dargestellt werden. Selbst die Strömungen der Psychiatrie, die für die Forensik relevant sind, können nicht alle im Detail erläutert werden. Dieser Begrenzung muss man sich stets bewusst bleiben. Als Leitfaden soll das Buch dem Anfänger und dem fachfremden Leser einen Überblick vermitteln und ihm ermöglichen, sich im forensischen Fachgebiet zu orientieren. Es soll darüber hinaus die wesentlichen Hilfestellungen für eigene gutachterliche Tätigkeit anbieten und Hinweise auf weiterführende Literatur zur Beantwortung spezieller Fragen liefern.

Das Buch orientiert sich vorwiegend an einer deskriptiven, phänomenologisch ausgerichteten Psychopathologie und Psychiatrie, wie sie den modernen Diagnoseschemata ICD-10 und DSM-5 zugrunde liegen und wie sie auch von der herrschenden Meinung in der forensischen Psychiatrie getragen werden. Hinweise auf biologische Erklärungsmodelle oder psychodynamische Konzepte bleiben deshalb immer unvollständig und zum Teil sogar bruchstückhaft. Sie dürfen aber unserer Meinung nach nicht fehlen, um den Lesern das breite Spektrum der psychiatrischen Denkmöglichkeiten aufzuzeigen und sie ggf. zu vertiefender Lektüre der jeweiligen Grundlagenliteratur anzuregen.

1.1 Begriffsbestimmung


Die forensische Psychiatrie im engeren Sinn befasst sich mit den Fragen, die von Gerichten und Behörden an Psychiater gestellt werden. In einem weiteren Sinn deckt das Fach jenen breiten Überlappungsbereich zwischen Recht und Psychiatrie ab, der sich sowohl aus den rechtlichen Problemen im Umgang mit psychisch Kranken und Gestörten für Ärzte, Gerichte und Behörden ergibt als auch aus den Auswirkungen der medizinischen und psychologischen Probleme dieser Menschen auf ihre Fähigkeit zu rechtsrelevantem Handeln. Die Definition des Faches, die von einer europäischen Arbeitsgruppe gefunden wurde, lautet: Forensische Psychiatrie ist ein Spezialgebiet der Medizin, welches auf einem detaillierten Wissen der relevanten rechtlichen Aspekte des Strafrechts, des Zivilrechts und des Gesundheitswesens und auf der Beziehung zwischen psychischen Störungen, antisozialem Verhalten und Kriminalität gründet. Seine Aufgabe ist die Erfassung und Beurteilung, die Betreuung und Behandlung psychisch kranker Rechtsbrecher und anderer, die vergleichbarer Dienste bedürfen. Risikoeinschätzung, Risikomanagement und das Verhindern künftiger Viktimisierung sind die Kernelemente der Aufgaben (Nedopil 2009 ▶ [1215]).

In allen medizinischen Fächern gibt es einen meist unterschätzten Einfluss rechtlicher Vorgaben auf medizinisches Handeln und einen relativ großen Einfluss ärztlicher Entscheidungen auf rechtsrelevante Fragen: Ärztliche Eingriffe sind Körperverletzungen und somit prinzipiell strafbare Handlungen und Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht der Selbstbestimmung eines Menschen. Sie sind nur gerechtfertigt durch die Einwilligung des Betroffenen nach ordnungsgemäßer Aufklärung. Ärztliches Handeln tangiert also immer Grundrechte der Patienten. Darüber hinaus sind Bescheinigungen, Atteste und Formulargutachten rechtsverbindliche Aussagen. Die sozialrechtlichen Fragen nach Arbeitsunfähigkeit, nach Minderung der Erwerbsfähigkeit, nach Berufsunfähigkeit oder nach Unfallfolgen müssen von jedem Arzt beantwortet werden. Begutachtungen gehören somit ebenfalls zum Alltag von praktizierenden Ärzten aller Fachrichtungen. Über das hierfür erforderliche Wissen informieren spezielle Lehrbücher (Fritze u. Mehrhoff 2008 ▶ [502]; Dörfler et al. 2008 ▶ [329]; Deutsche Rentenversicherung Bund 2011 ▶ [289]).

