Schönen Gruß vom Getriebe | FAMILIE |
Wir waren eine richtige Familie. Damals, als es fast nur richtige Familien gab. Mal abgesehen von der alten Frau Schilling im Haus, einer Witwe, die familienlos war. Oder von den Seewalds, die im Erdgeschoss wohnten, keine Kinder hatten und Ölbilder malten. Wir waren eine Familie, mit Vater und Mutter, die 1952 jung geheiratet hatten. Dass sie das auch taten, weil mein Bruder »unterwegs« war, ließ sich selbst mit bescheidenen Rechenkünsten ermitteln. Wenn wir meine Mutter darauf ansprachen, errötete sie, lachte verlegen und versuchte zu meinem Leidwesen rasch das Thema zu wechseln. Immerhin, so hieß es, sei Vater, gebürtiger Oberpfälzer, ein fescher Bursch gewesen. Die Krabbelkiste mit den Familienfotos – Anlass für Erinnerungsabende, die von den Teilnehmern unterschiedlich stark genossen wurden – belegte es: Man sah Vater als schneidigen, gut gebauten Feldhandballer, der auf Geselligkeiten in Neusäß, wo sich meine Eltern kennengelernt hatten, gekonnt das Tanzbein geschwungen und herumpoussiert habe. Das deutete zumindest die Verwandtschaft an. Auch darüber wurde nie ausführlich gesprochen.
Vater als Handballer [1]
Vater und Mutter, das waren die Eltern, daran gab es nichts zu rütteln. Dass Ehen auseinandergehen und Kinder zu Scheidungsopfern werden, kannte ich nur vom Hörensagen oder aus der Zeitung, Elizabeth Taylor zum Beispiel, doch die zählte nicht zu unserem Bekanntenkreis. Schlüsselkinder hingegen gab es, bemitleidenswerte Geschöpfe, deren Eltern beide arbeiteten, weil sonst das Geld nicht gereicht hätte. Meine Frau braucht nicht zu arbeiten, pflegte Vater zu sagen. Ein Satz, den er mit der Genugtuung des Ernährers intonierte. Meine Mutter kommentierte ihn nicht. Jahre später, als wir Kinder aus dem Haus waren, setzte sich Mutter durch und begann wieder zu arbeiten. Es dauerte eine Weile, bis Vater aus dieser Not eine Tugend machte und die Berufstätigkeit seiner Frau mit verhaltenem Stolz erwähnte. Den Führerschein machte Mutter in den Siebzigerjahren, heimlich. Bis sie beim Mittagessen das graue Dokument neben Vaters Teller legte, triumphierend.
Auf Familienfahrten fuhr dennoch Vater. Neben seiner ungeübten, zu spät und ruppig schaltenden Frau – schönen Gruß vom Getriebe! – auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen hätte ihm stark zugesetzt. Dieses heftige Mitbremsen, dieses verkrampfte Sich-Festhalten an der Handschlaufe, dieses »Pass auf, da vorne kommt einer!«.
Wie kann man nur so unmusikalisch sein! | MUSIK |
Vater sang gut. Eine Familienfeierlichkeit ohne seinen Auftritt war undenkbar. Angefeuert von einem Hammer Jubelbrand oder einem Scharlachberg, ließ es sich Vater nicht nehmen, Rudi Schurickes »Capri-Fischer« zu intonieren. Unentwegt diese Italiener, die unentwegt aufs Meer hinausfuhren, die untergehende rote Sonne und eine Bella Marie, zu der der Fischer zurückkommt, morgen früh. Mir waren diese Auftritte peinlich. Zu wissen, dass Vater gleich wieder singen würde, weckte den Wunsch, von der Familie abzurücken. Überhaupt veränderte sich die Stimmung, wenn Alkohol im Spiel war. Die Erwachsenen ereiferten sich, hatten rote Backen, erzählten Witze und benahmen sich anders als sonst, so, als bräche aus ihnen heraus, was im Alltag sorgsam verborgen blieb. Schneidender Zigarettenrauch hing über den Holztischen; das Bier stand schaumlos in dickwandigen, gefurchten Gläsern, und wenn ich an solchen Abenden endlich im Bett lag, hoffte ich inständig, dass am nächsten Morgen alles wieder wäre wie vorher.
Ich sang schlecht und vermied es, mit musikalischer Früherziehung in Berührung zu kommen. Mein Bruder musste als Erstgeborener mehr über sich ergehen lassen. Selbst in einem Nicht-Bildungsbürger-Haushalt galt es als erstrebenswert, ein Musikinstrument zu beherrschen. Mit der hellbraunen Blockflöte nahm es seinen Anfang, und dabei blieb es auch, denn die eingeschränkte Begabung meines Bruders war so ohrenfällig, dass seine Unterweisung bald eingestellt wurde. Wie kann man nur so unmusikalisch sein! Ich erinnere mich nicht, ernsthaft mit einer Flöte hantiert zu haben. Überhaupt waren Flöten unattraktiv und etwas für Mädchen. Selbst Gheorghe Zamfir, der später die elegante Panflöte salonfähig machte, änderte daran nichts. Außerdem war der Ausländer, kam vom Balkan oder so, und diesen Menschen lag die Musikalität im Blut, wie den Zigeunern.
