Das Verhängnis einer optischen Täuschung
Es war am Abend des 10. November 2014. Die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, deren Direktor ich zum damaligen Zeitpunkt war, hatte Rupert Neudeck eingeladen. Er beteiligte sich an einer öffentlichen Diskussion. Und es war wie immer: Er, der Begründer von Cap Anamur, dieser großartige Mensch, brachte die notwendige Würze ins Gespräch. Er blieb bescheiden, zurückhaltend, relativierend. Jeder Mensch, so Neudeck, auch der, der über keinen Zugang zu religiösen Ideen und Emotionen verfüge, besitze eine ihm innewohnende Vorstellung von dem, was Gut und Böse sei. In jedem Menschen wohne die Mitmenschlichkeit. Die radikale Humanität – eben das, was wir Menschen brauchen und seien – sei sowohl religiös als auch areligiös begründbar und vorhanden. Nach der Veranstaltung und einem gemeinsamen Essen im »Augustiner« an der Frauenkirche traten er und ich – wir befanden uns im Zentrum Dresdens – auf den Neumarkt und standen unvermittelt vor einer mehrere Tausend Menschen umfassenden Menge. Wir sahen Deutschlandfahnen. Wir hörten laute Rufe. Wir identifizierten leuchtende Punkte, die mit den in die Höhe gestreckten Armen kreisten – eingeschaltete Handys, die von Hunderten in den abendlichen Himmel gehalten wurden und mit ihrem Eigenlicht zirkulierende Bewegungen erzeugten. »Das ist ja wie im Nationalsozialismus«, entfuhr es Rupert Neudeck. »Das sind die gleichen Bilder. Das sind die gleichen Symbole.« Das sei der gleiche Irrtum wie damals. Das sei die verhängnisvolle Idee, sozialer Zusammenhalt ließe sich allein national organisieren, fügte er sinngemäß hinzu. Seine Worte beeindruckten mich. Rupert Neudeck gehört einer Generation an, die in der Lage ist, Vergleiche anzustellen auf der Grundlage eigener Erinnerungen. Als er sich von mir verabschiedet hatte, ging ich zu den Organisatoren der Demonstration. Ich fragte sie, was sie, was PEGIDA, die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« unter »Abendland« verstünden. Die Antworten, die ich erhielt, blieben in ihrer Aussage äußerst bescheiden und diffus. Ich tappte in diesem Moment in die Falle der Phänomenologie, in eine Falle, in der im November 2014 viele landeten. Viele Politiker und viele Journalisten. Ich hielt die in Augenschein genommene Demonstration für eine rechtsextremistische Angelegenheit. Ich sah lauter Neonazis – diesmal in verändertem Outfit –, und ich täuschte mich!8 Ich übersah, dass sich Tausende Menschen aus sehr verschiedenen Gründen versammelt hatten. Ich übersah, dass sich unter ihnen viele befanden, die von ernsten politischen Problemen auf die Straße getrieben worden waren. Sicher, ein Teil der von der Bühne herab gehaltenen Reden hatte meinen ersten Verdacht bestätigt. Ich habe mich oft gefragt, ob sie nicht den Straftatbestand der Volksverhetzung erfüllten.
Vom November bis zum Dezember 2014 wuchsen die Demonstrationen kontinuierlich an. Montag für Montag zogen Zehntausende Menschen schweigend durch Dresden. Sie lehnten das Gespräch mit Vertretern der Medien und der Politik rigoros ab. Sie signalisierten, das Vertrauen ins »System« verloren zu haben. Am Scheitelpunkt PEGIDAS – am 12. Januar 2015 – waren es 25.000 Menschen. Damals befürchteten nicht nur ich, sondern viele Verantwortliche in der Politik, der Gesellschaft und der Kultur Dresdens eine zunehmende Radikalisierung und Gewaltbereitschaft. Sie waren sich einig, alles Mögliche versuchen zu müssen, um die trotzig Demonstrierenden zum Gespräch zu bewegen. Die pauschalen Beschimpfungen: »Neonazis in Nadelstreifen« (Ralf Jäger, Innenminister von NRW, am 11. 12. 2014),9 »Komische Mischpoke« (Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, am 14. 12. 2014), »Schande für Deutschland« (Heiko Maas, Bundesjustizminister, am 15. 12. 2014) und »Hass in deren Herzen« (Angela Merkel, Bundeskanzlerin, am 1. 1. 2015) konterkarierten diese Versuche grandios. Sie wurden von den Organisatoren von PEGIDA dankbar entgegengenommen. Die kardiologische Ferndiagnose der Kanzlerin war besonders verhängnisvoll. Wer hat sie beraten? Eines hätte man doch wissen können und bedenken müssen: Im kollektiven Gedächtnis der Dresdner spielt der 19. Dezember 1989 eine herausragende Rolle. Bundeskanzler Helmut Kohl war in die Stadt gekommen und hatte Gespräche unter anderem mit Hans Modrow, dem Ministerpräsidenten der DDR, geführt. Als Helmut Kohl in den frühen Abendstunden zu einer Rede an die Ruine der Frauenkirche kam, wurde er von schätzungsweise 60.000 Menschen begrüßt. Diese trugen Hunderte Deutschlandfahnen mit sich, riefen nach der Einheit Deutschlands und feierten den Bundeskanzler. Helmut Kohl selbst hat dieses Ereignis als Wendepunkt seiner