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E-Book

Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder?

AutorJürgen Kaube
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783644100763
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Jürgen Kaube ist Herausgeber und Bildungsexperte der 'Frankfurter Allgemeinen Zeitung' - und Vater von drei Kindern. Aus dieser doppelten Erfahrung heraus formuliert er eine provokante These: Schule, wie sie jetzt ist, ist zu blöd für unsere Kinder, eine Fehlkonstruktion. Sie bringt den Kindern bei, was diese weder brauchen noch wissen wollen - und zuverlässig fast komplett wieder vergessen. Schlimmer noch: Die Schule heute reagiert viel zu stark auf immer neue Anforderungen, die von außen an sie gestellt werden. Die Digitalisierung des Klassenzimmers ist genauso Unsinn, wie es die Rechtschreibreform oder das Sprachlabor waren. Was jetzt gebraucht wird, sagt Kaube, ist eine Reduktion auf das Wesentliche: Kinder sollen denken lernen, darum und nur darum geht es in der Schule. Heute bringt sie ihnen vor allem bei, was leicht abgefragt werden kann. Und das ist das genaue Gegenteil von Denken lernen und damit von wahrer Bildung. Daraus leitet Kaube ebenso klare wie unbequeme Forderungen ab, die die Bildung unserer Kinder von unsinnigen Zwängen befreien. Jürgen Kaube legt ein Buch vor, das quer steht zu der bisherigen Bildungsdebatte, nicht einzuordnen ist in ein Schema von Links und Rechts, Konservativ und Progressiv. Gerade deshalb wird es heftige Diskussionen auslösen.

Jürgen Kaube, geboren 1962, ist Herausgeber der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». 2015 erhielt er den Ludwig-Börne-Preis. Kaube ist Autor mehrerer Bücher, die zu Bestsellern wurden. Über «Die Anfänge von allem» (2017) schrieb die «Süddeutsche Zeitung»: «ein ungemein lesenswertes Buch, unfassbar interessant». «Hegels Welt» (2021) wurde mit dem Deutschen Sachbuchpreis ausgezeichnet.

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Leseprobe

I. Kapitel Was die Schule angeblich können soll: alles


Ich bin fast 18 und hab keine Ahnung von Steuern, Miete oder Versicherungen. Aber ich kann ’ne Gedichtsanalyse schreiben. In 4 Sprachen.

Die Kölner Gymnasiastin, die das im Januar 2015 unter ihrem Vornamen Naina twitterte, bekam danach etwas mehr als die fünfzehn Minuten Ruhm, die einem jeden nach Warhol zustehen. In Deutschland war sie in aller Munde. Sie löste nämlich aus, was hierzulande eine Bildungsdebatte genannt wird: ein Meinungs-, Beschwerde- und Reformforderungsgewitter, bei dem der Schall schneller ist als das Licht, was zu eigentümlichen Kulturschauspielen führt.

So wurde Naina recht gegeben, in der Schule lerne man nicht für das Leben, sondern nur für die Schule selbst, mithin unnützes Zeug. Das hatte sie zwar gar nicht behauptet und wollte sie, wie sie in Talkshows umgehend erläuterte, auch gar nicht behauptet haben. Sie hatte nicht schlecht über das Analysieren von Gedichten geredet. Nur dass sie eben über das, was ihr als nächste Schritte im Leben vorschwebte – von zu Hause ausziehen, Geld verdienen, sich versichern –, auf der Schule nichts und auch sonst nirgendwo etwas erfahren habe.

Manche glaubten ihr nicht einmal das mit den Gedichten, sie wurde angegriffen, es heiße nicht «Gedichtsanalyse». Die Kenner der Fugenmorphologie bei Determinativkomposita im Deutschen – haben wir auch nachschlagen müssen – sind seit Jean Paul – der war uns noch erinnerlich – sehr strenge Leute, aber selbst ihnen fällt es schwer zu erklären, weshalb es Geduldsfaden heißt und Gehaltszahlung, jedoch nicht Gedichtsanalyse.

