Kapitel 2
Die schädlichen Angstabwehrmechanismen
Warum es notwendig ist, sich mit den Angstabwehrmechanismen auseinanderzusetzen
Die Angst ist wie jedes andere Gefühl als Erfahrung real. Wenn Sie versuchen, vor der Erfahrung zu flüchten oder sie zu verdrängen, dann wird sie Sie immer wieder einholen. Die Lösung liegt vielmehr in der Kontaktaufnahme mit dem Gefühl der Angst. Denn wer Angst vor der Angst hat, wird die Angst niemals verlieren.
Im Kapitel 1 haben Sie bereits erfahren: Für den Menschen unangenehme Einflüsse bringen das Bewußtsein in einen Zustand der Angst, der durch Unordnung, das heißt durch unterschiedliche Grade des Chaos charakterisiert ist. Die Aufgabe eines jeden Menschen ist es, dieses Chaos im Bewußtsein durch Flow-Prozesse wieder in Ordnungszustände umzuwandeln. Das tun Sie dann, wenn Sie mit den kleinen und großen angstauslösenden Herausforderungen des Lebens richtig umgehen. Die Angst besitzt Aufforderungscharakter und soll Sie dazu veranlassen, sich der Realität zu stellen.
Es ist wichtig, die Angst zu spüren und sich nicht selbst zu verurteilen, weil Sie Angst haben. Natürlich lesen sich diese Zeilen leichter, als es tatsächlich ist, doch wollen Sie ihre Lebendigkeit zulassen und erfahren, dann scheuen Sie nicht vor der Wahrnehmung des Angstgefühls zurück.
Zunächst ist es notwendig, sich mit den Bemühungen zu beschäftigen, mit denen Menschen ihre Ängste abwehren und ihrer Wahrnehmung aus dem Wege gehen. Nicht die normale Angst führt in die seelische Krankheit, sondern die Art und Weise der Angstbewältigung. Wird mit der Angst nicht richtig umgegangen – also Angstabwehrmechanismen angewandt – führt das zur Erkrankung von Körper, Seele und Geist.
Jeder praktiziert die Angstabwehrmechanismen individuell. Der eine tendiert mehr zur Rationalisierung, der andere mehr zur Projektion. Nicht selten wendet jemand alle Angstabwehrmechanismen an, von denen wiederum einige häufiger praktiziert werden. Die verschiedenen Angstabwehrmechanismen sind eng miteinander verbunden und treten im wechselseitigen Zusammenspiel auf.
Werden die Angstabwehrmechanismen nicht zu häufig angewandt, so halten sich die negativen Auswirkungen in Grenzen. In jedem Fall engen sie aber das Leben jedes Menschen ein.
Die Angstabwehrmechanismen sind Verhaltensweisen, um mit der Wirklichkeit „besser“ zurecht zu kommen. Sie führen jedoch von der Realität fort, wie Sie noch sehen werden. Verliert der Mensch die Kontrolle über die Abwehrmechanismen, so führt das im Extremfall bis zur Neurose und Psychose. Die Angstabwehrmechanismen erscheinen dem Anwender wie eine List, mit der Angst und der Realität geschickter und erfolgsgerechter umgehen zu können. Sie lösen aber jeden aus dem Kontakt mit der Wirklichkeit und führen zum Selbstbetrug.
Das Kapitel will Ihnen helfen, Ihre individuellen Angstabwehrmechanismen zu erkennen. Vermögen Sie Ihre eigenen Angstabwehrmechanismen zu durchschauen, können Sie sich auch davon distanzieren.
Identifizierung
Die Identifizierung stellt eine der Abwehrmechanismen dar, mit denen Ängste verdrängt werden. Freud hat zum Verständnis dieses Mechanismus das Drei-Instanzen-Modell entwickelt.
Auf das Ich wirkt das Es, das den Triebbereich mit dem Sexualtrieb darstellt. Nach Freud besitzt das Kind zunächst ein Es und noch kein Über-Ich. Durch Gebote werden dem Kind moralische Wertvorstellungen und Normen vermittelt. Aus Angst vor einer Strafe übernimmt das Kind die Normen der Autoritäten. Durch die Identifizierung mit den Normen der Autoritäten entwickelt sich das Über-Ich.
Wird der Einfluß des Über-Ichs auf das Ich sehr groß, so führt dies zu einer zwangshaften Anpassung.
Bild 13: Das Drei-Instanzen-Modell nach Freud
Leider ist den wenigsten Menschen bewußt, daß sie sich, um die Angst vor einer Strafe abzuwenden, mit den Forderungen der Autoritäten identifizieren. So geben Kinder Bedrohungen weiter oder verdrängen ihre Angst vor Gespenstern, indem sie in beiden Fällen selbst den Bedroher spielen. Auch Erwachsene verfahren nach dem Sündenbockprinzip. Sie wehren sich nicht gegen den Bedroher und geben Frustrationen einfach weiter, indem sie sich mit dem Frustrationsverursacher identifizieren.
Verdrängung
Die Verdrängung ist der häufigste Abwehrmechanismus, der sowohl von seelisch gesunden als auch seelisch kranken Menschen gegen die Angst angewandt wird. Ein Wunsch, der aus dem Es entspringt, wird vom Über-Ich nicht erlaubt und ins Unterbewußtsein verdrängt. Um die Verdrängung im Unterbewußtsein aufrechtzuerhalten, wird viel Energie benötigt.
Verdrängungen gibt es zum Beispiel dann, wenn die Selbstbehauptung gegenüber Autoritäten Angstgefühle erzeugt. Meist wird auch eine unangenehme Wahrheit verdrängt, die Angst auslöst. Solche Verdrängungen können in bestimmten Situationen oder bei gewissen Reizen Spannungen auslösen und beeinflussen in einem großen Umfang die Entscheidungen, selbst wenn sich der Mensch keiner Angst bewußt ist.
