II. Das Seiende als Akt und Potenz
Im Grundkurs Philosophie I habe ich ausführlich die Akt-Potenztheorie dargestellt, allerdings geschah dies in einem anderen Zusammenhang, nämlich zur Erklärung der Veränderung bzw. des Werdens. Dies ist natürlich auch der primäre Hintergrund für die Akt-Potenz-Theorie in der aristotelisch-thomistischen Philosophie. Hier werden wir diese zentrale Theorie der aristotelisch-scholastischen Philosophie wiederholen, wobei es für diejenigen Leser, die den ersten Band nicht gelesen haben, eine erste Einführung sein wird. Ich werde allerdings die Akt-Potenz-Theorie hier nur soweit erläutern, als es für den gegenwärtigen Zusammenhang von Bedeutung ist. Im Mittelpunkt steht hier nicht eine Erklärung des Werdens, die zur Naturphilosophie gehört, sondern Akt und Potenz als eine grundlegende Unterscheidung in dem, was es gibt, im Seienden. Alles Seiende ist nämlich entweder aktual oder potentiell bzw. aus Akt und Potenz zusammengesetzt. Insofern handelt es sich bei Akt und Potenz um eine grundlegende Unterscheidung des Seienden.
Alles was existiert ist, insofern es existiert, aktual. Aktualität bedeutet in der aristotelisch-scholastischen Philosophie nichts anderes als aktuales, wirkliches, reales Sein. Allerdings erschöpft sich weder die Wirklichkeit und noch viel weniger das Seiende darin, aktual zu sein. Vielmehr ist alles sinnlich Wahrnehmbare immer aus Akt und Potenz zusammengesetzt. Nichts von dem, was wir wahrnehmen können oder was Gegenstand der Wissenschaft ist, ist rein aktual oder rein potentiell. Doch was ist mit diesen beiden Begriffen genauer gemeint?
Zunächst muss betont werden, dass Aktualität und Potentialität nicht definierbar sind. Dies haben sie mit dem Sein gemeinsam, was auch verständlich ist, da Akt und Potenz das Sein gewissermaßen in allgemeinster Weise einteilen. Das geschaffene Seiende ist immer aus Akt und Potenz zusammengesetzt. Allerdings lassen sich die Begriffe Akt und Potenz erläutern und durch einander erklären. Das deutsche Wort „Akt“ kommt vom lateinischen „agere“, was so viel wie „tätig sein“, „wirken“ bedeutet und damit bereits das entscheidende Kennzeichen des Aktes bzw. der Aktualität bezeichnet. Das Aktuale ist das wirklich Seiende, das Wirkende, das in irgendeiner Weise tätig ist. Jedes Wirkliche ist ja dadurch bestimmt, dass es in einer bestimmten Weise wirkt und sei es, wie bei den leblosen Dingen, einfach dadurch, dass es z.B. einem anderen Gegenstand einen Widerstand entgegensetzt. Daher lautet ein Prinzip der Philosophie, dass alles Seiende in der Tätigkeit seine Vollendung findet. Das Wort „Vollendung“ darf man hier nicht in einem pathetischen oder alltagssprachlichen Sinne verstehen, sondern einfach als das, woraufhin etwas tätig ist, dass objektive Ziel eines Seienden. Die Tätigkeit des Mondes vollendet sich in der Umdrehung um die Erde. Dies ist die (eine) Tätigkeit des Mondes.
Nun ist aber nichts sinnlich Wahrnehmbares, d.h. nichts Geschaffenes, rein aktual. Wäre dies der Fall, dann würde es sich in keinerlei Weise verändern. Doch wie wir wissen gibt es nichts Geschaffenes, das sich nicht irgendwie verändert. Doch warum würde sich etwas, das rein aktual ist, nicht verändern? Um diese Frage zu beantworten, müsste ich jetzt die ganze Theorie der Veränderung bzw. des Werdens wiederholen, wie sie im ersten Buch dieser Reihe vorgestellt wurde. Dies ist natürlich nicht besonders sinnvoll. Deshalb möchte ich das Argument hier nur kurz wiederholen. Das Argument der Veränderung bzw. des Werdens sieht folgendermaßen aus:
1. Veränderung ist der Übergang von einem Zustand A zu einem anderen Zustand B.
2. Der Zustand B ist bei Beginn der Veränderung nicht wirklich.
3. Durch die Veränderung, d.h. durch den Übergang, wird der Zustand B verwirklicht.
Wenn man dies nun mit anderen Worten ausdrückt, dann kann man sagen, der Zustand B ist zu Beginn der Veränderung potentiell vorhanden. Der Zustand A am Anfang der Veränderung ist aktual. Gäbe es hier keinen potentiellen Zustand B, würde sich A nicht verändern. Die Veränderung erfolgt gerade auf Grund der Potentialität des Zustandes B. Und man kann diesen Gedanken noch weiter führen indem man sagt: Wenn im Zustand A keinerlei Potentialität zu irgendeiner Veränderung wäre, dann würde A sich nie verändern.
Nun kann man dennoch Aktualität und Potentialität unterscheiden, denn es gibt zumindest einen realen reinen Akt. Es gibt damit etwas, was wesensmäßig völlig unveränderlich und so zugleich auch ewig ist, denn etwas, dass in keinerlei Weise wird, kann auch nicht entstanden sein, muss also folglich ewig existieren. Ein solches Seiendes, das reine Aktualität ist, ist das, was die Philosophen Gott nennen. Natürlich ist dies nicht der Gott einer bestimmten Religion, sondern der Gott, der aus rationalen Überlegungen und mit dem menschlichen Verstand erkannt werden kann und bereits von Platon und Aristoteles auch so erkannt wurde. Aristoteles kennt einen Gottesbeweis, der Jahrhunderte später von Thomas von Aquin aufgegriffen wurde, der von der Bewegung bzw. Veränderung der Sinnendinge ausgeht und zu einem ersten unbewegten Beweger, wie Aristoteles ihn nennt, führt. Dieser unbewegte Beweger ist die reine Aktualität.
