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Gender Mainstreaming

Auflösung der Geschlechter?

AutorChristoph Raedel
VerlagSCM Hänssler im SCM-Verlag
Erscheinungsjahr2014
ReiheKurz und bündig 
Seitenanzahl96 Seiten
ISBN9783775171953
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis1,99 EUR
Gender Mainstreaming soll sicherstellen, dass die Belange von Männern und Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen berücksichtigt werden. Doch geht es dabei wirklich um Gleichberechtigung oder eher um die Angleichung von Geschlechterrollen? Und was versteht man unter 'Geschlecht'? Christoph Raedel zeigt berechtigte Anliegen, aber auch Gefahren dieses Konzepts auf und argumentiert sachkundig und differenziert. Hochaktuell!

Dr. Christoph Raedel hat in Rostock, Halle, Cambridge und Reutlingen ev. Theologie studiert, war Studienleiter und Dozent am CVJM-Kolleg und Professor für Ökumenische Theologie an der CVJM-Hochschule Kassel. Seit 2014 ist er Professor für Systematische Theologie und Theologiegeschichte an der FTH Gießen. Sein Forschungsschwerpunkt liegt seit vielen Jahren im Bereich der Ökumene und der christlichen Ethik. Er ist verheiratet und hat vier Kinder.

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II.Die Praxis erleben: Gender Mainstreaming

1. »Top-down« – wie Gender
Mainstreaming bei uns ankommt


Es gibt also nicht den Feminismus, sondern unterschiedliche Spielarten, denen unterschiedliche geschlechterwissenschaftliche Theorieansätze zugrunde liegen. Diesen geschlechterwissenschaftlichen Theorieansätzen gegenüber handelt es sich bei Gender Mainstreaming (im Folgenden abgekürzt als GM) um einen gesellschaftspolitischen Handlungsansatz. Die beiden Ansätze liegen also auf unterschiedlichen Ebenen. Sie dürfen nicht voneinander getrennt, müssen aber unterschieden werden. In diesem Abschnitt wird zunächst kurz skizziert, wie GM »von oben« her durchgesetzt wird, und dann aufgezeigt, dass hinter GM als Handlungskonzept kein eindeutiger Genderbegriff steht. Deutlich wird jedoch das gemeinsame Anliegen, tradierte Geschlechterrollen aufzubrechen. Das hat Methode und ein erkennbares Ziel, wie wir sehen werden.

Das Konzept des GM gelangte auf der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 zum Durchbruch. Seitdem wird es innerhalb der Europäischen Union als »Top-down«-Prozess vorangetrieben:27 GM erreicht uns also von »oben« her, von den höheren Verwaltungsebenen (Europäische Union und Bund) wird es nach unten hin durchgesetzt. In Deutschland wurde GM durch einen Kabinettsbeschluss am 26. Juli 2000 als Querschnittsaufgabe eingeführt, wobei es vorher keine öffentliche, parlamentarische Debatte gab.28 Die Bundesländer haben diese Vorgabe in unterschiedlicher Geschwindigkeit auch für ihre Entscheidungsebene als verbindlich erklärt. Die Berücksichtigung von Belangen des GM ist seitdem verpflichtende Maßgabe allen politischen Handelns, nicht lediglich in einem bestimmten Bereich. Darauf verweist schon der Begriff: Die Genderfrage soll in den Mainstream (also in den »Hauptstrom«) gesellschaftlicher Prozesse eingeflochten werden.29 Es geht also um die gesellschaftliche Gleichstellung von Frauen und Männern. Ziel ist hier allerdings nicht die Gleichheit der Rechte und Chancen, denn diese wird vorausgesetzt, sondern eine statistisch gleiche Beteiligung von Frauen und Männern in allen gesellschaftlichen Bereichen.30

Bei genauerer Betrachtung lassen sich zwei Bereiche aufzeigen, denen besondere Aufmerksamkeit zuteilwird. Zum einen geht es darum, Frauen in gesellschaftliche Entscheidungspositionen zu bringen, zum anderen darum, die Hausarbeit zu gleichen Anteilen auf Frauen und Männer zu verteilen.31 Wenn die Tatsache anerkannt wird, »dass von Frauen und Männern gemeinsam wahrgenommene Arbeits- und Elternpflichten die stärkere Teilhabe der Frau am öffentlichen Leben fördern«32, müssen die Geschlechtsidentitäten von beiden Seiten aufgebrochen werden: Frauen und Männer müssen zu einem neuen und anderen Bewusstsein ihrer Rollen gelangen, und der staatliche Bildungssektor wird dazu verpflichtet, sich aktiv an der neuen Rollenbildung zu beteiligen.

