1 Einführung: Psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund
Mit den aktuellen Fluchtbewegungen wird die globale Migration zunehmend sichtbarer. 2016 lag der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund an der deutschen Gesamtbevölkerung bei 22,5 % und vermehrt sich sukzessive. Dies stellt für Deutschland den höchsten Anteil seit der Anwerbung der Gastarbeiter in den 1960er und 1970er Jahren. Im Jahr 2015 erlebte die Bundesrepublik mit über einer Million Menschen die höchste Zahl an Zuwanderung überhaupt (Statistisches Bundesamt 2016). Als Personen mit Migrationshintergrund definiert werden »wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren ist.« (Bundeszentrale für politische Bildung 2018). Motive für Migration sind sehr vielfältig: Krieg sowie politische und religiöse Verfolgung, Naturkatastrophen, der Wunsch, schwierigen Lebensumständen zu entfliehen, und die Hoffnung auf ein besseres, sicheres Leben an einem anderen Ort.
In den Jahren vor 1990 standen vor allem die Ein- und Auswanderung und saisonale oder auf ein paar Jahre begrenzte Pendelmigrationen im Fokus von Erklärungsmodellen der Migration. In den letzten Jahrzehnten hat sich dieser Fokus verschoben. Heutzutage spielen neue Formen der Migration eine Rolle, die zusätzlich zu den bekannten Phänomenen der Migration auftreten. Diese neuen Formen werden häufig als »transnationale Migration« charakterisiert oder unter dem Oberbegriff »Transnationalität von Migration« zusammengefasst. Hierunter ist eine Migration mit mehrfachen, »pluridirektionalen« Wohnortwechseln zu verstehen. Die Trennung zwischen Arbeits- und Fluchtmigration verschwimmt immer mehr. Die Migrationsprozesse lassen sich nur begrenzt von der Politik steuern (Pries 2017). Diese neueren Formen von Migration werden durch die hochmodernen Kommunikationsmöglichkeiten in unserem Zeitalter sowie durch die Verfügbarkeit von modernen Transportmitteln ermöglicht (Hahn et al. 2017). Transnationale Migration stellt Politik und Gesellschaft, aber auch das Gesundheitssystem vor neue Herausforderungen.
Aktuell lassen sich jedoch – bis auf wenige Ausnahmen – kaum empirische Daten zu Kultur- und Migrationshintergrund finden, die eine systematische Annäherung der Versorgungsstrukturen an diese Patienten bieten könnten (Spallek & Zeeb 2010). Hingegen illustrieren einige Untersuchungen die Notwendigkeit einer Versorgung, die bedarfsgerecht, also an besondere Bedürfnisse der Patientengruppe »Migranten« angepasst sein sollte (Brandes et al. 2009; Brucks 2004; Whitley et al. 2006).
Welche Hindernisse bestehen bei einer adäquaten gesundheitlichen und vor allem psychiatrischen Versorgung von Migranten? Die Behandlungsbarrieren lassen sich laut der qualitativen Untersuchung »Zugang von Migranten in die medizinische Rehabilitation der gesetzlichen Krankenkasse« von Schwarz et al. (2015) in vier verschiedene Kategorien unterteilen, die den Zugang erschweren oder ganz verwehren können:
Systembezogene migrantenspezifische Zugangsbarrieren. Hierunter ist sowohl die mangelnde interkulturelle Öffnung von behandelnden Einrichtungen, als auch mangelnde transkulturelle Kompetenz des in den medizinischen Versorgungseinrichtungen arbeitenden Personals zu verstehen. Beispiele dafür sind fehlende mehrsprachige Informationsunterlagen, Antragsformulare und Patientenfragebögen nur in deutscher Sprache, fehlendes mehrsprachiges Personal und/oder Dolmetscherdienste sowie gering vorhandene kulturspezifische Angebote, welche Kulturunterschiede in den Bereichen Ernährung und Religion sowie geschlechtsspezifische Vorschriften oder Unterschiede in Krankheitskonzepten und -bewältigung berücksichtigen würden.
Personenbezogene migrantenspezifische Zugangsbarrieren. In diese Kategorie fallen Wissensdefizite auf Patientenseite. Diese können durch mangelnde Sozialisation in Deutschland, Akkulturationsstress und das komplexe und andersartige Gesundheitssystem in Deutschland (evtl. im Vergleich zum Herkunftsland) bedingt sein. Die fehlenden Kenntnisse reichen dabei von einem (Un-)Wissen über die Existenz von Versorgung/Rehabilitation selbst über falsche Annahmen bezüglich solcher Maßnahmen bis zu fehlendem Wissen über die Zugangsvoraussetzungen und Zugangsprozedere. Auch Sprachdefizite und die Annahme, dass man sich in der Behandlung womöglich mit niemandem verständigen kann, sowie die Angst vor Diskriminierung und Stigmatisierung stellen weitere Zugangsbarrieren dar.
