Die erste und vielleicht wichtigste Erkenntnis in der Auseinandersetzung mit dem Heldenbegriff ist, wie in der Einleitung bereits angedeutet wurde, die Feststellung, dass es den einen Heldentypus nicht gibt. Ruhm und Heldentum sind stets daran gebunden, was eine Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit als heldenhaft betrachtet und einer Figur im Akt des Darüber-Redens und Dokumentierens zuschreibt. So gilt etwa das antike Heldenbild, wie es in Homers Epen überliefert wird, spätestens ab dem 18. Jahrhundert als völlig überholt, um dann in Form des modernen Abenteuer- oder Comicsuperhelden sein Revival zu feiern, wie im Verlauf dieses Kapitels noch zu sehen sein wird. „Heldentum wird zugesprochen, seine Prädikate können infolgedessen je nach der Instanz, die diese Zuschreibung vornimmt, wechseln. Daraus folgt: Niemand ist aus sich heraus ein Held“[4], stellt Schneider fest. Zudem ist der Held stets auf das „Glück der Nachrede“ und, dem vorangehend, auf Zeugen seiner Tat angewiesen, wie Liese betont: „Es hat unzählige Krieger gegeben, die genau so tapfer und umsichtig waren wie Caesar und Alexander; aber Tausende sind namenlos an geringen Fährnissen zugrunde gegangen [...], weil die Zeugen fehlten, die ihre Tat den Menschen verkündet hätten.“[5] Heldenfiguren verdanken ihren Status also stets der glücklichen Fügung, dass jemand ihrem Wirken beiwohnte, darüber berichtete und dass sich ein Publikum für diese Berichte fand, das entsprechend seiner Auffassung von glorreichem, außergewöhnlichem oder vorbildlichem Handeln die überlieferten Taten als heldenhaft bewertete. Letztere Einschätzung wird, wie Schneider ausführt, vom „soziale[n] Koordinatensystem“[6] bestimmt: „[D]ieselbe Handlung, die einen hier zum Helden werden lässt, kann ihn dort, in einem anderen Koordinatensystem, zum Verbrecher oder Narren machen.“[7] Er stellt dabei veranschaulichend den Heldentypus des Drachentöters dem sozialistischen ‚Helden der Arbeit‘ gegenüber.
Gleichwohl lassen sich bei der Betrachtung verschiedener klassischer Heldenfiguren gewisse Universalien nachweisen, die ihm, wie Schneider es ausdrückt, „über die Zeiten und Systeme hinweg so etwas wie Identität verleihen“.[8] ‚Klassisch‘ meint in diesem Fall ein Heldenbild, das sich an jenem der griechischen Antike orientiert und in seiner Grundkonstellation über die Protagonisten mittelalterlicher Ritterepen bis zu jenen aus neuzeitlichen Märchen, Abenteuerromanen und Fantasygeschichten immer wieder Anwendung fand und findet. Alternative Heldenkonstruktionen wie der Anti-Held, der an anderer Stelle dieses Kapitels behandelt wird, sind von dieser Schematisierung weitgehend auszuschließen. Zu erwähnen ist außerdem, dass bei der Auseinandersetzung mit dem klassischen Helden auffällt, dass kaum Raum für die Möglichkeit gegeben ist, es könne sich hierbei auch um eine weibliche Figur handeln – und dies begründet sich nicht allein aus der standardisiert maskulinen Genusform: „Über Jahrtausende stand die Frau im Schatten des Ruhms. Das liegt nicht in ihrer Natur begründet, sondern daran, daß Männer von jeher bestimmten, was ruhmvoll und ehrenhaft ist und was nicht.“[9] Wie Liese verdeutlicht, kann man sich unter Begriffen wie „Helden“ und „Heroen“ nur männliche Wesen vorstellen, da Frauen in der von Kriegen und Heldentaten bestimmten Historie des Abendlandes „mehr oder weniger sprachlos“ waren.[10] Zu dieser Zeit repräsentierte die Frau in der Geschichte bestenfalls einen Märtyrertyp, der dem matriarchalischen Ideal des „Duldens und Erleidens“ entsprach.[11] Erst mit der Ablösung des antik-mittelalterlichen Ruhmesgedanken durch neuzeitliche, auf die einzelne Person ausgerichtete Ruhmvorstellungen in der Renaissance wurde auch der Darstellung von Heldinnen der Weg geebnet.[12] Überraschenderweise bleibt der Aspekt der stark unterrepräsentierten weiblichen Heldenfigur in der Forschungsliteratur weitgehend unreflektiert, sowohl im Zusammenhang mit anthropologischen als auch literarischen Heldenbildern. Obwohl in der folgenden Schematisierung deshalb stets die männliche Form verwendet wird, ist, sofern nicht explizit voneinander getrennt, von Helden und Heldinnen auszugehen.