Das mit den vier Sprachen, ging es weiter, sei überdies auch ganz unglaubwürdig. Wer es weit bringt an deutschen Schulen, kann sich danach leidlich in dreien verständigen. Aber wer weiß, vielleicht meinte sie die Sprachen der Gedichte: Goethe, Shakespeare, Catull und Verlaine? Dann hätten in Köln tatsächlich Gedichte eine große Rolle gespielt. Doch weshalb sollte eine Bildungsdebatte denn nur anstoßen dürfen, wer selbst mehr Bildung nachgewiesen hat als ihre eilfertigen Teilnehmer? Andere wiesen die Schülerin darauf hin, dass man im Internet leicht die wichtigsten Informationen zu Mieten und Steuern finden könne. «Es ist eh lächerlich, was im Gym verlangt wird», meldete sich beispielsweise eine Stimme aus Österreich, «die anderen Sachen kann man echt auch selbst lernen.» Weniger höflich: «Für Buchhalter gibt’s die Handelsschule.» Aber sie wollte doch gar nicht Buchhalterin werden, sondern nur orientiert sein. Der Präsident des Lehrerverbandes fand, für die Alltagstauglichkeit der Jugend seien die Familien zuständiger als die Handelsschulen. «Auch Humanisten dürfen wissen, wo es langgeht in der Welt», sprang Naina jemand bei, «wobei ich jetzt gar nicht behaupten will, dass Buchhalter wissen, wo es langgeht. Wir züchten Fachidioten.» So, als sei Steuerrecht vor Fachidiotentum geschützt.

Näher an der Frage, die der Tweet aufgeworfen hatte, lag die Bemerkung, es sei schon komisch, für die Kenntnis von Steuern und Mieten werde man mehr oder weniger freundlich ans Internet verwiesen, aber Gedichte zu analysieren werde unterrichtet. Gedichte bilden den Charakter, wurde entgegnet, Steuererklärungen «eher» nicht, und der damalige «Ressortleiter Auto» von Spiegel Online, der dies schrieb, ermahnte die Schülerin, nicht zu schnell erwachsen werden zu wollen. In der Schule Zeit verplempern zu dürfen, sei doch ein Privileg. Die Sinnlosigkeit dessen, was dort gelehrt werde, bereite außerdem aufs Leben vor, denn man lerne so, sich mit unangenehmen Situationen zu arrangieren und die Frage zu beantworten: «Wie schaffe ich es, mir Materie draufzuschaffen, die mich nicht interessiert?»

Spätestens hier hatte der Tweet Nainas seine Qualität als großartiges schulpädagogisches Rorschach-Bild bewiesen, denn noch einmal: Die Schülerin hatte nichts in Richtung «Gedichte zu analysieren ist sinnlos», «Deutschunterricht, was für eine unangenehme Situation» oder «Interpretieren interessiert mich nicht» geschrieben. Und was wollte der Auto-Onliner ihr und uns nun sagen: «Verschwende deine Jugend», «Bilde deinen Charakter an Gedichten» oder «Absitzen von Zeit ist als Lektion fürs Spätere Gold wert»? Zum Schluss meinte er nämlich noch, sich Dinge anzueignen, die keinen Spaß machen – für ihn offenbar Gedichte –, bereite doch gerade auf Steuererklärungen ganz gut vor. Dann würden ja, möchte man sagen, umgekehrt auch Steuererklärungen auf Gedichte vorbereiten, charakterlich jedenfalls, oder nicht?

Lassen wir es mit diesem Höhepunkt der Kunst, einer jungen Frau zu etwas Bescheid zu geben, das sie nicht gesagt hat, vorerst bewenden. Bildungsdebatten verlaufen oft so. Sie greifen ein Ereignis auf und teilen so schnell eine Meinung dazu mit, dass die Vermutung naheliegt, die Meinung sei ganz unabhängig vom Ereignis und schon vorher gebildet worden. Mitunter hat die Meinung mit dem Ereignis entsprechend wenig zu tun. Die meisten impliziten Fragen der vielen Stellungnahmen werden im Zuge der Debatte auch nicht geprüft. Was kann jemand, der Gedichte analysieren kann? Eignen sich Steuern, Mieten und Versicherungen als Gegenstand der Fächer «Sozialwissenschaften/Wirtschaft» und «Recht», die es an nordrhein-westfälischen Gymnasien ja gibt? Kann die Schule alltagstechnisch instruktiv sein, soll sie es? Teilt die Jurisprudenz, das Fachgebiet für Steuern und Mieten, mit der Gedichtanalyse die Eigenschaft, Worte so lange anzuschauen, bis sie einen zweiten Sinn, einen Hintersinn zeigen? Wer entscheidet, welche Fächer unterrichtet werden, was in ihnen unterrichtet wird und weshalb, wozu? Sind die Begründungen, die einst dafür galten, noch immer zutreffend – oder gibt es heute erst recht gute Gründe für einen Unterricht, der Dinge lehrt, die man fast nur in der Schule gebrauchen kann, sonst «eher» nirgends?