In der Psychiatrie hat die Begutachtungskunde jedoch eine wesentlich größere Bedeutung als in den anderen medizinischen Fachgebieten. Die Sonderstellung der Begutachtungskunde in der Psychiatrie resultiert aus dem großen Überlappungsbereich mit der Rechtsprechung und der historischen wie tatsächlichen Nähe zur Rechtsmedizin. Die sachlichen Notwendigkeiten für den Überlappungsbereich von Recht und Psychiatrie ergeben sich zum einen aus einer am einzelnen Menschen orientierten Rechtsprechung, zum anderen aus der Forderung, Rechte des Menschen auch dort zu respektieren, wo dieser seine Rechte nicht mehr selber wahrnehmen kann oder aufgrund einer Krankheit zu seinem eigenen Schaden auf vermeintlichen Rechten besteht. In den zurückliegenden Jahren waren forensisch psychiatrische Fragestellungen wiederholt Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen: die Privatisierbarkeit hoheitlicher Aufgaben am Beispiel des hessischen Maßregelvollzugs (2 BvR 133/10); die medikamentöse Zwangsbehandlung (zuerst der Beschluss 2 BvR 228/12 www.bundesverfassungsgericht.de), die Regelungen der Sicherungsverwahrung vom 04.05.2011 (zuerst: 2 BvR 2365/09, 2 BvR 740/10, 2 BvR 2333/08, - 2 BvR 1152/10), zum Therapieunterbringungsgesetz (z.B. der Beschluss 2 BvR 94/11 www.bundesverfassungsgericht.de), zur psychischen Störung als Rechtsbegriff (z.B. 2 BvR 2302/11), zur Verhältnismäßigkeit bei Anordnung und Fortdauer der Unterbringung (z.B. 2 BvR 442/12)

Unabhängig von philosophischen Erwägungen und wissenschaftlichen Hypothesen wie dem Diskurs über Determinismus und Indeterminismus (Zusammenfassend: Stompe u. Schanda 2010 ▶ [1694]) gehen Gesetze und Rechtsprechung davon aus, dass der erwachsene, rechtsmündige Mensch weitgehend frei über seinen Willen verfügen und die Verantwortung für sein eigenes Handeln übernehmen kann. Die für sein Handeln erforderlichen Fähigkeiten werden weder definiert, noch werden die Voraussetzungen, die dafür erforderlich sind, beschrieben. Der gesunde Erwachsene ist schuldfähig und geschäftsfähig, einwilligungsfähig und berufsfähig und vieles andere mehr. Die Rechtswissenschaft und die forensische Psychiatrie sind sich seit jeher der philosophischen Problematik „des freien Willens“ und der Relativität der Aussage, dass der Mensch gemäß einer freien Willensbestimmung handeln kann, bewusst. Der Diskurs über die Willensfreiheit hat die Geschichte der Rechtswissenschaft und der forensischen Psychiatrie mit unterschiedlichen religiösen, philosophischen, psychologischen und naturwissenschaftlichen Argumenten begleitet und offenbar mit jeder neuen Methodenentwicklung der letzten Jahrhunderte (z.B. Psychoanalyse, Behaviorismus, funktionelle Bildgebung) neue Nahrung erhalten (Nedopil 2010b ▶ [1217]).

Psychische Krankheiten können jedoch die kognitiven und voluntativen Fähigkeiten von Menschen beeinträchtigen, sodass ihnen vernünftige Willensäußerungen nicht mehr möglich sind. Normkonformes Verhalten kann durch eine psychische Erkrankung beeinträchtigt oder verhindert werden. Die Aufhebung einer eigenen vernünftigen Willensentscheidung kann sich auch auf die medizinische Behandlung auswirken. Beispielsweise kann ein Patient durch seine Krankheit selbst gehindert werden, die Notwendigkeit einer Behandlung einzusehen. Die Abwendung einer mit der Störung verbundenen erheblichen ...

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