Der Text der Pekinger Aktionsplattform spiegelt das Zerren unterschiedlicher Lobbygruppen hinter den Kulissen der Konferenz wieder. Das Ergebnis bestand darin, dass nicht klar definiert wurde, was mit dem Begriff Gender (wörtlich: Geschlecht, hier: Geschlechtsidentität) genau gemeint ist, also welcher Theorieansatz sich dahinter verbirgt.33 Das Anliegen des Dokuments ist dennoch deutlich zu erkennen. Das Ziel einer statistisch gleichen Teilhabe von Frauen und Männern in allen Gesellschaftsbereichen ist von Anfang bis Ende in den Text eingewoben. Was das gesellschaftspolitisch bedeutet, zeigt sich vor allem darin, was im Text (fast) überhaupt nicht vorkommt: So wird auf die soziale Bedeutung der Mutterschaft und die Rolle der Eltern in der Familie und bei der Kindererziehung nur an einer einzigen Stelle Bezug genommen. Und das in einem Dokument von immerhin 361 Paragrafen.34 Die Botschaft ist klar: Das Ziel, gesellschaftlich relevante Entscheidungspositionen statistisch gesehen zu gleichen Anteilen mit Männern und Frauen zu besetzen, kann nur erreicht werden, wenn die Benachteiligung der Frau im Erwerbsleben beendet wird. Als ursächlich für diese Benachteiligung gelten das Muttersein und die Familienaufgaben der Frau. Dieser aus Sicht der Gender-Lobby verhängnisvolle Zusammenhang soll aufgebrochen und die Beteiligung von Männern an der Familienarbeit erhöht werden. Der Weg zu diesem Ziel ist die Erhöhung der Vollerwerbstätigenquote bei den Frauen. Sie ist das ebenso offensichtliche wie selbstwidersprüchliche Nahziel von GM: Frauen werden mit allen vorstellbaren Verlockungen auf ein Lebensmodell eingeschworen, das Männern gerade mit aller Kraft ausgetrieben werden soll: nämlich das Modell der Vollerwerbstätigkeit.

Doch nicht nur die Pekinger Weltfrauenkonferenz definiert den Genderbegriff unscharf, sondern auch die Bundesregierung. Das zuständige Bundesministerium umschreibt das Anliegen von GM dahingehend,

»nicht stereotyp ›die Frauen‹ oder auch ›die Männer‹ in den Blick zu nehmen, sondern Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit und Vielfalt zu berücksichtigen. Niemand ist nur männlich oder nur weiblich, aber wir leben in einer Welt, die maßgeblich durch die Zuweisung von Geschlechterrollen geprägt ist. Frauen und Männer werden ständig daran gemessen, wie weiblich oder wie männlich sie sich verhalten; und Menschen werden auch immer wieder mit impliziten geschlechtsspezifischen Erwartungen konfrontiert. Daher ist es wichtig, Geschlechterdifferenzen wahrzunehmen, sie aber nicht … als tradierte Rollenzuweisungen zu verfestigen. Mit Gender sind also immer auch Vorstellungen von Geschlecht gemeint, die sich ändern lassen.«35

Hinter dieser Leitvorstellung ist nur schwer ein scharf umschriebener Geschlechterbegriff zu erkennen.36 Als Handlungsstrategie setzt GM nicht auf der Ebene des geschlechtertheoretischen Genderbegriffs an, da dessen Bedeutung offenbar strittig ist, und zwar, wie wir gesehen haben, auch innerhalb des Feminismus. GM setzt vielmehr beim gesellschaftspolitischen Leitbegriff der Gleichstellung an.37 Was genau ist damit jedoch gemeint?

