Prolog: Die Olympiagefangenen 2008
Als es an der Tür klopfte, hatte Hu Jia bereits eine ungute Vorahnung.
Es war einer jener Nachmittage Ende Dezember, an denen es in Peking schon früh dunkel wurde. Hu war noch nicht dazu gekommen, sich umzuziehen, er trug nur einen Pyjama. Er hatte lange Zeit im Arbeitszimmer seiner Wohnung gesessen und mit jemandem in Hongkong geskypt. Am anderen Ende der Leitung saß ein Freund, der für die Menschenrechtsorganisation Amnesty International arbeitete. Sie hatten darüber diskutiert, wie man sich zu Beginn des nächsten Jahres für die Menschenrechte in China einsetzen könnte. Das Jahr 2008 würde ein großer Moment in der Geschichte Chinas werden. Die Hauptstadt Peking würde der Gastgeber für die Olympischen Sommerspiele sein und die Aufmerksamkeit der ganzen Welt würde sich auf diese Stadt richten.
Dann war die Internetverbindung plötzlich unterbrochen. Hu wunderte das jedoch nicht. Er hatte sich bereits daran gewöhnt, dass zwischendurch auch die Telefone in seiner Wohnung immer mal wieder plötzlich verstummten.
Klopf, klopf.
»Wer ist da?«
»Wir kommen, um den Wasserzähler abzulesen.«
Hu holte von seinem Arbeitstisch ein kleines Tonbandgerät, drückte die Aufnahmetaste und schob es in die Tasche seines Pyjamas.
Dann öffnete er die Tür.
Sogleich packten ihn die Männer und stülpten über seinen Kopf eine schwarze Kapuze. Bevor er noch etwas sagen konnte, wurde er auch schon ins Treppenhaus gezogen. Hu sah nichts, aber er hörte die Stimmen mehrerer Männer. Sie hielten ihn unter den Achseln fest und zerrten ihn aus dem vierten Stock die Treppen hinunter – geradewegs in das vor dem Gebäude wartende Auto. Hu schrie auf, als sich die Handschellen eng um seine Handgelenke schlossen. Die Männer beschimpften ihn mit unüberhörbarem Triumph in ihren Stimmen. Landesverräter! Du ausländischer Bastard!
Der schwarze Wagen fuhr immer schneller auf den Straßen Pekings, wo es allmählich dunkler wurde.
Hus Frau Zeng Jinyan, eine kleine zierliche Frau, saß zu Hause im Schlafzimmer auf dem Bettrand. Sie hatte von all dem nichts mitbekommen, denn sie war darauf konzentriert gewesen, dem Baby die Brust zu geben. Die Milch kam nur schlecht. Das Baby weinte.
Zeng schreckte auf, als sie merkte, dass eine große schwarze Gestalt hinter ihr stand. Dann begriff sie, dass es sogar mehrere waren.
Sie stürmte ins Wohnzimmer. In der Wohnung wimmelte es nur so von Menschen, Männern und Frauen. Manche von ihnen trugen dunkelblaue Uniformen, aber viele hatten auch ganz normale Kleidung an. Sie zogen Schubladen heraus und schnüffelten in den Schränken herum. Die Lichtstrahle der Taschenlampen flitzten in der Wohnung umher. Zeng sah Männer mit ausdruckslosen Gesichtern, die ihre und Hu Jias Sachen aus der Wohnung heraustrugen: Laptops, den Drucker, das Handy, CDs, USB-Sticks, Dokumente. Irgendjemand machte Fotos. Zeng rief nach Hu Jia. Man sagte ihr, dass ihr Ehemann nicht mehr in der Wohnung sei.
Zeng begriff sofort, dass nun der Moment gekommen war, von dem an sich ihr Leben ändern würde. Sie war vierundzwanzig Jahre alt. Als sie ungefähr einen Monat zuvor ihre Tochter Qianci zur Welt gebracht hatte, war es ihr Wunsch gewesen, dass nun endlich mehr Ruhe in ihr Leben kommen würde. Jetzt besaß sie eine Familie und sie würden alle gut aufeinander achtgeben. Aber sie hatte auch Angst gehabt. Nun war diese Angst Wirklichkeit geworden. Die schwarzen Gestalten griffen nach ihr. Das Baby schrie und weinte noch mehr als zuvor.
Die Razzia in Hus und Zengs Wohnung ereignete sich am 27. Dezember 2007. Bei Zeng löste das ein Trauma aus. Noch Jahre später plagten sie Albträume und sie spürte förmlich das Grauen, als sie damals begriff, dass sich irgendein Fremder in ihrer Wohnung befand. Zeng zwang sich selbst, das alles zu vergessen. Aber die Erinnerungen ließen sie nicht mehr los. Sie schrieb darüber ein Gedicht.
Als du gingst,
war das Zuhause kein Zuhause mehr.
Die Bilder wurden von den Wänden genommen,
jede Schublade und jeder Korb wurde ausgeschüttet,
zerbrochene Gegenstände – wohin man auch sah.
»Hausdurchsuchung«,
das schrieben sie auf die Gegenstände.
Eine Person in Zivil las ein Dokument,
die Hände zitterten,
Blitzlichter leuchteten auf,
überall waren Kameras
in jeder Ecke.
