Domkapitular – Generalvikar – Weihbischof
Aufstieg zum alter ego des Bischofs
Sproll verließ Kirchen nur ungern. Mehrfach hatte er den Bischof offenbar gebeten, von seiner Berufung ins Domkapitel abzusehen. Doch im Sommer 1912 antwortete Keppler aus Beuron: „Ich habe es mir lange überlegt und habe es in St. Maurus überbetet. Ich kann nicht anders, ich muß Sie von Ihrem Kirchen scheiden.“ Der Bischof wusste um die Arbeitskraft Sprolls, seine historischen und juristischen Kenntnisse. Diese waren in einer Zeit großer Umbrüche gefragt. Und doch war Sproll nur zweite Wahl. Zunächst hatte Keppler Regierungsrat Max Kottmann (1867–1948) im Auge gehabt, der – seit 1907 vom Bistum für den Staatsdienst beurlaubt – im Kirchenrat sowie in der Ministerialabteilung für die Höheren Schulen arbeitete. Doch Kottmann hatte Stuttgart Rottenburg vorgezogen.
Innerhalb der Diözesanverwaltung übernahm Sproll die Aufgaben seines Vorgängers Domkapitular Paul Moser (1857–1912): den Bereich Schule sowie das politische Referat. Er musste sich um die Lehrpläne für den Religionsunterricht in den Schulen kümmern und die entsprechenden Lehrstoffe zusammenstellen – eine Aufgabe, bei der er von seinen früheren Katechismusarbeiten profitierte. Dazu kam die Vertretung des Domkapitels in der Ersten Kammer des Landtags – durchaus ein Posten, auf dem man sich profilieren konnte. Bischof Keppler sah sich Mitte 1913 gewungen, seine Entscheidung gegenüber dem Münchener Nuntius zu rechtfertigen: „Keiner der Domherren wollte in die Erste Kammer: Dieser junge Mann schien dafür sehr geeignet; er ist Historiker und daher für uns von großem Wert für die Vorarbeiten zur Ausscheidung des Kirchengutes, über welche die Regierung demnächst eine Denkschrift veröffentlichen wird; er ist [ein] sehr tüchtiger Katechet und wir stehen vor der Herausgabe eines neuen Katechismus.“
Wenige Wochen nach Sprolls Rückkehr nach Rottenburg wurde sein einstiger „Chef“, Regens Rieg, mit erst 54 Jahren in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet. Es ist klar, dass Rieg sich aufgrund der traditionellen Rottenburger Karrieremuster begründete Hoffnungen auf ein Domkanonikat gemacht hatte. Bereits 1910 war er für die Nachfolge vom Domkapitular Joseph Sporer (1838–1909) vorgesehen, vom Kultminister aber zur persona non grata erklärt worden. Aufgrund der Affären im Modernismusstreit war er für den Bischof auch als Regens untragbar geworden, „verbrannt“ – und wurde geopfert. Die Degradierung wurde nur mühsam durch die Verleihung des Titels eines Päpstlichen Hausprälaten bemäntelt. Grollend zog Rieg sich, befreit von allen Verpflichtungen, nach Untermarchtal „ins hauptberufliche Intrigantentum“ zurück. Sein Nachfolger im Seminar wurde Sprolls Kurskollege Franz Josef Fischer. Mit diesem Praktiker zog ein anderer Führungsstil im Seminar ein.
Als wenige Monate später Generalvikar Ege starb, rückte Sproll am 21. November 1913 in dieses mächtige Amt nach. Er war nun – unter Beibehaltung seiner alten Aufgaben – Stellvertreter des Bischofs und oberster Verantwortlicher der Diözesanverwaltung. Sproll bereiste die Diözese, predigte und fällte (auch unliebsame) Entscheidungen, nahm an einer Vielzahl katholischer Versammlungen teil, traf sich mit Eltern, Arbeitern, mit der Jugend. Zunehmend trat in der Diözese das Problem der Diasporaseelsorge ins Bewusstsein, die auch in traditionell protestantischen Gebieten des Landes lebenden Katholiken mussten religiös und kirchlich versorgt werden. In großer Zahl wurden neue Seelsorgsstellen errichtet, Kirchen gebaut und konsekriert. Eine Herausforderung, zumal in den Inflationsjahren nach dem Ersten Weltkrieg. Aber Sproll war „ein Mann des Volkes mit einem Herzen für die Nöte des Volkes, ausgestattet mit einem erfrischenden Humor, einer unverwüstlichen Arbeitskraft und einem festen Standpunkt.“ (August Hagen)
In seinem neuen Amt legte Sproll alle bisher geübte Zurückhaltung ab. Rasch erfasste er eine Situation und war ebenso rasch entschlossen zu handeln.
„Bei ihm brauchte es nicht Wochen und Monate bis er sich zu einem Entschluss aufgerafft hatte. Er gehörte nicht zu jenen Geistlichen, die einer unangenehmen Sache in weitem Bogen aus dem Wege gehen und an heikle Dinge keinen Finger rühren wollen. Mutig wagte er es, das heiße Eisen anzufassen und den Knoten zu zerhauen, wenn eine Sache reif zur Entscheidung war“. (August Hagen, Bischof Sproll zum Gedächtnis, in: Katholisches Sonntagsblatt 1949, Nr. 11, S. 89)
Eines dieser heißen Eisen war der noch immer schwelende, seinem Höhepunkt zutreibende Fall Koch-Rieg. Nachdem der Bischof 1912 mit einer von Rieg verfassten Anklagschrift an die Regierung herangetreten war, gab es kein Zurück mehr. Auf eine Verteidigungsschrift Kochs folgte im Juli 1913 eine zweite Klageschrift. Rieg war jetzt nicht mehr mit von der Partie. Er sah sich vom Bischof fallengelassen und rächte sich an seiner „Nichtbeförderung“ ins Domkapitel dadurch, dass er dem Bischof den „Bettel hinwarf“: sollte dieser doch einen seiner Domkapitulare mit der weiteren Verfolgung der Sache betrauen. In das nun anstehende Hauptverfahren – nach Einigung mit dem Ministerium von zwei Mitgliedern des Stuttgarter Katholischen Kirchenrats durchgeführt – entsandte Keppler Sproll, wogegen der Minister im September noch Bedenken erhob, die er Anfang Oktober jedoch fallen ließ. In dem Verfahren, das im September 1915 endlich begann, ging es um die Feststellung, ob und inwiefern Koch die in der Klageschrift als irrig aufgeführten Lehren tatsächlich vorgetragen hatte.
