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Grundkurs Philosophie III. Erkenntnistheorie

AutorRafael Hüntelmann
Verlageditiones scholasticae
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl129 Seiten
ISBN9783868382020
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Seit Jahrzehnten gibt es keine deutschsprachige Einführung in die aristotelisch-scholastische Erkenntnistheorie. Selbst zur Zeit der Neuscholastik, vor fast hundert Jahren, gab es kaum Schriften zu diesem zentralen philosophischen Fachgebiet. Daher fehlt auch jede Auseinandersetzung zwischen klassischer, aristotelisch-thomistischer und moderner Erkenntnistheorie. Die vorliegende Schrift versteht sich als ein erster Beitrag, diese Lücke zu schließen. In einem gut verständlichen, allgemeinen Grundriss wird die klassische Erkenntnistheorie vorgestellt, und vor diesem Hintergrund werden moderne epistemische Theorien diskutiert. Das Buch ist in vier Hauptkapitel gegliedert: 1. Was ist Erkenntnis?; 2. Arten der Erkenntnis und ihr Gegenstand; 3. Das Erkennen; 4. Erkenntnis, Wahrheit und Wissen.

Rafael Hüntelmann, Dr. phil. ist Verleger und Dozent für Philosophie an verschiedenen privaten Hochschulen. Er ist Autor verschiedener Bücher und Aufsätze mit dem Schwerpunkt Ontologie und Metaphysik. Zuletzt ist von ihm erschienen, Grundkurs Philosophie Band V, Die Existenz Gottes.

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Leseprobe

2. Arten der Erkenntnis und ihr Gegenstand


Ganz offensichtlich unterscheidet sich die Erkenntnis, die ein Regenwurm von seiner Umgebung hat grundlegend von der Erkenntnis eines Schulkindes in der ersten Schulklasse, das erstmals begreift, dass 2+2=4 ist. Die erste Art der Erkenntnis, die Erkenntnis des Regenwurms, kann man als sinnliche Erkenntnis bezeichnen, die natürlich sehr unterschiedliche Grade und Arten hat. Die zweite Erkenntnis, die des Schulkindes heißt rationale Erkenntnis und auch hier gibt es sicher unterschiedliche Grade. Dementsprechend können alle kognitiven Tätigkeiten in diese zwei grundsätzlichen Arten eingeteilt werden. Selbstverständlich sind es nicht zwei völlig verschiedene und getrennte kognitive Tätigkeiten, denn die rationale Erkenntnis ist nicht möglich ohne sinnliche Erkenntnis, setzt somit die sinnlichen Tätigkeiten und Fähigkeiten voraus.

Sinnliche Erkenntnis


Es gibt zunächst unterschiedliche Arten der sinnlichen Erkenntnis, nämlich Empfindungen, Wahrnehmungen, sinnliche Vorstellungen, Erinnerungen und ein sinnliches Schätzungsvermögen. Diese fünf verschiedenen kognitiven Tätigkeiten, die sich auch bei Tieren finden, wollen wir zunächst kurz bestimmen. Nicht jedes Tier alle diese Fähigkeiten, aber zumindest allen höheren Tieren kann man durchaus alle diese sinnlichen Vermögen gleichzeitig zuschreiben.

Unter Empfindung versteht man ein durch einen äußeren Sinnenreiz auf ein Sinnesorgan bewirktes unmittelbares Erfassen eines Gegenstandes. Empfindungen haben alle Tiere und dies ist ein entscheidendes Kriterium der Unterscheidung zwischen der Tier- und Pflanzenwelt. Irgendein Reiz aus der Umwelt – sei es ein physikalischer oder chemischer Reiz, Geruch, Tastempfindung, aber auch Lichtwellen die auf ein Auge treffen – lösen bestimmte physikalisch-chemische Reaktionen im tierischen Organismus aus und bewirken eine Reaktion des Organismus. Durch solche Reize und ihre Aufnahme und Verarbeitung orientieren sich Tiere in ihrer Umwelt. Empfindungen sind noch keine Wahrnehmungen, sondern die Voraussetzung für Wahrnehmungen.

Unter einer Wahrnehmung versteht man nämlich die Verbindung verschiedener Empfindungen zu einer Gesamterkenntnis. Seh-, Tast-, Geruchs-, Geschmacksempfindungen oder auch andere Empfindungen wie die Temperaturempfindung, werden zu einem Gesamteindruck über den Gegenstand verbunden. Beides, sowohl Empfindung als auch Wahrnehmung geschehen aber stets in unmittelbarem Kontakt mit dem Gegenstand. Dies ist ein Unterschied zur sinnlichen Vorstellung.

