1. Epidemiologie häuslicher Gewalt
Unter Gewalt lässt sich – ganz allgemein formuliert – ein Verhalten verstehen, dass einer anderen Person absichtsvoll einen Schaden zufügt. Dieser Schaden kann körperlicher und/oder psychischer Art sein. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Mechanismen der psychischen Gewaltausübung sehr sublim sein können und in ihrer Auswirkung nicht unbedingt einer direkten Beobachtung zugänglich sind wie z. B. die Folgen einer körperlichen Misshandlung, die dann etwa als blaue Flecken oder Knochenbrüche in Erscheinung treten und für jeden unmittelbar einsichtig sind. Nichtsdestoweniger sind psychische Repressalien, die z. B. darin bestehen können, einen anderen Menschen schwer zu ängstigen, als Gewaltausübung anzusehen, auch wenn sie strafrechtlich nicht unbedingt immer greifbar sind.
Aber auch die Zufügung sozialer Schäden lässt sich als eine Form der Gewalt begreifen. Zu denken ist hier z. B. an Männer, die wiederholt am Arbeitsplatz ihrer (Ex-)Partnerin auftauchen, um diese zu belästigen, beim Arbeitgeber zu denunzieren oder durch ihr Verhalten dort die Arbeitsabläufe stören. Nach Angaben von häuslicher Gewalt betroffener Frauen hat ein derartiges Verhalten ihrer (Ex-)Partner ihnen den Arbeitsplatz gekostet. Dies scheint allerdings eher in Einzelfällen zuzutreffen, es ist offenbar kein Massenphänomen.
Um das Ausmaß häuslicher Gewalt in etwa zahlenmäßig bestimmen zu können, gibt es verschiedene Zugangswege. Bundesweite Untersuchungen gehen davon aus, dass 37% der Frauen ab dem 16. Lebensjahr mindestens einmal Opfer körperlicher Gewalt wurden (Vgl. BMFSFJ 2008, S. 7). Die Gewalterfahrung ist überwiegend an Partnerbeziehungen gebunden. Mindestens jede vierte Frau (25%) im Alter von 16 bis 85 Jahren erlebte Übergriffe innerhalb der Partnerbeziehung. Knapp ein Drittel (31%) gaben an im bisherigen Leben nur eine Gewaltsituation erlebt zu haben. 36% erlebten zwei bis zehn gewalttätige Auseinandersetzungen und 33% berichteten von zehn bis 40 derartigen Zwischenfällen (Vgl. BMFSFJ 2008, S. 8). Mit anderen Worten: Gewalt ist vielfach ein chronisches Leiden; egal ob man es von der Seite des Opfers oder des Täters betrachtet.
Eine EU-weite Untersuchung, veröffentlicht im Jahre 2014, besagt, dass 22% der Frauen ab dem 15. Lebensjahr körperliche und/oder sexuelle Gewalt durch einen derzeitigen oder früheren Partner erfahren haben. Nimmt man noch die Kategorie „andere Person“ hinzu, so steigt der Wert auf 35% (Vgl. Agentur d. Europäischen Union f. Grundrechte 2014, S. 19).
Gefragt wurde ebenfalls nach Gewalterfahrungen vor dem 15. Lebensjahr. 37% der Frauen berichteten von ausschließlich körperlicher Gewalt, 13% von ausschließlich sexueller Gewalt und 42% berichteten von körperlicher oder sexueller Gewalt. (Ders. a. a. O., S. 34)
Ein differenzierteres Bild darüber, wer wann welche Art von Gewalt ausübt, ergibt sich, wenn man Täter und Opfer nach schulischem und beruflichem Bildungsgrad unterscheidet.
„Alles in allem verweist die Analyse darauf, dass das Nichtvorhandensein von Bildungs- und Ausbildungsressourcen ein relevanter Risikofaktor für erhöhte Gewaltbelastungen von Frauen in Paarbeziehungen, insbesondere bei jüngeren Frauen in der regenerativen Phase, sein kann, dass aber eine höhere Bildung und Ausbildung gegenüber mittleren und geringen Bildungsgraden nicht generell das Risiko von (schwerer) Gewalt durch Partner vermindert.“ (BMFSFJ 2014, S. 30) Hier wird ein Ursachenbündel für häusliche Gewalt angedeutet, dass sich vermutlich, zumindest teilweise, in fataler Weise verstärkt. Die regenerative Phase ist mit dem Ausbildungsabschluss, der Paarbildung, der Wohnsitzbildung, der Kinderaufsucht spezifischen Belastungen in kurzer Folge oder gar gleichzeitig ausgesetzt, was oft Konflikte provoziert. Ein fehlender Schul- und Ausbildungsabschluss lässt vermuten, dass diese jungen Frauen unter schwierigen sozialen Bedingungen sozialisiert wurden. Das heißt wiederum auch, dass sie wahrscheinlich diverse Schädigungen ihres Selbstgefühls erlitten haben. Damit sind sie für konflikthafte Auseinandersetzungen in der Partnerschaft vergleichsweise schlecht gerüstet. Dies soll an dieser Stelle aber nicht weiter ausgeführt werden. Hier sei auf die Ausführungen Schmidbauers im dritten Kapitel Psychoanalytisches Erklärungsmodell für häusliche Gewalt verwiesen. Aber auch wenn Frauen über eine höhere Bildung, teilweise auch höher als die ihrer Partner verfügen, sind sie besonderen Risiken ausgesetzt. „Männer mit höherer Bildung übten vor allem dann häufiger schwere Gewalt aus, wenn die Partnerin ihnen hinsichtlich der Bildung gleichwertig oder überlegen und nicht unterlegen war.