Johann Caspar Lavater Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe (1775–1778)
Jürgen Jahnke
Die vier »schweren und theuren Bände« (Goethe, 1891, S. 143) gehören zu den Merkwürdigkeiten der Buchgeschichte: reich mit Kupferstichen illustriert und sorgfältig in großem Format (25,5 x 29,5 cm) gedruckt, wird das Werk heute von den Bibliotheken zu den »Rara« gezählt und wie ein Schatz gehütet. Interessierte Leser müssen sich daher oft mit Mikrofilmen, Faksimiles oder Auswahlausgaben begnügen.
Die Fülle der Porträts zeitgenössischer und historischer Persönlichkeiten, der Ausschnitte aus Kunstwerken als Profil- oder En-face-Darstellung, als Silhouette oder als Relief fasziniert für sich. Die Lektüre der zugehörigen, deutenden und interpretierenden Texte allerdings dürfte heutige Leser eher befremden, der vorherrschende ebenso exklamatorische wie entschiedene Stil reizt eher zum skeptischen Widerspruch als zur Identifikation. Die intuitiv-genialisch und suggestiv vorgetragene Deutungssicherheit rief allerdings auch schon zeitgenössische Kritiker – und Parodisten! – auf den Plan.
Zum Autor
Johann Caspar Lavater wurde am 15. November 1741 in Zürich als 12. Kind eines Arztes geboren. Nach Schulbesuch und Theologiestudium wird er 1762 »Expektant«, d. h. Anwärter auf eine Pfarrstelle. Wegen der mutigen Aufdeckung einer politischen Affäre gemeinsam mit seinem Freund, dem späteren Maler Johann Heinrich Füssli, öffentlich gerügt, begeben sich beide 1763–1764 auf Reisen; zunächst nach Berlin, wo sie die Exponenten der Aufklärung (Moses Mendelssohn, Friedrich Nicolai, Johann George Sulzer u. a.) aufsuchen, um sich anschließend in Barth/Vorpommern bei dem Theologen Johann Joachim Spalding fortzubilden. Nach Zürich zurückgekehrt, erwirbt sich Lavater zunächst als Autor erbaulicher Texte und geistlicher und patriotischer Lieder Popularität. 1769 tritt er eine Stelle als Diakon am Waisenhaus an, 1775 wird er dort Pfarrer. 1778 wechselt er in das Diakonat der Stadtkirche St. Peter, wo er schließlich von 1786 bis zu seinem Tod am 2. Januar 1801 als Pfarrer wirkt.
Lavater ist eine zentrale Gestalt im geistigen und literarischen Leben seiner Zeit. Die Vielfalt seiner persönlichen Beziehungen zeigt sich in seiner ausgedehnten Korrespondenz und in den mannigfaltigen Besuchskontakten in Zürich oder auf den in Tagebüchern ausführlich dokumentierten eigenen Reisen (z. B. Lavater, 1997). Zwar den Ideen der Aufklärung in vielem verpflichtet, war er andererseits fasziniert von zweifelhaften Gestalten wie dem Wunderheiler Gassner, dem Scharlatan Cagliostro oder von Geisterseherei und Mesmerismus. Sein zentrales Anliegen blieb jedoch die christliche Verkündigung; der Bekenntnis-Charakter seiner Schriften brachte ihm bei vielen den Ruf eines Schwärmers ein, sein Enthusiasmus führte ihn bis zu öffentlichen Bekehrungsversuchen (zum Beispiel gegenüber Mendelssohn und Johann Wolfgang von Goethe). Lavaters Bedeutung für die Psychologiegeschichte liegt nicht nur in seinem Beitrag zur Physiognomik, sondern im weiteren Sinne zur Geschichte der Subjektivität und der Innerlichkeit. Das zunächst gegen seine Absicht veröffentliche Geheime Tagebuch von einem Beobachter seiner Selbst (1771) sowie die autorisierte Fortsetzung Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst (1773) sind beispielhafte Zeugnisse der Selbsterkundung und Selbsterfahrung. Dabei wird nicht nur eine Sprache für Empfindung und Gefühl zu entwickeln versucht, sondern wie auch in den Physiognomischen Fragmenten Lavaters wird hier die Beschreibung individueller Eigenart zum erklärten Ziel.
Zu den Entstehungsbedingungen des Werkes
Schon das Reisetagebuch von 1763/64 enthält physiognomische Notizen:
»In Berlin, Mittwoch, 30. März 1763: (…) Wir erwarteten den König [Friedrich II] und der ganze Morgen verschlich unterm langweiligen Zuschauen entgegengehender Bürger. Der Charakter derselben überhaupt, wenn ihre Physionomie auch nur ein wenig zuverläßig ist, scheint sehr schlecht, unordentlich, sklavisch, wild oder wollüstig-prächtig« (Lavater, 1997, S. 20).