Besonders in der Kindheit versucht der Mensch, das Bewußtsein der Angst durch Verdrängungen abzuwehren. Viele Verdrängungen werden im Traumgeschehen lebendig. Daher eignet sich die Traumdeutung neben der Meditation dazu, mehr über die eigenen Verdrängungen zu erfahren, die ein großes Problem unserer Zeit darstellen. Viele Menschen wollen einfach nicht zur Kenntnis nehmen, daß pro Woche in den Entwicklungsländern etwa 200 000 Kinder an Hunger und mangelnder medizinischer Versorgung sterben. Sie verdrängen die Abholzung des Regenwaldes, die unweigerlich zur Klimakatastrophe führt. Solche Menschen sind stolz auf ihre angebliche psychische Stabilität, die sie jedoch mit einem massiven Verdrängungsprozeß verwechseln.
Projektion
Die Projektion bezeichnet einen Abwehrmechanismus, der eng mit der Verdrängung verbunden ist. Die ins Unterbewußtsein verdrängten Inhalte werden auf andere Menschen projiziert, um sich nicht selbst damit auseinandersetzen zu müssen.
Bei der Projektion wird die Wirklichkeit verzerrt. So bringt die Angst vor Ablehnung den Ängstlichen dazu, den Kontaktfreudigen als jemanden anzusehen, der sich jedem anbiedert.
Projektionen spielen immer dann eine Rolle, wenn der Selbsterkenntnis aus dem Weg gegangen wird. So projizieren Eltern oft ihr eigenes Fehlverhalten auf die Kinder. Und nicht wenige Erwachsene wollen sich von eigenen Fehlern dadurch entlasten, daß sie ein Sündenregister ihrer Eltern konstruieren.
Während Stimmungsprojektionen harmloser Art sind, führen Projektionen, die auf Verdrängungen beruhen, zur erheblichen Verzerrung und Täuschung der Wirklichkeit. Wenn Sie eine Verdrängung unterlassen, brauchen Sie sie nicht auf Ihre Mitmenschen projizieren, um sie auf diese Weise zu bekämpfen.
Verschiebung der Symptombildung
Beim Prozeß der Verschiebung verlagert der Mensch seine Energien auf ein Ersatzziel, da das Erreichen des eigentlichen Zieles nicht möglich erscheint. Wer zum Beispiel keinen beruflichen Aufstieg bewerkstelligen kann, versucht im Verein eine führende Rolle einzunehmen. Viele Menschen unterdrücken ihre Sehnsucht nach Erlebnissen und Abenteuern, da die Umwelt Konformität und Normverhalten fordert. Deshalb wird das Bedürfnis nach Erlebnissen auf Ersatzerlebnisse verschoben, die Fernsehen, Filme und Romane liefern. Hinter dem Prozeß der Verschiebung steht die Angst vor der Entfaltung des individuellen Lebens, die für die meisten Menschen bestimmend ist. Und so dient auch dieser Mechanismus der Angstbewältigung.
Wer seine Frustration nicht nach außen lenkt und sie verdrängt, richtet sie gegen sich selbst und seine Organe, und es entwickeln sich Symptome wie Kopfschmerzen, Herzstiche, Herzrhythmusstörungen, niedriger und hoher Blutdruck, Muskelverspannungen, Magen- und Darmgeschwüre, Kreislauf- und Schlafstörungen. Zu diesen Symptomen kommen noch psychische Symptome hinzu wie innere Spannungen, Reizbarkeit und depressive Stimmung. Die meisten Ärzte versuchen, die Symptome mit Psychopharmaka zu behandeln, oder geben den Rat: „Treiben Sie Sport.“
Da viele Menschen sich nicht mit ihren Verschiebungen auseinandersetzen und sie auch nicht als psychisch verursacht begreifen wollen, sind ihnen die chemischen Therapien der Ärzte durchaus recht.
Die Symptombildung ist ein Mechanismus, der dem Willen nicht zugänglich ist; um sie zu vermeiden, ist ein Lenken der Frustration nach außen gewiß vorzuziehen. Wenn die Auseinandersetzung mit dem Frustrationsauslöser nicht möglich ist oder auch andere Umstände dagegen sprechen, empfiehlt sich eine Umsetzung der aggressiven Energien im Sport. Auch durch ein Engagement in Gruppen, die auf friedvolle Weise gegen Mißstände kämpfen, kann die Frustration in eine sinnvolle Richtung gelenkt werden.
Reaktionsbildung
Die Reaktionsbildung unterdrückt Wahrheiten, die einen ängstigen, und verkehrt sie uns ins Gegenteil, da das Über-Ich die Wahrheit nicht zuläßt.
Dazu ein Beispiel: Eine Angestellte hatte sich über ihre Chefin schon wiederholt geärgert, da sie ihr mehr Arbeit zuteilte als den anderen Mitarbeitern. Ihr strenges Über-Ich duldet die Wut und den Haß nicht. Die Moralvorstellung des Über-Ichs lautet: „Du mußt ein guter Mensch sein. Ein guter Mensch ist nicht wütend und haßerfüllt.“ Die Reaktion auf den nicht erlaubten Haß ist vorgetäuschte Freundlichkeit. Sie ist gekennzeichnet durch ihre Übertriebenheit und wird auch daran als aufgesetzt erkannt.
Vermeidung
Die einfachste und häufigste Methode, die Angst abzuwehren, besteht darin, die angsterregenden Umstände zu vermeiden. Die Vermeidung kann auch unbewußt erfolgen. Hier merkt der Mensch...