Kapitel 3
Die Zukunft des menschlichen Oxytocinsystems
Im Zeitalter der Epigenetik, einer Zeit mit neuem Interesse an vordarwinistischen Evolutionstheorien, sind einige Fakten akzeptabler und somit für Interpretationen offener geworden. Insbesondere wurde die Behauptung vertretbar, dass Organe oder physiologische Funktionen, die zu wenig genutzt werden, von Generation zu Generation immer schwächer werden. Ein besonders drastisches Beispiel für eine menschliche physiologische Funktion, die plötzlich weniger nützlich geworden ist, ist das Oxytocinsystem. Die große Bedeutung von hohen Oxytocinwerten bei der Geburt ist seit über einem Jahrhundert bekannt (wörtlich bedeutet Oxytocin »schnelle Geburt«).
Ein nur noch wenig genutztes physiologisches System
Bis vor relativ kurzer Zeit musste sich eine Frau, um ein Kind zu bekommen und die Plazenta abzustoßen, auf den Ausstoß von natürlichem Oxytocin als Hauptbestandteil eines sehr komplexen Hormonflusses verlassen. Heutzutage ist synthetisches Oxytocin (»Syntocinon« oder »Pitocin«) das am häufigsten verabreichte Medikament bei einer Geburt. Die meisten Frauen stehen unter der Einwirkung von synthetischem Oxytocin, wenn sie ihr Baby gebären und die Plazenta abstoßen. Im Fall eines Kaiserschnitts während der Wehen ist normalerweise meist schon ein Tropf mit synthetischem Oxytocin gelegt, wenn die Entscheidung zugunsten einer Operation fällt. Bei den meisten Frauen werden die Wehen eingeleitet. In der Praxis ist auch die Wehenstimulation fast immer mit der Verwendung von künstlichem Oxytocin verbunden. Darüber hinaus wird es während eines Kaiserschnitts für gewöhnlich als Uterotonikum eingesetzt. Logischerweise setzt eine Frau bei einem Kaiserschnitt vor dem Einsetzen der Wehen keine natürlichen Hormone frei. Wir können somit festhalten, dass global betrachtet die Anzahl der Frauen, die ihre Babys und die Nachgeburt nur mit Hilfe ihres eigenen Oxytocinsystems zur Welt bringen, mittlerweile verschwindend gering ist.
Auch bei der Ernährung der Säuglinge wird das Oxytocinsystem zu wenig genutzt. Man muss sich nur daran erinnern, dass die Milchproduktion durch den Ausstoß von Oxytocin angeregt wird. Wenn man die durchschnittliche Anzahl von Kindern pro Frau in der modernen Gesellschaft betrachtet und die äußerst kurze durchschnittliche Stillzeit, kann man sich leicht ausrechnen, dass die Anzahl der Milchspendereflexe im Leben einer heutigen Frau verglichen mit der in früheren Gesellschaften sehr gering ist.
Das Oxytocinsystem ist das einzige Beispiel eines physiologischen Systems, das durch die Auswirkungen des veränderten Lebensstils plötzlich derart nutzlos geworden ist. Den Begriff »System« verwende ich dabei, um zu unterstreichen, dass hier die Kapazität gemeint ist, Oxytocin auszuschütten, es als Neuromodulator zu verwenden, es in der hinteren Hirnanhangsdrüse zu speichern, es wellenartig effektiv freizusetzen und Rezeptoren dafür zu entwickeln. Das könnte weitreichende Konsequenzen haben, da Oxytocin in allen Bereichen unseres Reproduktions- beziehungsweise Sexuallebens, bei der Sozialisierung und bei allen Facetten unserer Fähigkeit zu lieben – wozu auch der Respekt vor unserer Mutter Erde zählen dürfte – eine Rolle spielt.
Ich wage es sogar, noch einen Schritt weiter zu gehen und zu vermuten, dass dieses physiologische System möglicherweise bereits verfällt. Unsere Besorgnis in Hinblick auf diese mögliche Entwicklung lässt sich durch die Zusammenstellung verschiedenster publizierter Daten über Geburt, Stillen, Genitalsexualität und Empathiefähigkeit begründen.
Die Fähigkeit zu gebären
Einer Synthese kürzlich veröffentlichter Statistiken zufolge hat es den Anschein, als würden Geburten in moderner Zeit schwieriger. Da diese Probleme besonders bei Hausgeburten zu beobachten sind, müssen zur Erklärung andere Faktoren herangezogen werden als unzureichende Krankenhausumgebungen. Die Probleme bei Hausgeburten sind in einer zuverlässigen Metaanalyse (in der Daten aus mehreren Studien mit ähnlichen Protokollen zusammengefasst werden) ausgewertet worden, die im American Journal of Obstetrics & Gynecology publiziert wurde.1 Alle Studien in diesem Artikel hatten die Ergebnisse von geplanten Hausgeburten mit geplanten Krankenhausgeburten verglichen, was die beste Methode ist, da zufällige Kontrollen nicht durchführbar sind. Dabei sollten wir beachten, dass Studien, die die Resultate tatsächlicher Hausgeburten mit tatsächlichen Krankenhausgeburten vergleichen, die Risiken möglicher Komplikationen bei geplanten Hausgeburten vernachlässigen, da sie den Transport ins Krankenhaus während der Wehen nicht berücksichtigen. Die in die Metaanalyse eingegangenen Studien wurden in hochentwickelten westlichen Ländern durchgeführt (USA, Großbritannien, Kanada, Australien, Schweiz, Niederlande und Schweden) und in gleichrangigen medizinischen Fachzeitschriften in englischer Sprache publiziert.