Die sinnliche Vorstellung (im Unterschied zur rationalen Vorstellung) stellt ein sinnlich wahrnehmbares Objekt vor, ohne dass dieses sinnlich gegenwärtig ist. Solche sinnlichen Vorstellungen finden sich auf jeden Fall bei allen höheren Tieren. Die sinnliche Vorstellung ermöglicht einem Tier z.B. durch einen bestimmten Geruch sich ein anderes Tier vorzustellen, dem Geruch zu folgen um es zu jagen oder sich mit ihm fortzupflanzen. Dabei ist das Objekt der Vorstellung nicht selbst gegenwärtig wie bei der Wahrnehmung.

Eng damit verbunden ist die Fähigkeit zur Erinnerung. Die Erinnerung unterscheidet sich von der Vorstellung dadurch, dass ein gegenwärtig erfasster Gegenstand als ein solcher erkannt wird, der bereits früher einmal erfasst wurde. So kann der Geruch, den ein Hund erschnüffelt als der eines anderen Hundes oder als der des Frauchens erkannt werden, oder auch als der eines Gegners, mit dem Hasso früher schon mal eine Rauferei hatte.

Zuletzt sei noch das Schätzungsvermögen oder sinnliche Urteilsvermögen erwähnt, das heute leider selten erwähnt wird, weil man nur noch von „Instinkten“ spricht. Instinkte setzen aber ein solches sinnliches Urteil voraus. Das sinnliche Urteils- oder Schätzungsvermögen besteht darin, dass ein Tier ein sinnliches Urteil über einen Gegenstand in Bezug auf dessen Zu- oder Abträglichkeit für sich selbst trifft. Eine Wahrnehmung allein reicht in vielen Fällen nicht aus, um eine bestimmte Reaktion auszulösen. Dazu muss das Tier beurteilen können, was diese Wahrnehmung z.B. für seine eigene Selbsterhaltung bedeutet und dementsprechend reagieren.

Um die sinnliche Erkenntnis richtig zu verstehen, müssen wir, wie bei jedem anderen Erkenntnisvermögen auch, den Gegenstand der sinnlichen Erkenntnis untersuchen. Damit ist die Beantwortung der Frage gemeint, was eine sinnliche Erkenntnis denn nun genau erfasst. Erst vom Gegenstand der Erkenntnis her wird nämlich das jeweilige Erkenntnisvermögen verständlich.

Die klassische Philosophie unterscheidet bei den Objekten der Erkenntnis (aber auch in vielen anderen Bereichen) zwischen einem Formal- und einem Materialobjekt. Was ist damit gemeint? Das Materialobjekt ist das Ding selbst das von den Sinnen erfasst wird mit allen seinen Bestimmungen, seinen Eigenschaften usw., also die große, braune Kastanie zum Beispiel. Das Formalobjekt ist hingegen der Inhalt, der von diesem Materialobjekt im jeweiligen Erkenntnisakt der Sinne erfasst wird. Das Materialobjekt kann also für die verschiedenen Sinne immer dasselbe sein, dass Formalobjekt ist aber bei jedem Sinn ein anderes.

Die Sinne erfassen nun ihren Gegenstand, d.i. ihr Formalobjekt immer unmittelbar. Unmittelbar empfunden wird dabei aber nur die Sinnesqualität, die durch den Sinnesreiz auf das Sinnesorgan ausgeübt wird. Der Tastsinn, der Geruch, der Geschmack sind unmittelbar mit dem Gegenstand verbunden, während bei den anderen, höheren Sinnen (Sehen, Hören) ein Medium (Luft, Wasser) zwischen Gegenstand und Sinn ist. Natürlich wird auch der Gegenstand des Sehens und Hörens unmittelbar erfasst, nur eben durch ein Medium, weil das Auge zum Beispiel den Gegenstand nicht direkt berührt, sondern der Lichtreiz durch die Luft übertragen wird.