“ (BMFSFJ 2014, S. 31) Dann zieht die Studie eine Schlussfolgerung, die wir so nicht ziehen würden: „Insofern spielen auch Fragen von Bildungsangleichung und Bildungsdiskrepanzen zwischen den Geschlechtern eine maßgebliche Rolle bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von (schwerer) Gewalt in Paarbeziehungen.“ (BMFSFJ 2014, S. 31) Unserer Erfahrung nach sehen sich Männer einem erhöhten Kränkbarkeitsrisiko ausgesetzt, wenn sie auf eine Partnerin treffen, die ihnen an Ausdrucksund Verbalisationsfähigkeit gleichwertig oder überlegen ist. Im Streitfalle haben sie schnell das Gefühl, ins Hintertreffen zu geraten. Wenn ihnen die Argumente ausgehen oder sie den Eindruck haben, dass sie ihnen im Munde umgedreht werden, werden schnell Gefühle von Ohnmacht und Hilflosigkeit provoziert, die die Männer nur sehr schwer oder gar nicht aushalten können. Gewalttätiges Verhalten bekommt dann die Funktion der Gefühlsregulation. Durch den Gewaltakt wird das Gefühl der Ohnmacht in das der Macht gewandelt. Diese Dynamik findet sich nicht nur bei gebildeten Paaren, sondern ist sie auch bei weniger gebildeten vorhanden. Voraussetzung scheint allerdings ein Gefälle der Kommunikationskompetenz zu Ungunsten des Mannes zu sein.
So wie relativ ungebildete junge Frauen einem erhöhten Risiko der Gewalterfahrung ausgesetzt sind, trifft dies umgekehrt auch für Männer zu, die dann die Täterrolle einnehmen. „Ansonsten übten vor allem Männer, die über keine Schulabschlüsse verfügten (14%) und/oder keinen qualifizierten Ausbildungsabschluss hatten (9%), tendenziell häufiger schwere bis sehr schwere körperliche und/oder sexuelle Gewalt gegen die Partnerin aus, wobei diese Anteile bei Männern, die beides – keinen Schul- und keinen qualifizierten Ausbildungsabschluss – hatten, deutlich am höchsten lagen: Von diesen hatte jeder sechste (18%) schwere körperliche Gewalthandlungen oder sexuelle Gewalt gegen die aktuelle Partnerin verübt.“ (BMFSFJ 2014, S. 31) Männer mit geringem Bildungsniveau scheinen auch in erhöhtem Maße psychische Gewalt auszuüben. „Bemerkenswert ist auch unabhängig von körperlicher/sexueller Gewalt die hohe Neigung von Männern ohne Schul- und Berufsabschlüsse, mäßige bis sehr schwere psychische Gewalt gegen die Partnerin zu verüben (45% vs. 15-18% bei den anderen Befragungsgruppen).“ (BMFSFJ 2014, S. 31) Was ist hier der vermutlich ursächliche Faktor? Vieles spricht dafür, dass psychisch erheblich gestörte Männer schon in der Schule bzw. in der Berufsausbildung über massive Schwierigkeiten verfügten, deren Resultat mangende Bildungs- und Berufsabschlüsse sind. Im Sinne eines Rückkopplungsprozesses vermag dieses frühe Versagen wiederum das Selbstwertgefühl zu beeinträchtigen. Diese psychisch beeinträchtigten Männer neigen offenbar bei Partnerschaftskonflikten überproportional zu gewaltförmigen Konfliktlösungsmustern.
Häusliche Gewalt gegen Migrantinnen ist in den Untersuchungen und Statistiken überrepräsentiert. Gleichzeitig treten hier zum Teil besondere Schwierigkeiten auf, wenn es darum geht, Hilfsangebote zu platzieren. Zum einen ist hier die Sprachbarriere zu nennen, zum anderen sind gerade muslimische Frauen noch ganz anders in ihre Familie eingebunden und gegen die bundesrepublikanische Gesellschaft abgeschottet. Problemlösungen für Paarkonflikte werden weniger von außen erwartet und zugelassen, sondern vielmehr innerhalb der Community angestrebt. Für Frauen, die ihre Männer nach Gewaltakten verlassen, besteht immer das Risiko, dass sie den Anschluss an ihre Community verlieren, quasi ausgeschlossen werden und aber auf der anderen Seite auch nicht wirklich in die deutsche Gesellschaft integriert sind (Vgl. Müller/Bohne 2015). Zugleich wäre hier zu fragen, ohne damit in rassistische Stereotype zu verfallen, ob bestimmte Gesellschaften partnerschaftliche Gewalt, genauer, männliche Gewalt gegenüber Frauen, eher legitimieren als westliche geprägte Demokratien. Zu vermuten ist, dass insbesondere in Ländern, die seit Jahrzehnten oder gar Jahrhunderten autoritär regiert werden, sich auch entsprechende Herrschaftsmuster in den zwischenmenschlichen Beziehungen finden, egal ob man das Verhältnis zwischen Mann und Frau oder zwischen Eltern und Kindern...