Unter den Daten dieser Metaanalyse müssen wir uns also besonders eine bedeutsame Information merken. Es ist auffällig, dass in der Gruppe der geplanten Hausgeburten bei bis zu 37 Prozent der Frauen, die ihr erstes Baby bekamen, während der Wehen ein Transport ins Krankenhaus notwendig war. Außerdem fällt auf, dass die Sterblichkeitsrate der Neugeborenen (zwischen Geburt und einem Alter von 28 Tagen) nach geplanten Hausgeburten doppelt so hoch ist wie nach geplanten Krankenhausgeburten und bei Neugeborenen ohne Anomalien sogar fast dreimal so hoch.
Die Daten einer neueren Studie aus der Region um Utrecht in den Niederlanden werden als besonders provokant betrachtet, denn sie könnten dazu führen, ein speziell holländisches System zu überdenken. Dieses System unterscheidet sich von allen anderen Geburtshilfesystemen, da es auf einer streng definierten Unterscheidung von primärer und sekundärer Geburtshilfe basiert. In der Praxis bedeutet dies, dass Frauen mit geringem pathologischem Risiko von Hebammen versorgt werden, während sich die anderen in die Hände von Geburtshelfern begeben. Eine Auswirkung dieser Praxis ist, dass die Rate der Hausgeburten immer noch bei über 20 Prozent liegt. Der Studie zufolge ist das Risiko des perinatalen Todes deutlich höher, wenn die Schwangerschaft als wenig riskant eingeschätzt wurde.2 Paradoxerweise ist die Rate der Verlegungen in die Pädiatrieabteilung nach einer hochriskanten Schwangerschaft nicht höher als bei einer risikoarmen. Eine Studie der »Birthplace in England Collaborative Group« kam zu einem ähnlichen Ergebnis: Ohne Geburtshilfe lag bei Frauen, die ihr erstes Kind zur Welt brachten, die Notwendigkeit einer Überführung des Neugeborenen in die Pädiatrie bei 36 bis 45 Prozent.3 Die Schwierigkeiten bei der modernen Geburt im Allgemeinen wurden durch eine chinesische Studie bestätigt, die an einer Bevölkerungsgruppe durchgeführt wurde, in der die Kaiserschnittrate bei 56 Prozent lag. In dieser Studie über die Risiken psychopathologischer Probleme in Verbindung mit der Art der Geburt konnten die Forscher eine Gruppe von Kindern einschließen, die mit Hilfe einer Zange oder Saugglocke auf die Welt geholt wurde.4 Die Tatsache lässt vermuten, dass selbst eine Kaiserschnittrate von 56 Prozent nicht ausreicht, um schwierige Vaginalgeburten zu verhindern. Doch um derartige Statistiken zu interpretieren, müssen noch viele andere Faktoren als die verminderte Fähigkeit zu gebären berücksichtigt werden.
Da ich selbst schon über ein halbes Jahrhundert mit dem Thema Geburt zu tun habe (bereits 1953 verbrachte ich ein halbes Jahr auf der Entbindungsstation eines Pariser Krankenhauses), erkenne ich die Bedeutung einer amerikanischen Studie über Veränderungen in Wehenmustern im Verlauf von fünfzig Jahren.5 Die Autoren verglichen zuerst fast 4000 Geburten zwischen 1959 und 1966 mit fast 10 000 Geburten zwischen 2002 und 2008. Sie betrachteten nur Geburten von je einem Baby zum Termin in normaler Lage und unter spontanem Einsatz der Wehen. Unter Berücksichtigung vieler Faktoren wie Alter, Größe und Gewicht der Mutter zeigte sich, dass die erste Phase der Wehen bei der zweiten Gruppe wesentlich länger dauerte als bei der ersten. Im Falle eines ersten Kindes waren es zweieinhalb Stunden mehr, in den anderen Fällen zwei Stunden. Für Ärzte meiner Generation beweist diese Studie das Offensichtliche.
Die Fähigkeit zu stillen
Trotz der Bemühungen, das Stillen wieder populär zu machen, und obwohl man heute besser über den Wert der Muttermilch informiert ist als je zuvor, sind die letzten Statistiken zum Thema Stillen beunruhigend. So stillen in den Mitgliedsstaaten der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) nur ungefähr 25 Prozent der Mütter ihre Kinder mit sechs Monaten noch ausschließlich.6
In so hochentwickelten Ländern kann man diese Statistiken nicht durch einen Mangel an Wissen um den Wert ausschließlicher Ernährung mit Muttermilch in den ersten sechs Monaten begründen. Eine Erklärung dafür besagt, dass es noch die Nachwirkungen der Zeit sind, in der das Stillen abgewertet wurde. Diese Periode begann in Westeuropa und Amerika kurz nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Aufkommen der Säuglingsmilch und hielt bis in die siebziger Jahre an. Eine weitere plausible Erklärung beruht auf der starken Verbindung zwischen der Geburtsphysiologie und der Physiologie der Laktation. Im Zeitalter von synthetischem Oxytocin und vereinfachter Kaiserschnittverfahren, in dem die meisten Frauen nicht von selbst gebären, wären gute Statistiken zum Stillen eher...