Systembezogene, vom Migrantenstatus primär unabhängige Zugangsbarrieren. Hier nennen Schwarz et al. (2015) vor allem die Komplexität und Intransparenz des deutschen Gesundheitssystems, die mittelschicht-orientierte Sprache von Informationsmaterialien, das komplizierte Antragsgeschehen und die abwartende »Komm-Struktur« der Einrichtungen. Es herrsche insbesondere Unklarheit darüber, welcher Träger (Renten-, Unfall- und Krankenversicherung) welche Leistungen anbietet und für welche Zielgruppen. Insbesondere Personen aus bildungsferneren Schichten würde so der Zugang erschwert.
Personenbezogene, vom Migrantenstatus primär unabhängige Zugangsbarrieren. Als schichtspezifische Faktoren diskutieren Schwarz et al. unter anderem maladaptive Krankheits- bzw. Heilungskonzepte, geringere Gesundheitskompetenz und Selbstwirksamkeitserwartung und mangelnde Eigeninitiative.
Wie repräsentative deutschlandweite Untersuchungen zeigen, werden Migranten in Deutschland mittlerweile auch entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung in der Regelversorgung behandelt (stationär-psychiatrisch). Die Frage, ob diese Behandlung spezifisch transkulturell sensibel stattfindet, ist eine andere. Denn selbst wenn es zur psychologisch-psychiatrischen Behandlung von Migranten kommt, müssen noch zahlreiche Herausforderungen berücksichtigt werden (Koch 2017). Um die Versorgungsstrukturen für Patienten mit Migrationshintergrund weiter zu verbessern, ist es grundlegend, die Problembereiche, die eine angemessene und effektive Versorgung verhindern, zu identifizieren (siehe hierzu auch Machleidt & Heinz 2011).
Zugangsbarrieren beziehungsweise Problembereiche können sowohl aufseiten der Patienten als auch der Behandler bestehen. Folgende Problembereiche können auf Behandlerseite existieren:
Kommunikationsprobleme durch mangelnde Verständigung (als besonders sensibel und relevant ist hierbei der psychotherapeutische Fachbereich zu benennen)
fehlende Sensibilität für kulturelle Unterschiede (keine Anpassung des Behandlungsplans)
Übersensibilität für vermeintliche kulturelle Unterschiede (Stereotypisierung des Patienten, evtl. Abweisung des Patienten, weil sich der Behandler nicht ausreichend kompetent fühlt)
Schmerzsymptomatik und -repräsentation der Patienten sind unterschiedlich bzw. ungewohnt für den Behandler
Somatisierungsneigung als fälschlicherweise besonders typisch wahrgenommenes Phänomen bei Migranten (Ryder 2008; Sieben & Straub 2011)
Auch auf Patientenseite können beispielhaft einige Problembereiche genannt werden:
Familienstrukturen (Kızılhan 2011)
Ernährung (z. B. das Nicht-vermitteln-Können von Gewohnheiten, von Fastenzeiten; Umstellung auf andere Ernährungsgewohnheiten ist anders als die in der eigenen Kultur)
Lebensweise (z. B. Umsetzbarkeit bzw. Umsetzung von gesundheitsfördernden Maßnahmen)
Multimorbidität (z. B. körperliche Begleiterkrankungen, die vor der Migration oder Flucht unbehandelt blieben)
Erwartungshaltung der Patienten begründet auf unterschiedliche Krankheitskonzepte
unterschiedliches Verständnis von Behandlungscompliance
Wie an den eingangs erwähnten Eckdaten zum Anteil von Migranten an der Gesamtbevölkerung Deutschlands und an den stetigen Flüchtlings- und Migrationsbewegungen bereits abschätzbar ist, wird sich auch in Zukunft die Begegnung mit Patienten mit Migrationserfahrung häufen. Unter den Begriff »Menschen mit Migrationshintergrund« fällt jedoch eine stark heterogene Gruppe. Es ist unmöglich, ein umfassendes Wissen über alle existierenden Kulturen, einschließlich ihrer Traditionen, ihres...