Einleitung Erzwungene Befruchtung: Im Labor der Fortpflanzungsmedizin
Die Pipette nähert sich dem Ei, wird seine Hülle gleich durchstechen, um das Spermium zu injizieren, doch was unter dem Mikroskop am meisten erstaunt in diesem Augenblick, ist die unerwartete Biegsamkeit der menschlichen Eizelle. Sie zieht sich zusammen, als die Nadel ihre Oberfläche erreicht, schrumpft fast auf die Hälfte ihres Durchmessers, ohne dem Druck nachzugeben. Unerfahrene Laboranten ziehen die Pipette deshalb häufig zu früh zurück, glauben, dass sie das Spermium bereits in der Eizelle abgesetzt haben, und registrieren am nächsten Tag mit Verwunderung, dass keine Befruchtung eingetreten ist. Es dauert Monate, bis ein Embryologe durch die Übung mit unreifen Eizellen das Gespür für diese Arbeit entwickelt, bis er etwa genau erkennt, wann er die Hülle der Eizelle, die Zona pellucida, sowie die innere Haut durchstochen hat und das Spermium tatsächlich eingedrungen ist. Im mikroskopischen Bild wird in diesem Moment das Unvorgesehene, Erzwungene der Prozedur deutlich. Die natürliche Befruchtung im weiblichen Körper, jene Verschmelzung der Eizelle mit einem von abertausenden Spermien, die den Eileiter erreicht haben, vollzieht sich als uneinsehbarer, kontingenter, bis heute nicht endgültig geklärter Prozess. Hier im Labor ist dieser Prozess restlos offengelegt, reduziert auf die Zusammenführung zweier ausgewählter Zellen durch einen Akt der Einspritzung. »Intrazytoplasmatische Spermieninjektion« heißt die Befruchtungsmethode, im Vokabular der Reproduktionsmedizin nach der englischen Abkürzung als ICSI bezeichnet (gesprochen: »Ixi«). Im Jahr 1992 wurde die Behandlung an der Universität Brüssel erstmals vorgestellt; in den Kinderwunschzentren der Welt ist sie inzwischen das Standardverfahren künstlicher Fortpflanzung und hat die In-vitro-Fertilisation, also das bloße Vermischen von Eizellen und Spermien in der Petrischale, als effizientere, auch die männliche Unfruchtbarkeit überwindende Methode verdrängt. Der Ursprung menschlichen Lebens: Jahrtausendelang galt er als ein göttliches Mysterium, ein unbeeinflussbarer Naturvorgang. In den ICSI-Labors der Gegenwart ist die Imitation dieses Vorgangs außerhalb des weiblichen Körpers längst Routine geworden.
Ein Sonntagnachmittag im Frühling, in einem Reproduktionszentrum direkt in der Münchner Innenstadt. Helena Angermaier, die seit 1985 als Embryologin arbeitet und nach einem Forschungsbesuch in Brüssel als einer der ersten Menschen weltweit auch ICSI-Behandlungen vorgenommen hat, sitzt vor einem Mikroskop des Laborraums im 6. Stock: eine hochgewachsene Frau Anfang fünfzig, in ihrer Freizeit Balletttänzerin, mit weißblonden, zum Knoten geformten Haaren und auffälliger grüner Wimperntusche. Sie hat im letzten Vierteljahrhundert über 10000 Kinder unter dem Mikroskop gezeugt. In dem Reproduktionszentrum wird an sieben Tagen in der Woche gearbeitet; »der Eisprung kennt kein Wochenende«, wie Angermaier mit ihrer Vorliebe für pointierte Redewendungen sagt. Doch am Sonntag ist es in der Praxis zumindest ruhiger. Die Behandlungszyklen unter der Woche werden so organisiert, dass bei möglichst wenigen Paaren der Tag der künstlichen Zeugung auf das Wochenende fällt. An diesem Nachmittag steht noch eine Befruchtung durch ICSI an; außerdem hat Helena Angermaier mehreren Patientinnen die frohe Botschaft zu überbringen, dass es bei ihren mit dem Samen des Ehemannes versetzten Eizellen, die über Nacht im Brutschrank standen, tatsächlich zur Befruchtung gekommen ist. Jetzt geht es darum, mit den Frauen einen geeigneten Termin für den Embryotransfer in die Gebärmutter abzustimmen, der zwei bis fünf Tage nach der Fertilisation möglich ist. »Wir haben eine erfreuliche Nachricht. Die Spermien waren sehr fleißig«, sagt die Embryologin am Telefon zur ersten Patientin. »Könnten Sie am Mittwoch um 14 Uhr in die Praxis kommen?« Zu diesem Zeitpunkt hat die Frau aber schon einen Termin. Donnerstag und Freitag seien auch ungünstig, da wolle sie eigentlich mit ihrem Mann über ein verlängertes Wochenende verreisen. Eine merkwürdige Synchronisation zweier Zeitpläne: Die künstliche Erzeugung von Leben muss sich nach notwendigen Abfolgen richten (nur bis zum fünften Tag, solange der Embryo bei natürlicher Empfängnis im Eileiter bleibt, kann die Körperumgebung in der Petrischale nachgeahmt werden), doch diese Gesetze biologischer Entwicklung kollidieren nun mit dem Terminkalender einer vielbeschäftigten Patientin. Am Ende des Telefonats kündigt die Frau allerdings an, ihre Reise abzusagen.