Große, grobe, fremde Männer,
hübsche, strenge Frauen,
Geheimpolizei,
rauchige Luft, fauliger Gestank, Feuchtigkeit, Kälte,
die Beleidigungen nahmen kein Ende.
Sie hoben mich hoch wie ein kleines Küken,
griffen fest nach meiner Hand.
Ich hörte das Baby vor Hunger schreien,
schwächer und schwächer.
Als das sehnsüchtig erwartete Jahr 2008 begann, hatten Chinas Führer allen Grund stolz zu sein. China war zur neuen Weltmacht aufgestiegen. Seine 1,3 Milliarden Einwohner lebten in einer dynamischen und wohlhabenden Gesellschaft, die in dreißig Jahren revolutioniert worden war, nachdem die Wirtschaftsreform im Jahr 1978 begonnen hatte.
Im Handelszentrum Peking erhoben sich nun glänzende Glas- und Stahltürme in die Lüfte, in denen internationale Großunternehmen ihre Geschäfte betrieben. Privatfahrzeuge stauten sich auf den breiten Ringstraßen, welche die beinahe 20-Millionen-Einwohner-Metropole umgeben. Die Restaurants waren voller Menschen. In der Metro fummelten die Leute an ihren Handys oder Computerspielen herum. Tagtäglich wurden alte Häuserblocks abgerissen und neue sprossen augenblicklich aus dem Boden. Arme Landarbeiter und überhebliche Yuppies liefen auf denselben Straßen umher, wenn auch in unterschiedlichen Realitäten.
Trotz dieser Neuerungen hatte sich an den Machtverhältnissen jedoch nichts geändert. Die strenge und alleinige Herrschaft lag nach wie vor in den Händen der Kommunistischen Partei, die bereits seit über einem halben Jahrhundert regierte. Die ehemaligen Feinde, die ausländischen Kapitalisten, gehörten mittlerweile zu den besten Freunden der Kommunisten. Der Nokia-Konzern hatte mit der größten Handyfabrik der Welt seinen Sitz an Pekings Stadtrand. Nokia war Pekings größter Steuerzahler und der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens, Jorma Ollila, war Ehrenbürger der Stadt.
Das Geld floss und ein Großteil der Bürger lobte die Partei für den Anstieg des Lebensstandards. In China brodelte es dennoch. Jeden Tag gab es irgendwo in dem großen Land Demonstrationen oder Krawalle, wenn Bürger und Beamte aufeinanderstießen. Gewöhnlich lag es daran, dass die Menschen oft unter Gewalteinfluss aus ihren Häusern oder von ihren Feldern vertrieben wurden, damit an deren Stelle Platz für neue Fabriken und größere Wohnhäuser geschaffen werden konnte. Auch die verseuchten Flüsse und die Fabriken, die Gifte in die Umwelt pumpten, riefen Proteste hervor. Die Bürger beschwerten sich über die Korruption und Willkür der Beamten.
Das rüttelte auch die Intellektuellen wach. Sie kritisierten die Missstände der Alleinherrschaft: Die Partei kontrollierte die Medien, zensierte das Internet, erteilte der Justiz Befehle und beschränkte die Rechte im Grundgesetz, wie die Meinungsfreiheit und das Recht, Kritik an der Regierung zu äußern. Eine kleine, aber mutige Gruppe von Juristen, Journalisten, Gelehrten und Aktivisten beklagte sich jedoch lautstark.
Der Hartnäckigste von ihnen war Hu Jia – ein Vollzeit-Demokratie-Aktivist. Hu hatte sich ganz bewusst keine Arbeitsstelle gesucht, damit er sich voll und ganz auf die Offenlegung von Chinas Menschenrechtsverletzungen konzentrieren konnte. Er war ein Freelancer-Rebell, ein arbeitsloses Großmaul. Ende 2007 beschuldigte Hu in einem Internetartikel Chinas Regierung, ihr Versprechen gegenüber den anderen Ländern gebrochen zu haben. China hatte damals versichert, die Zustände bezüglich der Menschenrechte zu verbessern, wenn dort die Olympischen Spiele stattfinden würden.
Mit gerade mal vierunddreißig Jahren hatte Hu schon viel erreicht. Er war von Anfang an in der Umweltschutzbewegung tätig gewesen und hatte sich für AIDS-Opfer eingesetzt. Der ziemlich kleine Mann mit der Brille sah mehr nach einem Computer-Nerd als nach einem Revolutionär aus. Er war ein buddhistischer Vegetarier, der seine eigenen Stäbchen mit ins Restaurant nahm, weil die Einweg-Essstäbchen das Holz des Waldes verschwendeten.
Hus ernster Blick und die zerzausten Haare kannte man bereits aufgrund der von den internationalen Medien veröffentlichten Fotos. Er sprach keine andere Sprache außer Chinesisch, aber er war redegewandt und schlagfertig. Wenn ein ausländischer Journalist einen kritischen Kommentar oder ein Beispiel dafür brauchte, dass es auch in China Menschen gab, die es wagten, sich dem System zu widersetzen, rief man Hu an. Er stellte sich immer gerne zur Verfügung.
Als das olympische Jahr allmählich näher rückte, gab Hu mehrere Interviews am Tag. Zwischenzeitlich entstand der Eindruck, dass man über ihn in den internationalen Medien mehr berichtete als über Chinas obersten Anführer. Zum Parteiführer und Präsidenten Hu Jintao bestand jedoch trotz...