Vorwort
Individualisierte Psychotherapie ist eine praxisorientierte Methode zur Diagnostik, Therapieplanung und Steuerung der Behandlung mit dem Ziel, diese dem individuellen Bedarf und der persönlichen Situation der Patienten anzupassen.
Eigentlich sollte es selbstverständlich sein, dass in psychotherapeutischen Behandlungen individuelle Behandlungserfordernisse diagnostisch geklärt werden und in die Planung und Durchführung der Therapie eingehen. Tatsächlich wird Psychotherapie jedoch zunehmend – einem medizinischen Behandlungsmodell folgend – als standardisierte, auf gezielte Reduktion von Beschwerden ausgerichtete Intervention verstanden, analog etwa der Verordnung von Medikamenten mit einer definierten Zielsetzung und Wirksamkeit.
Aktuell gelten störungsorientierte und empirisch nachweislich wirksame Therapiemethoden als Goldstandard der psychotherapeutischen Behandlung. Die von den medizinischen und psychotherapeutischen Fachgesellschaften erarbeiteten Behandlungsleitlinien spiegeln die Ausrichtung an störungsorientierten Methoden wider. So sollte beispielsweise ein Patient mit einer Persönlichkeitsstörung eine speziell auf das Störungsbild ausgerichtete psychotherapeutische Behandlung erhalten, da diese nach den Kriterien der empirischen Evidenz als am besten wirksam eingeschätzt wird. Als evidenzbasierte, störungsspezifische Therapie käme dann beispielsweise eine Behandlung mit Dialektisch Behavioraler Therapie (DBT) auf Grundlage eines standardisierten Behandlungsmanuals infrage. Allerdings gibt es nicht nur eine, sondern neben der DBT drei weitere, von den Fachgesellschaften gleichrangig als wirksam empfohlene störungsspezifische Therapien zur Behandlung von Patienten mit Persönlichkeitsstörungen. Diese sind die Übertragungsfokussierte Therapie (TFP), die Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT) und die Schematherapie (Renneberg et al. 2010).
Welche störungsorientierte Therapie ist nun am besten wirksam und sollte eingesetzt werden? Macht es überhaupt Sinn, so zu fragen? Die Ergebnisse von Therapiestudien erlauben ja keine Aussage darüber, ob die Behandlung auch im individuellen Fall wirksam sein wird, und sind daher nicht einfach auf die Behandlungsplanung einzelner Patienten zu übertragen. Wäre es nicht sinnvoller zu überlegen, welche individuellen Behandlungserfordernisse im Einzelfall vorliegen und welche spezifische Zielsetzung sich daraus für die Therapie ergeben? Zudem sind bei der Wahl von Behandlungsmethoden auch Vorlieben des Patienten und das vorhandene Therapieangebot mit zu berücksichtigen.
Entgegen einer häufig vertretenen Auffassung haben manualisierte Therapien keine bessere Wirksamkeit als Behandlungen, die nicht einem festen Standard folgen (Truijens et al. 2019). In einer umfassenden Auswertung von Studien zu Wirkfaktoren von Psychotherapie kommen Norcross und Wampoldt (2011) zu der Empfehlung, die Behandlung an individuelle Behandlungsbedürfnisse anzupassen, um die Wirksamkeit von Psychotherapie zu verbessern. Zudem gibt es erste Hinweise darauf, dass individualisierte Behandlungen auch im klinischen Einsatz besser wirksam sind (Weisz et al. 2012).
Viele Psychotherapeuten setzen Methoden und Techniken flexibel und auf die individuellen Behandlungserfordernisse ihrer Patienten zugeschnitten ein. Die Anpassung der Therapie an die Bedürfnisse der einzelnen Person geschieht allerdings meist erfahrungsgeleitet und intuitiv. Eine detaillierte Beschreibung einer Methode zur Individualisierung von Psychotherapien, die das gesamte Spektrum an Therapieverfahren und Methoden einbezieht, war bisher nicht verfügbar. Diese Lücke zu schließen, ist Anliegen des vorliegenden Buches.
Individualisierte Psychotherapie ist ein Therapieschulen und Therapiemethoden übergreifendes Modell von Psychotherapie. In ähnlicher Absicht hat der Psychotherapieforscher Klaus Grawe in drei voluminösen Büchern (Grawe 1998; 2004; Grawe et al. 1997; Grawe 2004; 2007) eine »Allgemeine Psychotherapie« beschrieben. Hierfür hat Grawe die vorhandenen Studien zur Wirksamkeit psychotherapeutischer Behandlungen einer sehr umfassenden Metanalyse unterzogen. Aufgrund der empirischen Analyse der vorhandenen Daten gelang es, fünf grundlegende Wirkfaktoren der Psychotherapie herauszuarbeiten: therapeutische Beziehung, Ressourcenaktivierung, Problemaktualisierung, motivationale Klärung und das Erarbeiten einer Bewältigungsperspektive.