Der Behandlungsgang in dieser Praxis – die verschiedenen Schritte, die nötig sind, bevor die Spermien und Eizellen eines Paares im Labor vereinigt werden – ist bei allen Patienten ähnlich. Hat sich ein Paar nach der Anamnese, dem sogenannten »Kinderwunschgespräch« mit dem Arzt, für eine künstliche Befruchtung entschieden, muss zunächst das Verfahren festgelegt werden. Diese Entscheidung hängt in erster Linie davon ab, bei welchem der Partner die Ursache für die Kinderlosigkeit vermutet wird. Wenn die Analyse der Spermienqualität ergibt, dass der Mann grundsätzlich zeugungsfähig ist, wird zunächst nur eine konventionelle In-vitro-Fertilisation vorgenommen. Ist der Befund des Ejakulats dagegen mangelhaft und müssen die Spermien sogar aus dem Hodengewebe entnommen werden (wo bei etwa der Hälfte der zeugungsunfähigen Männer noch intakte Samenzellen aufzufinden sind), wird die kostspieligere ICSI-Methode notwendig, bei der theoretisch ein einziges brauchbares Spermium zur Befruchtung ausreicht. Am Anfang jeder Behandlung allerdings steht fast immer die Hormonstimulation der Frau, die den Prozess der Ei-Reifung regulieren und anregen soll. In der letzten Woche eines Menstruationszyklus nehmen die Patientinnen ein Medikament ein, das ihre körpereigene Produktion von Sexualhormonen unterdrückt. Zu Beginn des neuen spritzen sie sich dann täglich follikelstimulierende Hormone unter die Bauchdecke. Auf natürlichem Wege kommt gewöhnlich nur eine Eizelle pro Zyklus zur Reifung. Infolge der Behandlung können es bis zu vierzig werden, im Durchschnitt etwa ein Dutzend: eine Entwicklung, die der Arzt in dieser Zeit regelmäßig durch Ultraschall-Untersuchungen kontrolliert. Sobald die Follikel die gewünschte Größe und hormonelle Reife erreicht haben, zumeist zwischen dem elften und dreizehnten Zyklustag, injiziert sich die Patientin ein eisprungauslösendes Hormon, das die Ovulation auf die Stunde genau berechenbar macht (»den Eisprung programmieren«, sagen die Ärzte). Die transvaginale Entnahme der Eizellen schließlich, über einen Ultraschall-Monitor gesteuert, ist mittlerweile ein zehnminütiger Routineeingriff in Vollnarkose. An einem langen Schlauch führt der Arzt eine Nadel in die Eierstöcke ein, durchsticht die Follikel und saugt die Eizellen ab, die in Reagenzgläser geleitet, gezählt und dann in den Brutschrank gegeben werden, in einem Nährmedium, das der Eileiter-Flüssigkeit entsprechen soll. Die Patientin wird vom Arzt nur ein bis zwei Stunden später über den Verlauf des Eingriffs informiert.
Sämtliche Operationen finden in der Reproduktionsklinik am Vormittag statt. Nachmittags dann werden die Petrischalen mit den entnommenen Eizellen in den Laborraum gebracht. Die zugehörigen Spermien, die vom »Original-Ejakulat« des Mannes stammen, wie es die Embryologen nennen, von einer Hodenbiopsie oder, nach tatsächlich aussichtslosem Befund, von einem Samenspender, sind zu diesem Zeitpunkt bereits untersucht und mit Nährlösung aufbereitet. Die noch ausstehende ICSI-Befruchtung an diesem Sonntag ist ein »dankbarer Fall«, wie Helena Angermaier in ihrem weichen Münchner Akzent sagt, die Frau 1982 geboren, der Mann 1984, »das sind erfreuliche Jahrgänge, eher selten bei uns«. Das Durchschnittsalter ihrer Patientinnen ist in den letzten zehn Jahren von 34 auf fast 38 Jahre gestiegen, die Hälfte ist über vierzig Jahre alt. Das Spermiogramm des Mannes war unauffällig; man weiß nicht, warum das Paar seit Jahren keine Kinder zeugen kann und auch eine konventionelle IVF-Behandlung bereits erfolglos blieb. Zu unerforscht sind nach wie vor die vielfältigen Ursachen der Infertilität, die Frage etwa, welche Hürden es beim Eintritt des Spermiums in die Zona pellucida geben kann, welche Protein- oder Enzymdefekte die Verschmelzung der Zellkerne im letzten Moment verhindern. Bei der Mehrzahl der behandelten Paare kann in dieser Praxis der Mann als Quelle der Sterilität identifiziert werden. Deshalb wird die ICSI-Methode, die das Spermium verlässlich an sein Ziel transportiert, weitaus häufiger eingesetzt als die bloße In-vitro-Fertilisation, obwohl sich die Krankenkassen seit der Reform des Gesundheitsrechts im Jahr 2004 nur dann an den Kosten beteiligen, wenn der Spermienbefund ungenügend war oder eine frühere IVF-Behandlung nichts ausgerichtet hat. Verglichen mit der so evidenten Vereinigung von einem Spermium mit einer Eizelle unter dem Mikroskop wirkt das ältere Verfahren aber tatsächlich ungenau und im entscheidenden Moment sich selbst überlassen. Die Erfolgsquote, das Eintreten einer Befruchtung nach 16 bis 20 Stunden, liegt bei IVF demnach auch nur bei 50 Prozent, im Unterschied zu den etwa 80 Prozent bei der Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion.
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