1 Neu denken
ICH FÜHLE MICH, als wäre ich als Architekt geboren. Mein Vater war Architekt, mein Onkel war Architekt, mein Urgroßvater war Baumeister. Ich erinnere mich, wie das konfektionierte Spielzeug im Kindergarten mich langweilte. Für meine Freunde und mich wurde es da erst richtig lustig, als mein Vater heimlich einen Anhänger voller kleiner Holzbrettreste in den Hof unseres Kindergartens gekippt hatte. Wir haben gebaut und gebaut und gebaut.
Was das mit der Energiewende zu tun hat? Es hat mit mir zu tun. Ich will Sie davon überzeugen, mir zu folgen in eine Welt, in der unendlich viele Kleinigkeiten neu gedacht werden, weil wir sie gemeinsam anders betrachten. Als ich in die Schule kommen sollte, wurde ich – ich bin heute noch nicht groß und breit – ein Jahr zurückgestellt. Ich hatte ein Haus gezeichnet, das nicht den Vorstellungen jener Pädagogen entsprach, die meine Reife testen sollten. Es war kein Kinderbild, es war eine perspektivische Skizze. Ich war nicht über die Maßen gescheit – das bin ich auch heute noch nicht –, aber die unzähligen Stunden im Zeichensaal des Architekturbüros meines Vaters hatten mich gelehrt, ein Haus mehrdimensional zu sehen. Und natürlich habe ich das damals auch so gezeichnet. Es hat mich lange beschäftigt, dass ich später eingeschult worden bin. Aber irgendwann habe ich begriffen, dass es damals nicht darum ging, etwas besser oder schlechter zu machen. Ich war einfach mit meiner Skizze zu weit weg von der Erwartungshaltung meines Gegenübers. Nicht schlecht, wenn ein Architekt diese Erkenntnis verinnerlicht.
Heute habe ich das große Glück, Wissen nicht nur anwenden, sondern auch weiterentwickeln zu können. Nicht auf dem Papier und nicht nur daheim in Freiburg, sondern überall auf der Welt: in Shanghai, in Moskau oder Frankreich. Ich will nicht prahlen, schon gar nicht missionieren. Aber ich möchte Ihr Vertrauen gewinnen, und das kann ich ja nur, weil und wenn ich selbst von meinen Lösungen überzeugt bin. Mit fünfzehn habe ich mir zwei Versprechen gegeben: dass ich im Leben stolz sein will auf die Dinge, die ich getan habe, und darauf, wie ich sie getan habe. So kam auch das Windrad auf die Douglasie.
Woher kommen die Pioniere der modernen Windkraftnutzung? Das wäre eine schöne Millionenfrage bei Günther Jauch. Nein, nicht aus Kalifornien, wo sich Tausende schon seit Ewigkeiten drehen, nicht aus England, nicht einmal aus Peenemünde. Sondern aus Uhingen. Das ist in Württemberg, in der Nähe von Ulm. Eine der früher führenden Firmen gibt es heute noch. Sie heißt Allgaier, benannt nach ihrem Gründer Erwin Allgaier. Sie hat in den Fünfzigerjahren Windräder sogar in Serie produziert und exportiert, auch nach Übersee. Die Urmutter stand, bis sie Ende der Sechzigerjahre abgebaut wurde, auf der Schwäbischen Alb, auf dem Feldberg im Schwarzwald gab es eine andere Anlage. Ihr Erfinder, der lange Zeit fast vergessene Windpapst Ulrich Hütter, orientierte sich auf seiner Suche nach Problemlösungen an der Natur.
Mir hat die Natur die Möglichkeit geboten, überhaupt erst
einmal mit dem Experimentieren anzufangen. Als Student habe ich in Portugal Ferienhäuser geplant. Einmal sollte ich eine alte Windmühle umbauen. Die stand auf dem Berg und hatte keine Stromleitung. Wozu auch? Der Wind hat die Energie produziert. Früher. Leider war die Mühle nicht mehr in Betrieb zu nehmen, und wir mussten doch eine Stromleitung hinlegen lassen. Die war doppelt so teuer, lang und vor allem verlustreich. Wie praktisch wäre ein kleines Windrad gewesen. Das Thema hat mich nicht mehr losgelassen. Bis im Sommer 2009 aus Theorie endlich Praxis wurde.
Aber von vorn. Weil ich ein braver Architekt bin, habe ich getan, was man tun muss, wenn man etwas bauen will: Ich habe einen Antrag gestellt. Zwei Windräder, gemeinsam weniger als 300 Kilogramm schwer, sollten auf das Dach eines bewohnten Drei-Familien-Hauses. Ich habe auf eine Antwort der Baurechtsbehörde gewartet. Die hat eine Prüfstatikerin bestellt, um die von uns berechnete Statik gegenzurechnen, und ich habe auf eine Antwort von der Prüfstatikerin gewartet. Die hat geprüft. Monate vergingen. Dabei wollte ich doch nur ausprobieren, wie zwei Windräder mit einer Leistung von je 3,5 Kilowatt zur Stromversorgung dieses Hauses beitragen. Weil ich schon lange im Beruf bin, habe ich weiter gewartet. Bis ich erkennen musste, dass das Bauamt die gesamte Breite der theoretisch zu bedenkenden Fragen aufwirft, alles abklopft, dreht und wendet und prüft. Nein, der Antrag wurde nicht abgelehnt; aber genehmigt auch nicht.
So weit, so schlecht. Die beiden Windräder waren inzwischen im Keller gelagert. Und es hat mich gewurmt, dass nichts weiterging. Ich habe dann überlegt, ob ich ein Windrad auf unserer Terrasse aufstellen soll. Mangels Wind eine Idee mit dem Makel der Unsinnigkeit. Nein, es sollte nichts getan werden, nur damit etwas getan ist. Aber was tun?