Grawes Allgemeine Psychotherapie hat sich, trotz vieler Vorzüge, nicht als ein für alle Psychotherapien verbindliches und schulenübergreifendes Therapiemodell durchsetzen können. Dies mag zum Teil daran liegen, dass behandlungspraktische Aspekte konzeptuell nur wenig berücksichtigt wurden. Grundsätzlich betrachtet ist es allerdings problematisch, Psychotherapie primär aus einer empirisch-wissenschaftlichen Perspektive zu begründen. Empirisch kausale Zusammenhänge und daraus abgeleitete allgemeine Aussagen lassen sich, wie schon gesagt, nicht direkt auf den einzelnen Behandlungsfall übersetzen. Hinzu kommt, dass bei der Entstehung und Aufrechterhaltung psychischer Probleme in der Regel eine Vielzahl ursächlich bedingender Faktoren eine Rolle spielen und damit ein vereinfachender und objektivierender Zugang an Grenzen stößt.
Das Konzept einer Individualisierten Psychotherapie beschreitet einen anderen Ansatz und geht von der praktischen Anwendung von Psychotherapie aus. Eine Klärung der für die Planung einer Psychotherapie relevanten Bedingungen macht schnell deutlich, dass sowohl ein objektivierender Zugang zur Problematik der Patienten als auch Methoden zur Klärung subjektiver und individueller Bedingungen des Krankseins erforderlich sind. Ein von der Praxis ausgehendes Modell einer »allgemeinen« Psychotherapie muss insbesondere auch beschreiben können, wie subjektives Erleben und individuelle Erfordernisse diagnostisch erkannt werden können und in einen Behandlungsplan integriert werden können, der gleichzeitig die fachlich notwendigen und störungsbezogenen Zielsetzungen berücksichtigt.
Anliegen dieses Buches ist es, die gesamte Vielfalt der Psychotherapie mit ihrem Reichtum an theoretischen Perspektiven, Methoden und Techniken im Rahmen eines übergreifenden Behandlungsmodells einzubeziehen, wobei der individuelle Behandlungsbedarf und die grundlegenden Zielsetzungen der Therapie richtungsweisend im Vordergrund stehen. Eine solche Vorgehensweise lässt sich als methodenübergreifend bezeichnen, ausdrücklich jedoch nicht als eklektisch (d. h. aus Vorhandenem einfach auswählend) und auch nicht als integrativ (Vermischung von Methoden).
Die Entstehung dieses Buches wurde in ganz besonderer Weise durch ein Fellowship am Wissenschaftskolleg zu Berlin im Jahr 2014/15 gefördert. Der Aufenthalt am Wissenschaftskolleg hat mir ermöglicht, mich noch einmal intensiv mit der Fachliteratur zu Grundlagen der Psychotherapie auseinanderzusetzen und eine Erweiterung meiner fachlichen Perspektive durch lebendigen und intensiven Austausch mit Wissenschaftlern verschiedenster Fachdisziplinen zu gewinnen.
Mein herzlicher Dank gilt allen Kollegen der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie des Klinikums rechts der Isar der Technischen Universität München, die die Entwicklung des Konzepts der Individualisierten Psychotherapie interessiert und ausgesprochen wohlwollend begleitet haben. Es war ausgesprochen hilfreich, Konzepte und Modelle direkt in der Patientenbehandlung anwenden zu können und im Team gemeinsam darüber zu reflektieren. Thomas Hensel danke ich in freundschaftlicher Verbundenheit für viele Gelegenheiten zur gemeinsamen Diskussion über eine an der Behandlung von Stressoren orientierten Psychotherapie. Eckhart Frick half mit wertvollen Hinweisen zur Präzisierung von Begriffen. Andreas Dally danke ich für die anregende Diskussion zum Thema Behandlungsfehler.
Wulf Bertram hat als Verlagsleiter das Buchprojekt begleitet und ermutigend unterstützt. Dank gilt auch Nadja Urbani und Mihrican Özdem für die kompetente Organisation und das Lektorat des Manuskripts.
Ganz besonders möchte ich mich bei Barbara Gromes, meiner Frau, bedanken, für ihren kritischen und immer klugen Rat, sowie für Geduld und Nachsicht, wenn ich innerlich oder äußerlich »im Buch« verschwunden war.
Die vertiefte Beschäftigung mit verschiedenen...