Nun vertritt die aristotelisch-thomistische Philosophie die Auffassung, die später für uns noch wichtig werden wird, dass das Formalobjekt, also der unmittelbar erfasste Inhalt des jeweiligen Sinnes, mit absoluter Gewissheit erkannt wird, natürlich unter der Voraussetzung normaler Umstände, d.h. sofern das Sinnesorgan nicht krank oder verletzt ist und zum Beispiel das Medium vorhanden ist. So ist klar, dass man im Dunkeln keine Farben sehen kann, denn „im Dunkeln sind alle Kühe schwarz“ wie Hegel sagte. Im Zusammenhang einer Auseinandersetzung mit den skeptischen Einwänden werden wir auf die Behauptung zurückkommen, dass die Sinne ihr Formalobjekt mit absoluter Gewissheit erfassen, denn der Skeptiker bestreitet, dass es überhaupt irgendeine gewisse Erkenntnis gibt. Unter normalen Umständen, wenn also die Sinnesorgane gesund sind und ihre Vermögen nicht durch irgendeine Störung eingeschränkt sind, erfassen diese Organe ihr jeweiliges Formalobjekt mit absoluter Gewissheit. Selbstverständlich ist diese Erkenntnis sehr unvollkommen und unvollständig. Doch eine unvollständige Erkenntnis eines Gegenstandes ist deshalb keine falsche Erkenntnis, zumal es für uns keine wirklich vollständige Erkenntnis gibt, ganz gleich von welchem Gegenstand. Zudem ist die sinnliche Erkenntnis nur ein erster Schritt zur wirklichen, d.h. wesentlichen Erkenntnis eines Gegenstandes, die durch den Verstand oder Intellekt vervollständigt werden muss. Doch wenn ich mit den Augen das Braune der Kastanie erfasse, dann ist dies eine wahre Erkenntnis, wenn auch die Farbe nur ein unwesentlicher Bestandteil der Kastanie ist.

Was ist nun das jeweilige Formalobjekt der verschiedenen Sinne? Bei den äußeren Sinnen, also dem Tastsinn ist das Formalobjekt die Ausdehnung, beim Temperatursinn sind es Wärme und Kälte. Beim Schmerzsinn ist es natürlich der Schmerz, beim Gesichtssinn sind es die Farben und schwarz-weiß Abstufungen (mittelbar auch die Ausdehnung), beim Geschmackssinn sind es süß und sauer, bitter und andere Qualitäten. Der Geruchssinn erfasst Qualitäten wie würzig, blumig, fruchtig, harzig, faulig, brenzlig usw. Der Gehörsinn erfasst Töne oder den Schall. Die genaueren Details fallen in die Forschung der Einzelwissenschaften, vor allem der Psychologie und gehören nicht zur Philosophie. Sollte in meiner Liste ein Widerspruch zu neueren Erkenntnissen der Wahrnehmungspsychologie bestehen, gilt das, was diese entdeckt hat.

Wie schon gesagt, besteht die Wahrnehmung in einer Verbindung verschiedener Formalgegenstände der Sinne zu einem Gesamtbild. Außer den äußeren Sinnen gibt es noch die inneren Sinne, von denen bisher noch gar nicht die Rede war. Gewöhnlich unterscheidet man vier solcher innerer Sinne, wobei wir das Vierte bereits genannt haben, nämlich das sinnliche Schätzungs- bzw. Urteilsvermögen. Es sind dies, außer dem zuletzt genannten, der Gemeinsinn bzw. das sinnliche Bewusstsein, die Phantasie d.i. die sinnliche Vorstellungskraft (das Wort „Phantasie“ darf hier nicht im alltäglichen Sinne verstanden werden) und das sinnliche Gedächtnis. Gehen wir diese vier inneren Sinne kurz im Einzelnen durch.

Unter dem Begriff „Gemeinsinn“ oder – was dasselbe ist - „sinnliches Bewusstsein“, das sich zumindest bei allen höheren Tieren mit einem zentralen Nervensystem findet, versteht man das Bewusstsein über die Empfindungen und das Vermögen zur Unterscheidung der verschiedenen Empfindungen. Höhere Tiere, wie Säugetiere aber auch Vögel und Reptilien, haben nicht nur bestimmte Empfindungen und Wahrnehmungen, sondern sie sind sich auch bewusst, dass sie diese Empfindungen haben. Dieses Bewusstsein ist nicht Teil der Empfindung, sondern ein eigenes Vermögen, eben der Gemeinsinn. Der Gemeinsinn ist nicht identisch mit dem, was man Selbstbewusstsein nennt, denn dieses findet sich, wenn überhaupt, nur bei sehr wenigen Arten, wie den Primaten, Delphinen oder...

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