Meine Familie besitzt vierzig Hektar Wald. Schon als Kind habe ich im Wald gearbeitet, als Freizeitvergnügen, auch wenn’s nicht immer ein Spaß war. Wir haben Jungwaldpflege betrieben. Als Jugendlicher habe ich jedes Wochenende Äste von den Bäumen abgesägt. Möbel, Schränke, Böden, Verkleidungen aus Holz mit Astlöchern sind nicht jedermanns Sache. Also werden starke Stämme ohne Äste gebraucht, um jene eleganten Teile ohne Astlöcher zu fertigen. Rauf auf einen Baum, Äste abgesägt, damit der Stamm ohne abgestorbene Asteinschlüsse weiterwachsen kann, und wieder runter, rauf und runter. Dieser Wald fiel mir ein. Wie der Zufall eben spielt, wurde gerade auch noch eingeschlagen. Ich habe gebeten, auf einem Hügel zwei Bäume stehen zu lassen: Douglasien. Je höher das Windrad positioniert ist, umso stärker ist die kontinuierliche Windgeschwindigkeit.
So ein Windrad hat drei Komponenten, keine schwerer als sechzig Kilo. Ich bin mit einem Seil rauf auf den Baum, habe die Teile über die Umlenkrolle mit der Traktorwinde hochgezogen und oben zusammengebaut: den Generator, das Montageteil, den Propeller. Aber am Abend war ich nicht fertig, und prompt hatte es sich bis zum nächsten Wochenende herumgesprochen, dass Seltsames vor sich geht in Freiamt. Im Wald ging es zu fast wie auf dem Jahrmarkt. Als ich fertig war, hätte ich beinahe doch alles verdorben. Ein Radiomikrophon leuchtete mir so einladend entgegen, als ich atemlos, mit eingeklemmtem Finger und voller Glückshormone wieder unten war, und ich plapperte los, ich hätte da oben ein Windrad montiert „im rechtsfreien Raum“. Ein Windrad im Baum ist ein technisches Teil im Baum. Es gibt aber keine Vorschrift, die reglementiert, was in einen Baum gehängt werden darf und was nicht. Natürlich war das ein ganz falscher Begriff, bei dem außerdem in jedem Juristenhirn die Alarmlampen aufleuchten. Also sind die Behörden erst recht zur Höchstform aufgelaufen.
Aber das Windrad auf der Douglasie steht noch immer. Es dreht und dreht sich, und zwar viel öfter als die großen Anlagen. Das ist wie bei einem riesigen Bulldozer, den keiner schieben kann, während das kleine Modell schon von einem Kind bewegt werden kann. Alles eine Frage des Anlaufwiderstands. Ein kleiner Generator hat einen kleinen Anlaufwiderstand, ein großer einen großen. Er dreht sich vor allem, um Licht ins Dunkel vieler Details zu bringen, an denen ein Einsatz im großen Stile am Ende scheitern könnte. Wir haben viele Zahlen, Daten und Fakten gesammelt. Zwei Nachtsichtkameras, zwei Webcams, ein Batdetektor und ein Richtmikrophon registrieren, wie Vögel und Fledermäuse reagieren. In dieser Welt, von der ich fast nichts wusste, habe ich den Deckel nur einen Spalt geöffnet – und war plötzlich, wie einem das dann oft so geht, konfrontiert mit ganz vielen neuen Fakten und Erkenntnissen.
Zum Beispiel mit dieser: Vögel haben eine andere Wahrnehmung als Menschen, ihre Reizleitung funktioniert schneller als unsere. Das kann eine fatale Konsequenz haben: Wenn Vögel auf die großen, behäbigen Windräder zufliegen, nehmen sie sie als so langsam wahr und damit als unbedrohlich, dass sie sie gewissermaßen vergessen. Mein kleiner Propeller dagegen bewegt sich schneller, die Vögel reagieren, wenn sie die Blattspitzen sehen, und erkennen das Hindernis.
Auch so ein Windrad an vergleichsweise exponierter Stelle reagiert ganz eigen auf den Wind. Böen beispielsweise sind Gift: Der Propeller wird ausgelenkt, die Drehzahl ist futsch, die Stromerzeugung unterbrochen. Und noch eine Frage muss genau untersucht werden, die nach den Kräften, die auftreten, wenn der rotierende Rotor durch Windböen aus der Richtung ausgelenkt wird. Dann ergeben sich Giermomente, die im Mast eine Verwindung provozieren, umso stärker, je höher die Propellerdrehzahl. Dann gibt es Verwirbelungen mit weniger dramatischen Folgen. Die haben wir schon genau untersucht, ebenso wie die optimalen Längen des Rohrs, auf dem der Propeller sitzt. Inzwischen wissen wir vieles. Wir wissen vor allem, dass die kleinen Windräder funktionieren. Und inzwischen steht doch eines auf einem Haus, auf einem neugebauten Mehrfamilienhaus, da war der Antragsweg weniger steinig. Es produziert die Strommenge für die hauseigene Waschküche, für rund 2200 Waschgänge im Jahr.
Wir alle verbrauchen tagtäglich Energie. Die Energiewende wird aber nur funktionieren, wenn die Eingriffe unseren Lebensstandard nicht grundsätzlich tangieren. Viele kleine Anforderungen könnten genau dort erfüllt werden, wo sie anfallen. Auf die zentrale Energieproduktion mit ihren Riesenanlagen und den Landschaften zerschneidenden Stromtrassen müsste in viel geringerem Maße zurückgegriffen werden. Die Firma Allgaier hat damals ein Windrad in die USA verkauft, das im Golf von Mexiko eine kleine Ölplattform...