Schritt für Schritt zu mehr Selbstständigkeit
Viele Eltern wünschen sich, dass ihre Kinder die Hausaufgaben ohne Hilfe erledigen und Prüfungen selbstständig vorbereiten. Wie schnell dieses Ziel erreicht werden kann, hängt stark von Ihrem Kind ab. Insbesondere, wenn Ihr Kind Lernschwierigkeiten hat und überfordert ist, kann Selbstständigkeit nur in kleinen Etappen erreicht werden.
Dennoch sollte dieses Ziel unbedingt verfolgt werden, wie mehrere Studien zeigen. Untersuchungen von D’Ailly (2003), Gurland und Grolnik (2005), Grolnik, Ryan und Deci, (1991) sowie Pomeranz, Moorman und Litawack (2007) weisen darauf hin, dass es sich in mehrerer Hinsicht günstig auf die Kinder auswirkt, wenn Eltern die Selbstständigkeit ihrer Kinder unterstützen. Nicht nur die Motivation, das Interesse und die Leistungsorientierung der Kinder kann durch Hilfe in Richtung Selbstständigkeit gefördert werden, sondern auch die tatsächliche Leistungsfähigkeit der Kinder. Kinder, die «Hilfe zur Selbsthilfe» erfahren, entwickeln zudem ein positiveres Selbstkonzept: Sie vertrauen mit der Zeit stärker auf ihre schulische Leistungsfähigkeit.
Joussemet u.a. (2005) untersuchten, inwieweit Eltern ihre fünf Jahre alten Kinder in ihrer Autonomie unterstützen. Einige Jahre später, als die Kinder in der dritten Klasse waren, untersuchten sie die Kinder erneut. Es zeigte sich, dass die Kinder von Eltern, die ihre Kinder schon früh in ihrer Selbstständigkeit unterstützten, sozial besser zurechtkamen und besser lesen konnten. Es lohnt sich also, in die Selbstständigkeit des Kindes zu investieren.
Falls Sie bisher viel geholfen haben, sollten Sie jedoch auf keinen Fall jegliche Hilfe von heute auf morgen einstellen, um auf diese Weise Selbstständigkeit zu erzwingen. Dieses Vorgehen würde Ihr Kind überfordern. Doch wie können Sie als Eltern eigenverantwortliches Lernen fördern?
Üben Sie die Selbstständigkeit zunächst mit einfacheren Arbeiten und mit den Lieblingsfächern Ihres Kindes. Mit wachsenden Fertigkeiten kann Ihr Kind immer mehr Verantwortung übernehmen.
Einfache Arbeiten sind zum Beispiel:
- einen Hefteintrag rein schreiben
- etwas ausmalen
- den Arbeitsplatz vorbereiten
- den Rucksack für den nächsten Tag mithilfe einer Checkliste selbst packen.
Schwieriger sind die üblichen Hausaufgaben. Diese werden aber von den meisten Lehrern so gestellt, dass es den Kindern möglich sein sollte, sie selbst zu erledigen. Am schwierigsten ist die Vorbereitung von Prüfungen.
Auf die Haltung kommt es an
Wenn Sie bei Ihrem Kind selbstständiges Verhalten fördern möchten, ist es unbedingt notwendig, dass Ihre Haltung und Ihr Verhalten als Eltern mit diesem Ziel übereinstimmen. Das klingt logisch, ist aber nicht so einfach umzusetzen. Häufig wird unselbstständiges Verhalten von den Eltern unbewusst belohnt und selbstständiges Verhalten «bestraft». Bestraft wird Selbstständigkeit, wenn die Eltern mit dem vom Kind erzielten Resultat unzufrieden sind. Muss das Kind die Aufgaben nochmals erledigen oder längere Korrekturarbeiten über sich ergehen lassen, liegt es nicht fern, zu denken: «Wenn ich es alleine nicht gut genug mache, dann frage ich gleich um Hilfe und erspare mir den Ärger!» Auch gut gemeinte Hilfe der Eltern oder eines Nachhilfelehrers kann ein Kind unselbstständig machen. Stellt Ihr Kind fest, dass es sich durch Ihre Hilfe weniger anstrengen muss oder schneller fertig wird, wird es die Hilfe nur zu gern in Anspruch nehmen. Solche Hilfe ist zu bequem, um sie sich entgehen zu lassen. Von außen betrachtet ist es ganz witzig zu sehen, wie Kinder darauf reagieren. Zwei Kostproben aus unserer Praxis:
- Naja, meine Mutter erklärt es mir dann. Wir gehen einfach Seite für Seite durch und sie erklärt es und macht Beispiele. Sie ärgert sich dann immer, wenn sie merkt, dass ich gar nicht mehr zuhöre.
- Also ehrlich gesagt, in der Schule passe ich nicht so auf. Frau Hegel, meine Nachhilfelehrerin, erklärt es eh viel besser.
Es ist nicht leicht, aber als Eltern können Sie bei Ihrem Kind nur auf mehr Eigeninitiative hoffen, wenn Sie mit dem Resultat gelassen umgehen. Das Ziel «Selbstständigkeit» muss Ihnen wichtiger sein, als die zu hundert Prozent korrekte Erledigung der Hausaufgaben. Sobald Sie diese Einstellung verinnerlicht haben, können Sie einiges tun, um selbstständiges Arbeiten zu fördern.