Die kurz aufflammende Debatte um Nainas Tweet wurde, bevor überhaupt klar war, was denn die damit verbundenen Fragen sein könnten, schnell beendet. Dazu trug auch die damalige Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU) mit dem Satz bei, sie finde es «sehr positiv», dass diese Debatte angestoßen worden sei, es sei wichtig, in der Schule stärker Alltagswissen zu vermitteln, aber es bleibe wichtig, Gedichte zu lernen und zu interpretieren. So enden viele Schuldebatten: Man findet das eine gut und das andere, Gedichte und Steuern, Leistung und Gleichheit, Abendland und Ausbildung, Persönlichkeitsbildung und Digitalkompetenz, Zentralismus und lokale Autonomie, G8 und G9 – die Liste dessen, was für Schulen gut gefunden wird, ist lang.

Ein halbes Jahr später regte Wanka an, über ein Schulfach «Alltagswissen» nachzudenken, was implizit den Rest des Stundenplans als «Sonntagswissen» kennzeichnete, demgegenüber das neue Fach beispielsweise über Fallen in Handyverträgen, Behördengänge und richtige Ernährung unterrichten solle. Auch das war mehr so dahingesagt, erkennbar nur als Meinung geäußert – «fände ich gut» –, und blieb selbstverständlich seinerseits ein ganz unpraktischer, operativ folgenloser, von keinerlei politischer Energie angetriebener Vorschlag.

 

Die Debatte um Nainas Tweet war die soundsovielte Schuldebatte seit dem Pisa-Schock im Jahr 2001. Deutschland hatte in dieser internationalen Vergleichsstudie zu Leistungen Fünfzehnjähriger nicht so gut abgeschnitten, wie es offenbar viele erwartet hatten. Das Echo war, anders als in den meisten anderen Ländern, ungeheuer. Wie konnte es sein, dass deutsche Schulen schlechter als finnische oder belgische Schulen abschnitten? Ganze Armeen von Bildungsforschern wurden ausgehoben, ganze Armeen von Schulreformern setzten sich, vor allem aber die Schule in Bewegung. Es änderte sich alles und nichts. Inzwischen liegt Deutschland etwas weiter vorne, aber immer noch hinter Estland, Macau und Singapur – hinter Singapur schon deshalb, weil dessen Schüler fast in allen Gebieten (Lesen, Mathematik, Naturwissenschaften) Spitzenreiter sind.

Was das heißt, ist allerdings ebenso unklar, wie es in der ersten Runde unklar war, was das deutsche Schulsystem vom damaligen Klassenbesten, Finnland, zu lernen habe. Ob die Aufgaben, die in den Pisa-Tests gestellt werden, tatsächlich Aufschluss über die Klugheit von Schülern geben können, ist kontrovers. Welche Folgerungen aus Rangtabellen zu ziehen wären, in denen so unterschiedliche Schulsysteme wie das finnische, das südkoreanische, das kanadische und das der Schweiz gut abschneiden, kann niemand sagen. Ja, es ist nicht einmal klar, ob «Schulsysteme» auf Schüler wirken, oder deren Leistungen nicht vielmehr von sehr lokalen Umständen abhängen, zum Beispiel den Lehrern. Kurz: Es gibt kaum eine Frage zum Thema Schule, die von Pisa beantwortet worden ist. Aber es war eine große Diskussion, und alle können sagen, sie sind dabei gewesen.

Sie hatte vor allem drei Folgen: 1.) Das umfangreiche Zahlenmaterial über die Lese-, Denk- und Rechenfähigkeit der Fünfzehnjährigen, ihre Schulen sowie über ihre sozialen Hintergründe, das die Pisa-Vergleichstests hervorgebracht hatten, tat seine Wirkung über den Moment hinaus, indem an den Hochschulen die empirischen Bildungsforscher, die derlei Zahlen erzeugen und analysieren, das Heft in den Erziehungswissenschaften in die Hand nahmen. Laien mochten sich fragen, was es denn noch für eine andere als «empirische» Bildungsforschung geben könne, worauf also die Argumente der anderen, nichtempirischen Pädagogen beruhen, wenn nicht auf Tatsachen. Die Antwort...

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