Eine reine Potentialität gibt es hingegen nicht in Wirklichkeit, sondern nur logisch bzw. gedanklich. Dies lässt sich folgendermaßen verständlich machen. Reine Potentialität ist die völlige Unbestimmtheit, es ist reine Möglichkeit ohne jede wie auch immer geartete Bestimmung. So etwas kann gar nicht wirklich sein, da jedes Wirkliche irgendwie bestimmt sein muss, irgendetwas sein muss. Reine Potentialität ist aber nicht etwas; sie hat keine Farbe, keine Ausdehnung oder Größe, keine Materie oder Festigkeit oder irgendetwas, und doch ist die reine Potentialität nicht nichts. Sie ist sozusagen ein klein wenig mehr als nichts und zwar deshalb, weil sie die Möglichkeit zu etwas ist, nicht zu etwas Bestimmtem, sondern die Möglichkeit zu allem. Aus der reinen Potentialität kann alles werden, denn sie ist es, was jedem Werden und jeder Veränderung zugrunde liegt. Alles was entsteht, entsteht aus dieser reinen Potentialität, und alles was vergeht, kehrt zurück zur reinen Potentialität. Diese selbst ist aber nicht real; real ist nur das aus Aktualität und Potentialität Zusammengesetzte. Und innerhalb jeder Entität gibt es eine ganz bestimmte Potentialität und diese reale Potentialität ist zumeist gemeint, wenn man von Potenz in der aristotelisch-scholastischen Philosophie spricht. Diese wollen wir nun noch etwas genauer betrachten.
Ich werde den Sachverhalt an einem Beispiel zu erläutern versuchen. Dieses Beispiel stammt von Edward Feser (2009, 10) und ist, wie alle Beispiele in der Philosophie, mit einer gewissen Zurückhaltung zu betrachten, denn jedes Beispiel trifft den philosophischen Sachverhalt nur ungenau und analog. Philosophie ist eben keine empirische Wissenschaft, bei der man von konkreten einzelnen Fällen zu verallgemeinernden Aussagen kommt. Feser erläutert die Theorie von Akt und Potenz am Beispiel eines Gummiballs wie ihn Kinder zum Spielen verwenden. Neben den verschiedenen wirklichen oder aktualen Aspekten des Gummiballs wie seine rote Farbe, seine Kugelform, dass er hüpft, wenn man ihn auf den Boden fallen lässt, seiner Elastizität usw., gibt es verschiedene Merkmale des Gummiballs, die dieser potentiell hat. Der Ball ist potentiell z.B. blau (wenn man ihn mit dieser Farbe besprüht), er ist weich und klebrig (wenn man ihn schmilzt) und so weiter. Natürlich ist der aktuelle Gummiball nicht blau und klebrig, sondern rot, fest und elastisch, doch dies bedeutet nicht, dass der Ball all dieses nicht ist. Wenn man alles was es gibt nur in Sein und Nichts einteilt, dann kann man diese Bestimmungen des Gummiballs, die er nur potentiell oder der Möglichkeit nach hat, nicht erfassen. Deshalb gibt es neben den aktualen oder wirklichen Bestimmungen eines Gegenstandes auch potentielle Bestimmungen desselben, die nicht Nichts sind. Wenn man den Gummiball tatsächlich schmilzt, dann ist er klebrig und weich, und wenn man ihn mit blauer Farbe besprüht, dann ist er nicht mehr rot sondern blau. Doch der Gummiball ist nicht alles Mögliche andere auch potentiell. Zum Beispiel ist der rote, elastische Gummiball nicht potentiell eisern. Es gibt keine Potentialität des Gummiballs zu Eisen zu werden. Bei jeder Entität gibt es immer ganz bestimmte Potentialitäten, und nur diese sind gemeint, wenn die aristotelisch-scholastische Philosophie von Potenz oder Potenzialität spricht. Diese ganz bestimmte Potenz, die nicht nichts ist, aber auch nicht alles Denkbare oder logisch mögliche, heißt reale Potenz. Und um diese geht es uns hier vor allem.
Die reale Potenz ist eine Anlage zu etwas, eine Disposition oder eine Tendenz, die etwas hat. Wichtig ist hier noch die Anmerkung, dass diese Anlage oder Disposition, die reale Potenz, nicht durch sich selbst aktual, also wirklich wird, sondern nur durch etwas, was selbst bereits aktual ist. Die Anlage des roten Gummiballs blau zu sein wird genau dann aktualisiert, wenn jemand den Gummiball mit blauer Farbe besprüht. Dieser Jemand ist z.B. eine aktuale, eine wirkliche Person. Potenzialitäten können nur durch etwas, das aktual ist, das im Akt ist, wie die Fachterminologie lautet, aktualisiert, verwirklicht werden. Die reale Potenz ist die einzige mögliche Erklärung für die Tatsache, dass unsere Wirklichkeit fähig ist neue Bestimmungen anzunehmen, oder anders gesagt, die Potentialität in den aktualen, wirklichen Dingen ist die Erklärung für jede Veränderung in unserer Welt.
Die wichtigsten Prinzipien über Akt und Potenz finden sich im ersten Band...