Ausgehend von der Wortbedeutung des griechischen hḗrōs, das mit „Tapferer, Held, Halbgott“[13] zu übersetzen ist, besteht die Grundstruktur des Helden in seiner Übermenschlichkeit, die ihn aus dem „Normalmenschlichen der Masse“[14] heraustreten lässt. Willems bestätigt: „Mit dem Begriff des Helden verbindet sich traditionell zunächst und vor allem die Vorstellung von etwas Exzeptionellem, über das menschliche Normalmaß Hinausragendem […].“[15] Ebenso hält Reemtsma fest: „Wir bewundern Helden, weil sie das konventionelle Humanum nicht repräsentieren. Natürlich repräsentieren sie menschliche Potenziale, aber sie verkörpern ungewöhnliche Steigerungen solcher Potenziale.“[16] Doch die ‚Übermenschlichkeit‘ des Helden besteht nicht zwangsläufig in der ungeheuren Kampfkraft und der physischen Überlegenheit eines Achilles oder Siegfried; Heldenfiguren stehen auch für ideelle Werte und Tugenden, denen der ‚Normalo‘, gehemmt durch Egoismus, Willensschwäche und fehlende Risikobereitschaft, nicht gerecht werden kann: „Menschen, die zu Helden erklärt werden, stehen für Ideale ein, die uns besonders bedeutsam erscheinen. Und weil sie unter Inkaufnahme eines nicht geringen persönlichen Risikos handeln.“[17] Willems ergänzt, dass den Helden neben außergewöhnlicher körperlicher Stärke auch „exzeptionelle Seelenstärke, […] Durchhaltevermögen“ sowie „Treue zu sich selbst und seinen Zielen“ kennzeichneten.[18] Gerade an den Märtyrer-Helden werde deutlich, dass „zum Überwinden äußerer Widerstände immer auch in gewissem Maße das Überwinden innerer Widerstände, das Niederringen von Anfechtungen, Zweifeln, Schwächeanfällen“ dazugehört.[19] Die erhöhte Opferbereitschaft spielt für die Zuschreibung von Ruhm und Ehre eine zentrale Rolle: „Zum Helden kann nur werden, wer bereit ist, Opfer zu bringen, eingeschlossen das größte, das des Lebens.“[20] Zu einem Übermenschen machen den Helden aber nicht nur seine Leistungen und Pflichten, sondern auch seine Rechte: Hält sich der Heros an beschriebene Regeln und Kodizes, so werden auch Gewaltanwendung oder sogar Tötung zulässig und ehrenhaft[21]: „Beim Helden ist das Tötungsverbot außer Kraft gesetzt.“[22] Schneider geht gar soweit zu attestieren, dass dem Helden „der Mord nicht etwa vergeben oder nachgesehen [wird], er wird von ihm gefordert.“[23] Entscheidend sei hierbei stets, ob die Notwendigkeit der Tat gegeben ist – sie trennt den Helden vom Mörder.[24]
Auf der Suche nach übergreifenden Heldenmustern ist an einer Theorie nicht vorbeizukommen: Joseph Campbells ‚Monomythos‘. Der Mythenforscher stellte in seinem 1949 erschienenen Werk „The Hero with a Thousand Faces“ die These auf, dass Heldendarstellungen in Mythen, Volkssagen, Religionen und Märchen aus allen Teilen der Welt und epochenübergreifend einer archetypischen Grundstruktur folgen: der Heldenfahrt. Diese mythische Abenteuerreise des Heros folgt in vergrößertem Maßstab der Formel „Trennung – Initiation – Wiederkehr“[25] und findet sich laut Campbell im Grimmschen Märchen „Der Froschkönig“ ebenso wie in der Lebensgeschichte des Buddhas Siddhartha Gautama. Der Forscher unterscheidet somit nicht zwischen fiktiven und historischen Heldenfiguren. Die Erkenntnis seiner umfangreichen Untersuchungen:
Mag der Heros lächerlich sein oder erhaben, Grieche oder Barbar, Heide oder Jude, der wesentliche Umriß seiner Abenteuer variiert kaum. Volkssagen stellen die Heldentat als körperliche Leistung dar, die höheren Religionen als moralische, aber in der Morphologie des Abenteuers, der beteiligten Personen und der errungenen Siege findet man erstaunlich wenig Abwandlungen.[26]
In Anlehnung an James Joyce nannte Campbell den Weg des Heros, die Kerneinheit einer jeden Heldengeschichte, den ‚Monomythos‘. Stets enthält, so stellte Campbell fest, die Heldenreise folgende Stationen[27]:
Erstens den Aufbruch, hierzu gehören die Berufung des Helden, seine anfängliche Weigerung, diesem Ruf zu folgen und schließlich das entscheidende Überschreiten der ersten Schwelle in eine gefahrvolle, unbekannte Welt – oft mit Hilfe einer übernatürlichen Kraft.
Zweitens die Initiation, für die sich der Held Prüfungen zu stellen hat, Versuchungen widerstehen und innere Widerstände überwinden muss, schließlich zu einem höheren Wissen gelangt und bisweilen eine Apotheose, also die Erhebung zum Gott oder Halbgott, erfährt.
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