2. Gleichstellung der Geschlechter –
was Gender Mainstreaming
erreichen will


Die Gleichstellung der Geschlechter bedeutet im Sinn von GM nicht die Auflösung der Geschlechterdifferenzen, wohl aber eine Angleichung von Geschlechterrollen unter Berücksichtigung der offenkundig nicht völlig identischen Bedürfnisse und Interessen von Männern und Frauen. Das klingt nach der Quadratur des Kreises und ist es irgendwie auch, wie wir gleich sehen werden. Widerspruchsfrei lässt sich dieser Ansatz jedenfalls nicht umsetzen. Was aber bedeutet die Zielvorstellung von der Geschlechtergleichheit nun tatsächlich?

Die Gleichheit der Geschlechter definiert GM als die Gleichheit der Rollenzuweisungen und Aufgabenverteilungen im Erwerbsleben und in der Hausarbeit. Diese Zielvorstellung lässt sich nur verwirklichen, wenn an den beiden Enden einer Veränderung des Rollenverhaltens angesetzt wird, also bei Frauen und Männern. Praktisch bedeutet dies, dass Frauen für eine höhere Erwerbsbeteiligung, Männer für mehr Hausarbeit gewonnen werden müssen. Erreicht werden soll dies über einen »Abbau von Benachteiligungen«, was die Vereinbarkeit von Familie und Beruf angeht. Mehr Kindertagesbetreuung soll es auch Frauen ermöglichen, Vollzeit zu arbeiten, während das Aufbrechen der Präsenzkultur in den Unternehmen (also: »Bist du präsent, kommst du auch voran«) es Männern ermöglichen soll, ihren familiären Neigungen nachzukommen. GM kann also in der Praxis bedeuten, dass in einem Bereich die (weitere) Frauenförderung sachgemäß erscheinen kann, während es in einem anderen Bereich als geboten erscheint, »Maßnahmen zur Förderung von Männern zu ergreifen«.38 Dabei kommt es der Umsetzung von GM entgegen, wenn Berufs- und Familiensphäre zunehmend miteinander verschmelzen, wie sich das beim »Home Office«, also dem computergestützten Arbeiten von zu Hause aus, sowie bei der Krabbel- und Spielecke für Kinder im Büro anbahnt. Auf den ersten Blick wirkt dies wie die Rückkehr ins vorindustrielle Zeitalter. Die Entflechtung von Heimstatt und Werkstatt ist doch erst die geschichtlich betrachtet junge Folge der Industrialisierung! Das ist richtig. Allerdings fordert die Tätigkeit am Dienstcomputer im häuslichen Umfeld fast ausschließlich »Köpfchen«, genauer: Konzentration, und das ist ein deutlicher Unterschied zur vorindustriellen, häufig gleichförmigen Handfertigung, die der zeitgleichen Zuwendung zum Kind entschieden günstigere Voraussetzungen bot.

Gleiche Teilhabe von Männern und Frauen am Erwerbs- wie am Familienleben ist also das Ziel. Das zu erreichen, ist offenbar nicht einfach. Die stärksten Beharrungsmomente gibt es bei der Verteilung der Hausarbeit, allerdings nicht, weil Männer sich weigerten, Aufgaben zu übernehmen (wenn auch der Umfang stark variiert), sondern, weil Männer und Frauen verschiedene Aufgaben übernehmen und das Ergebnis quer durch die Väter- und Beziehungstypen hindurch lautet: Frauen übernehmen eher Versorgungsaufgaben (einschließlich der Versorgung des Kindes), Männer machen mehr das Praktische.39 In der Literatur ist viel davon zu lesen, dass Paare spätestens nach der Geburt des ersten Kindes in tradierte Rollen »zurückfallen«, tatsächlich wird eine völlige Gleichverteilung der Hausarbeit in den wenigsten Beziehungen überhaupt je gelebt, auch ohne...

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