Der Fall Koch wurde zur Bewährungsprobe für den jungen Generalvikar. Aus dessen „schweren Feder stammt, begleitet von zierlichen Randnotizen“ des zur Kooperation gezwungenen Rieg, „jene detaillierte Widerlegung der beiden Rechtfertigungsschriften Kochs, die als Handakte des Anklagevertreters in Stuttgart verwendet“ wurde.
„Sie ist von kolossalem Umfang, geht auf die kleinsten Details ein und verarbeitet selbständig die ganze zu Gebote stehende Literatur zu einer wissenschaftlich gemeinten Widerlegung Kochs.“ (Seckler, Theologie S. 43)
Es begann ein „hochnotpeinliches Verhör“ zu sämtlichen Anklagepunkten, bestritten in der Hauptsache vom Anklagevertreter – also von Sproll, der eine überlegene Kenntnis der Prozessmaterie an den Tag legte, die Kolleghefte der ehemaligen Hörer Kochs genau kannte und „in einer vorzüglichen Prozessstrategie Zug um Zug eine Position aufbaut[e], die zum Matt des Gegners führen muß[te]“ (Max Seckler). Die Koch entlastenden Aussagen ehemaliger Studenten wurden gezielt marginalisiert. Sproll nahm die vom Bischof gewünschte, von Freund Baur erhoffte und schließlich von der Kirchenpolitik auch strategisch geforderte Position ein: Kochs Geist „ist kirchenwidrig“. Gemeinsam mit Rieg und dessen Freund Domkapitular Frick war Sproll der Meinung: „Koch muß überhaupt weg von der Universität.“
Als Koch im Januar 1916 das Ministerium um Enthebung von seinen Lehraufträgen bat und im April desselben Jahres als Garnisonspfarrer nach Lille ging, wurde das Verfahren zwar ohne Urteilsspruch – und damit ohne öffentliche Rechtfertigung Kepplers und Riegs – niedergeschlagen, das vorrangige Ziel, die Entfernung Kochs, war jedoch erreicht.
Abb. 1: Sproll am Tag seiner Bischofsweihe, zusammen mit Bischof Paul Wilhelm Keppler.
Sproll hatte seine Bewährungsprobe bestanden. Bereits im November 1915 hatte sich Bischof Keppler nach Rom gewandt und sich Sproll als Weihbischof erbeten. Keppler war erst 62 Jahre alt. Ging es ihm wirklich nur um die Hilfe, die er in spiritualibus zu brauchen vorgab? In seinem Bittschreiben an den Papst lobte er seinen Generalvikar als in „festem Glauben, tugendhaft, von ehrlicher Lebensführung, treu zur Kirche und zum Hl. Stuhl“ stehend. Und so wurde Sproll am 3. März 1816 offiziell zum Weihbischof ernannt, am 18. Juni von Keppler, dem Mainzer Bischof Georg Heinrich Kirstein (1856–1921) und dem Feldkircher Weihbischof Sigismund Waitz (1864–1941) zum Titularbischof von Almira geweiht. Dabei legte Keppler das Bekenntnis ab, mit seinem Weihbischof nicht nur „Hand in Hand“ sondern „Herz in Herz“ zusammenarbeiten zu wollen, während dieser beteuerte, nicht Ehre von seinem Amt zu suchen, sondern – den Worten des Apostels Paulus entsprechend – sein „Amt zu ehren“. Als Wahlspruch erkor sich Sproll das paulinische Wort Fortiter in fide – „Tapfer im Glauben“; sein viergeteiltes Wappen zeigte neben dem Wappen der Diözese Rottenburg eine Friedenstaube mit Ölzweig und – gewissermaßen antipodisch – zwei gekreuzte Schwerter als Zeichen der Tapferkeit.
Das neue, zusätzliche Amt brachte neue, zusätzliche Aufgaben mit sich: Sproll wurde nun auch für die in dem großen Bistum zahlreichen Firmreisen eingesetzt, hielt Altar- und Kirchweihen, besuchte Pfarrgemeinden, unterstützte den Bischof in seinem Seelsorge- und Predigtamt, weihte Ordenspriester. Im Ordinariat war er zudem für das Priesterseminar zuständig, außerdem für die Feldgeistlichen. Gegen Ende des Ersten Weltkriegs – die Niederlage Deutschlands zeichnete sich ab – besuchte er im Januar 1918 auf einer 10-tägigen Reise die württembergischen Soldaten in den Argonnen an der Westfront, im September desselben Jahres in der Ukraine an der Ostfront. Die Eindrücke, die er gewann, wirkten so erschütternd, dass er nach dem Krieg dem Friedensbund der Deutschen Katholiken beitrat.
Jetzt, in den Turbulenzen des Umbruchs, und nochlange Jahre später, führte Sproll einen...