Der Reisende versucht, seine Gesprächspartner zu zeichnen, und charakterisiert sie physiognomisch in seinem Tagebuch. Wenn er nach der Begegnung mit einem Neffen seines Gastgebers Spalding schreibt, dass »deßen Gesichtszüge die schönste Sele zeigen« (S. 286), dann wird bereits die Grundhypothese von der Entsprechung körperlicher und seelischer Schönheit und Vollkommenheit erkennbar, an der Lavater bis zu seinem physiognomischen Hauptwerk festhalten sollte.
Neben diesem in seiner Zeit durchaus nicht außergewöhnlichen Interesse an Menschen- und Selbstbeobachtung war es jedoch vor allem die theologische Frage nach der Gotteserkenntnis, die Lavater mit der Physiognomik verband. Im 16. Brief seiner Aussichten in die Ewigkeit hatte Lavater 1772 die »Sprache im Himmel« zu beschreiben versucht: »Diese unmittelbare Sprache ist physionomisch, pantomimisch, musicalisch« (Lavater, 1943,1, S. 183). Physiognomisch ist Christus das vollkommenste Ebenbild Gottes, und jeder einzelne Mensch ist es. Die Physiognomik ist eine allen Menschen gegebene »Natursprache, die von jedem geöffneten Auge verstanden wird« (ebd., S. 184). Die »Wahrheit und untriegliche Zuverläßigkeit der physiognomischen Sprache« zu bezweifeln und die »natürliche Verbindung und Übereinstimmung des Äußern und Innern« zu leugnen, sei ein »handgreiflicher Beweis von dem unphilosophischen Geist unseres Jahrhunderts« (ebd.).
Schon während der Arbeit an diesem theologischen Werk hatte Lavater 1771 vor der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich einen Vortrag über Physiognomik gehalten, dessen Text von seinem Freund Johann Georg Zimmermann, damals Leibarzt des hannoverschen Königs, unautorisiert 1772 in Druck gegeben wurde (Lavater, 1991). Dieser Text, der – vielleicht im Hinblick auf das ursprüngliche Auditorium – die später in den Physiognomischen Fragmenten dominant hervortretende theologische Dimension ausschließt, beschreibt ein programmatisches Geflecht von Definitionen, Hypothesen und methodischen Ansätzen. Dass Lavater die detaillierte Ausführung dieses Programms dann nicht systematisch, sondern bewusst »fragmentarisch« vornimmt, hängt mit seiner ambivalenten Haltung zum Wissenschaftsbegriff zusammen. Einerseits wird Physiognomik klar als »würkliche Wissenschaft« (ebd., S. 11) postuliert, andererseits ist des jungen Goethes Satz »Wenn Wißenschaft Wißenschaft wird, ist nichts mehr dran« Lavater aus der Seele gesprochen (Lavater an Goethe, 17.11.1773; zit. n. Funk, 1901, S. 7).
»Der blos wissenschaftliche Physiognomist mißt wie Dürer; das physiognomische Genie mißt und fühlt, wie Raphael. Je mehr indes die Beobachtung sich verschärft; die Sprache sich bereichert; die Zeichnungskunst fortschreitet; – der Mensch, das Nächste und Beste dieser Erden, den Menschen studirt – desto wissenschaftlicher, das ist, desto bestimmter, desto lembarer und lehrbarer wird die Physiognomik. – Sie wird werden die Wissenschaft der Wissenschaften, und dann keine Wissenschaft mehr seyn – sondern Empfindung, schnelles Menschengefühl! denn – Thorheit, sie zur Wissenschaft zu machen, damit man drüber reden, schreiben, Collegia halten und hören könne!« (Lavater, 1775, 8. Fragm.)
Lavater, das »Beziehungsgenie« (Weigelt, 1991, S. 120), beteiligte viele andere an seinem physiognomischen Projekt, sie lieferten Anregungen, Porträts und zugehörige Deutungen. Goethe, der wohl prominenteste Mitarbeiter, steuerte nicht nur Texte und Bildvorlagen bei, sondern übernahm auch die Endredaktion (vgl. Funk, 1901).
Zum Inhalt des Werkes
Die vier Bände der Physiognomischen Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe bieten ein recht unübersichtliches Bild. Der »Erste Versuch« führt von der Darlegung persönlicher Zugänge des Autors zum Thema über grundsätzliche Bekenntnisse und Erörterungen zu Wahrheit, Nutzen/Schaden, Schwierigkeit/Leichtigkeit und Voraussetzungen der Physiognomik bis hin zu »Physiognomischen Uebungen« für den Leser/Betrachter und abschließend zur Physiognomie des Autors selbst – »Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet!« wird warnend hinzugesetzt (Lavater, 1775, S. 271).
Der...