Gezielt Selbstständigkeit und Eigenverantwortlichkeit loben
Ihr Kind wird sich eher um Selbstständigkeit bemühen, wenn Sie ihm zeigen, dass selbstständiges Arbeiten für Sie besonders wichtig ist. Bringen Sie Ihren Stolz darüber zum Ausdruck und ermutigen Sie Ihr Kind, so weiterzufahren oder eine Aufgabe alleine zu versuchen:
- Jetzt bist du aber sehr weit alleine gekommen.
- Schön machst du das, so habe ich nachher Zeit für ein Spiel.
- Was meinst du, willst du die nächsten zwei Rechenaufgaben einmal alleine versuchen? Ich glaube, du kannst das.
- Also dass du sogar diese schwierigen Aufgaben alleine kannst, hätte ich nicht gedacht!
- Das ist doch nicht schlimm, wenn ein paar falsch sind. Mir ist es wichtiger, dass du es selbst versucht hast.
Eine Veränderung kann zudem besser und schneller erzielt werden, wenn Sie den Lehrer am Elternabend über Ihr Vorhaben in Kenntnis setzen. Es ist hilfreich, wenn der Lehrer weiß, dass eventuell schlechter gelöste Hausaufgaben nicht auf mangelnde Motivation oder Probleme Ihres Kindes zurückzuführen sind, sondern auf weniger elterliche Hilfe – so wird er angemessen darauf reagieren können.
Mit dem Kind zusammen planen
In unseren Beratungen verknüpfen wir das Ziel Eigenverantwortung in einem Gespräch mit positiven Gedanken und Gefühlen. Kinder gehören gerne zu den Größeren, den Älteren und Erwachseneren und natürlich gehört es zum Älter- und Größerwerden dazu, wie ein Erwachsener mehr Verantwortung zu übernehmen und etwas alleine zu tun. Die Kinder hören meist gespannt zu und sind mit uns einer Meinung: Sie sind groß genug, um selbstständiger zu werden. Manche finden es sogar etwas «bubi», sich noch bei allem von den Eltern helfen zu lassen.
Wenn die Kinder grundsätzlich damit einverstanden sind, eigenständiger zu lernen, fragen wir sie, was sie sich alles zutrauen. Als Eltern können Sie beispielsweise jeweils am Nachmittag mit Ihrem Kind einen Hausaufgabenplan erstellen. Lassen Sie sich von Ihrem Kind erklären, was es alles erledigen muss und wie es dabei vorgehen wird. Das Kind kann die Hausaufgaben von einfach bis schwierig in eine Reihenfolge bringen und bei den einfacheren Aufgaben beginnen. Dann macht es solange weiter, bis die Aufgaben so schwer werden, dass es das Gefühl hat, Hilfe zu benötigen. Nun kann es Sie rufen. Auch an diesem Punkt können Sie zunächst zusammen mit Ihrem Kind überlegen, wie es alleine weitermachen könnte oder ob es lediglich eine kleine Hilfestellung benötigt.
Falls Sie als Vater über Mittag zu Hause sind, wird sich Ihr Kind vielleicht freuen, wenn Sie sich Zeit nehmen, um mit ihm die Hausaufgaben zu planen. Wie Sie dabei vorgehen können, zeigt das folgende Fallbeispiel:
Fallbeispiel: Tobias (vierte Klasse) macht einen Hausaufgabenplan
Der Vater von Tobias hilft seinem Sohn jeweils nach dem Mittagessen, einen Lern- und Hausaufgabenplan zu erstellen. Dies hat sich als festes Ritual etabliert. Tobias genießt es, dass sein Vater sich kurz Zeit für ihn nimmt, bevor er wieder zur Arbeit geht. Besonders gut gefällt ihm, wie ernst sein Vater ihn nimmt. Aus dem Planen hat sich im Laufe der Zeit fast ein kleines Spiel entwickelt:
Vater: Machen wir den Plan?
Tobias: Ja, ich hole das Hausaufgabenheft.
Was hast du alles auf?
Ein Blatt mit Rechnen, von hier bis da Lesen und am Donnerstag habe ich noch ein Diktat, das ich vorbereiten muss. Ah ja und da im Heft muss ich noch einen schönen Titel malen.
Gut, wann und mit was willst du denn anfangen?
Um zwei möchte ich anfangen und ich glaube, ich mache zuerst Mathe.
Gut zuerst Mathe. Wie lange brauchst du für das ganze Blatt?
20 Minuten?
Es sind ziemlich viele Rechnungen und schau mal, gegen Ende werden sie sehr schwierig.
Eine halbe Stunde?
Wenn du schnell bist, ja.
Dann mach ich mal zunächst bis hierhin, das schaff ich in zwanzig Minuten. Dann eine kurze Pause.
Ja, schreibe das mal auf, zwanzig Minuten rechnen, dann fünf Minuten Pause. Was kommt dann?
Lesen. Das schaffe ich in einer Viertelstunde, ist ja nicht so viel.
Gut, dann lesen und nochmals ein kurze Pause?
Ich glaube, ich mache dann gleich noch den Titel. Dann brauche ich nicht unbedingt eine Pause. Dazu kann ich Musik hören – ist ja nicht kompliziert.
Also, zuerst zwanzig Minuten rechnen, eine kleine Pause, dann lesen und den Titel machen. Dann ist es fast drei und es bleiben noch das Diktat und der Rest der Rechnungen.
Um drei möchte ich aber gerne zu Andreas.
O.k. und wann machst du die Rechnungen und das Diktat?
Die restlichen Rechnungen mache ich vor dem...