Gut, dass wir da nicht wohnen | FAMILIE |
Mit drei Kindern galten wir als klassisch bestückte Familie. Mehr Kinder zu haben, das kam bei Pfarrers vor oder in Familien, die asozial waren. Ein Wort, in dem tiefe Missbilligung mitschwang. Mit asozialen Verhältnissen wollten wir nichts zu tun haben, das klang nach verwahrlost, schmutzig, arm und vom Kriminellen nicht weit entfernt. Davon hielten wir uns abseits. Bestimmte Stadtteile wiesen einen hohen Asozialenanteil auf, unserer nicht. Gut, dass wir da nicht wohnen.
Eine gut gekleidete Familie [2]
Ungewöhnlich an unserer Familie war nur, dass wir Geschwister in großen Abständen zur Welt gekommen waren. Jeweils mit gut fünfeinhalb Jahren Unterschied. Ich war das Mittelkind – ein Ausdruck wie Mittelklassewagen. Mittelkinder hatten es, wie ich später erfuhr, selten leicht: kein Anrecht auf die Thronfolge und auch nicht das verhätschelte Nesthäkchen. Als Mittelkind läuft man mit, fällt nicht auf, ist nichts Besonderes.
Alte Reichsstadt, junge Großstadt | ORTE |
Heilbronn kämpfte lange darum, Großstadt zu werden, zahlenmäßig. Mit Eingemeindungen gelang es schließlich, die Schallmauer von 100 000 Einwohnern zu durchbrechen: »Alte Reichsstadt, junge Großstadt« hieß es danach. Wenn man in Heilbronn aufwuchs, machte man sich wenig Gedanken darüber, ob es anderswo aufregender wäre. Heilbronn lag irgendwo zwischen allem, kein richtiges Schwaben, auch nicht Baden oder Hohenlohe. »Zentrum der Region Franken«, dieser Slogan erschien mir unsinnig. Franken, wusste ich, das war Nürnberg oder Bamberg, wo man das »r« rollte. Heilbronn, gebeutelt durch die Bombenangriffe vom Dezember 1944, wurde aufgebaut, wie man es damals für zweckmäßig hielt: mit der Horten-Kaufhausfassade als Fluchtpunkt, mit einer flachen Festhalle namens Harmonie, einem Betonverhau namens Wollhaus-Center, dem Shopping-Haus, das dubiose Etablissements beherbergte, ein immerhin so reizloses Gebäude, dass man sich ungesehen in den ersten Stock schleichen konnte, um die Ankündigungsfotos von »Lass jucken, Kumpel« zu prüfen. Heilbronn galt nicht viel. Wenn man erzählte, dass man von dort komme, machte das nur Eindruck bei solchen, die es noch schlimmer erwischt hatten, Bielefeldern, Wolfsburgern. Gestört hat mich das nicht: Wir lebten eben in Heilbronn; das kannte ich, da gehörte ich hin. Auf Urlaubsfahrten winkten wir Autos mit HN-Kennzeichen zu, kaum dass wir hinterm Drackensteiner Hang waren. Je ferner man der Heimat kam, desto dringlicher mein Bedürfnis, sich zu ihr zu bekennen. Einen Unterschied merkte man erst, wenn man nach München kam, in Stuttgart weniger. Oft fuhren wir nicht in größere Städte. Warum auch.
Heilbronner Reize:Tankstelle an der Weinsberger Straße [3]
Wählt Dr. Nägele | POLITIK & GESELLSCHAFT |
Früh übte ich mich im Wahlkampf und versuchte die Heilbronner Oberbürgermeisterwahlen zu beeinflussen. 1967 schrieb ich »Wählt Dr. Nägele« mit weißer Kreide auf die Gehwege in der Schillerstraße. Warum? Weil sein Gegenkandidat Hoffmann aus dem benachbarten Neckarsulm kam? Meinem Vater gefiel dieses Engagement, zumal Dr. Nägele kein SPD-Mann war. Freie Wähler, das versprach Unabhängigkeit. OB-Wahlen seien noch Persönlichkeitswahlen, sagte Vater, nicht so wie bei Bundestagswahlen, wo es anderes zu bedenken gebe. Genützt hat es nichts; gewählt wurde Dr. Nägele nicht.
Ich habe auch hinten Augen | FILM & FERNSEHEN |
Ein Fernsehgerät wurde angeschafft, der Unterhaltung wegen und weil es als Symbol ersten Wohlstands galt, wenn man sich diesen Luxus leistete. Natürlich durfte ich nicht sehen, was ich sehen wollte. Manchmal gelang es mir, mich aus dem Bett zur Wohnzimmertür zu schleichen und durch den Spalt – die Türe war »bei«, ein Ausdruck, der außerhalb unserer Familie nicht zu existieren schien – Ausschnitte von Krimiserien zu erhaschen. Ich atmete übervorsichtig, fror an den Füßen, verrenkte den Kopf und versuchte, jedes verdächtige Geräusche zu vermeiden. Hoffentlich brauchte Vater kein frisches Bier aus der Küche, Riegele-Bräu. Mutter hielt mit einem Glas Riesling länger durch. Roger Moore als Simon Templar musste ich unbedingt sehen. Wie attraktiv eine Sendung durch den Hinweis »Der nachfolgende Film ist für Jugendliche unter 18 Jahren nicht geeignet« wurde! Meistens funktionierte das Türspaltfernsehen nur ein paar Minuten, bis Mutter merkte, was sich hinter ihrem Rücken abspielte. Ich habe auch hinten Augen.
Fernsehserien, die die Eltern interessant fanden, waren grauenvoll. Wie Wastl Fanderls »Baierisches Bilder- und Notenbüchl«, wo alpenländische Weisen auf der Zither gezupft wurden. Stubenmusi. Oder...