politischen Lagebeurteilung bezeichnet. An diesem 19. Dezember in Dresden sei ihm klar geworden, dass die Einheit Deutschlands schneller kommen würde als gedacht beziehungsweise politisch durch nichts aufzuhalten sei. Als Tausende Dresdner im Dezember 2014 erneut wiederum in den Abendstunden und vor der inzwischen wiederaufgebauten Frauenkirche demonstrierten und Deutschlandfahnen schwenkten, wurden sie mit einer nahezu einhelligen Generalkritik überschüttet. Obwohl sie äußerlich das Gleiche taten, was sie 1989 in der Gegenwart des Bundeskanzlers schon einmal getan hatten und was fünfundzwanzig Jahre lang als großartiges und herausragendes Ereignis der deutschen Nachkriegsgeschichte beschrieben worden war, wurden sie nun von prominenten Politikern – meist westdeutscher Provenienz – und von zahlreichen Medien abgestempelt als Nationalisten, Neonazis, Islamfeinde et cetera und in toto in die rechte politische Ecke gestellt. In dieser Phase des Aufkommens von PEGIDA hätte es einer genauen Betrachtung und einer differenzierten politischen Antwort bedurft. Es stimmt, dass es auch schon in dieser frühen Phase von PEGIDA hetzerische Ansprachen und rechtsextremistische Ausfälle gab. Diese gingen von einzelnen Rednern aus, nicht von der Gesamtheit der Demonstranten. Dass sie allesamt als rechte Scharfmacher und Strippenzieher betrachtet und in der Kritik über einen Kamm geschoren wurden, war falsch. Dass die etablierten demokratischen Parteien nicht nach den möglicherweise ernsten Problemen und berechtigten Anliegen der Demonstranten fragten, sondern diese entweder ignorierten oder diffamierten, war verhängnisvoll. Die richtigen Leute gerieten in die falschen Hände. Wenn sich Zehntausende Dresdner 1989 von dem aus Westdeutschland kommenden Helmut Kohl verstanden gefühlt hatten, so fühlten sie sich nun von der aus Ostdeutschland stammenden Angela Merkel nicht nur nicht verstanden. Sie fühlten sich von ihr abgekanzelt. Dass sie für viele Menschen im Osten – insbesondere in Dresden – regelrecht zum Hassobjekt und zur Projektionsfläche von Empörung wurde – was weder gerechtfertigt noch hinnehmbar ist –, hat in diesem Vorgang seine Wurzel. Es hat viel zu tun mit ihrer Herkunft und mit verschmähter Liebe. Wie hätte die Einlassung der sorgend und mütterlich dargestellten Bundeskanzlerin am 1. 1. 2015 lauten müssen? Hans-Joachim Maaz, der bekannte Hallenser Psychoanalytiker, hat diese Frage in einer öffentlichen Veranstaltung wie folgt beantwortet: »Ich, die Bundeskanzlerin, mache mir Sorgen und stelle mir die Frage, warum so viele Menschen auf den Straßen demonstrieren und unserer politischen Ordnung misstrauen. Wir sollten niemanden vorschnell in die rechte Ecke stellen und im offenen Gespräch nach den Ursachen fragen.«
Am 3. Dezember 2014 veranstaltete die Landeszentrale in Dresden eine öffentliche Diskussion zu der Frage: »Wie verteidigen wir das Abendland?« Die hinter der Formulierung steckende Idee bestand darin, den von PEGIDA verwendeten Begriff aufzunehmen, die Demonstranten für eine seriöse Beschäftigung zu gewinnen und dazu beizutragen, die zu diesem Zeitpunkt vorhandene Gesprächsblockade aufzulösen. Zur Veranstaltung kamen mehr als zweihundert Personen. Der Saal war zu klein; viele mussten abgewiesen werden.
Am 6. Januar 2015 folgte eine weitere Diskussionsveranstaltung; auch diese war überfüllt. Wir – damit meine ich meine damaligen Kollegen von der Landeszentrale und mich – beobachteten ein stetig wachsendes Interesse, das mittlerweile auch von den Medien geteilt wurde. Die vorgetragenen Probleme spiegelten einen immensen Problem- und Gefühlsstau, der sich offenbar über lange Zeit entwickelt hatte. Genannt wurden unter anderem ein generalisierendes Unbehagen über »die« Politik und »die« Politiker, die nicht in der Lage seien, die sozialen Probleme konstruktiv zu lösen, und ohnehin von »der« Wirtschaft beziehungsweise »den« Lobbyisten abhängig und gekauft seien. Immer wieder artikuliert wurde die Angst vor einer unkontrollierten Zuwanderung von Menschen anderer Kulturen und Religionen. Die Zusammenhänge zwischen deutschen Rüstungsexporten, ausbrechenden Kriegen und den sich anschließenden Flüchtlingsbewegungen wurden dargelegt und nachgezeichnet. Einige Teilnehmer kritisierten die »völlig verfehlte Entwicklungspolitik«. Viele äußerten ihren Protest dagegen, von Politikern mit Arroganz behandelt zu werden. Im Kontext von Formulierungen wie »Die reden nicht mit uns, und wenn überhaupt, dann nur von oben herab« und »Wenn wir nicht einverstanden sind, erklären sie uns die Dinge ein zweites Mal, im Grundton der Herablassung, wie Oberlehrer es mit verstockten Kindern zu tun pflegen« wurde auch erkennbar, dass...