1. Hochbegabung: Mythos und Wirklichkeit
Hochbegabung ist ein komplexes Thema, um das viel gestritten wird. Was genau ist mit Hochbegabung gemeint? Wie entsteht sie und woran zeigt sie sich? Wie wird Hochbegabung speziell in diesem Buch verstanden? Wieso wird sie oft in einem Atemzug mit dem Phänomen der Hochsensibilität genannt? Wie kann eine Hochbegabung festgestellt werden, und welchen Sinn macht es überhaupt, Menschen das Etikett „hochbegabt“ zu verleihen?
Mit Mut zur Lücke möchte ich in diesem Kapitel den Versuch unternehmen, zumindest die wichtigsten Fragen auch für bisher nicht mit dem Thema Vertraute in Grundzügen zu beantworten. Dabei schwingt insbesondere die Frage mit: Welche Bedeutung kann eine erst im Erwachsenenalter entdeckte Hochbegabung für die Entfaltung des eigenen Potenzials und für den weiteren Berufsweg haben? Wenn Sie noch unsicher sind, ob Sie persönlich hochbegabt sind, können Sie anhand der Checkliste in diesem Kapitel mehr Klarheit für sich gewinnen.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Mein Anliegen ist keinesfalls, Menschen einzureden, sie seien hochbegabt. Ich halte es für sinnlos, unbedingt als hochbegabt gelten zu wollen: Hochbegabte sind weder bessere noch glücklichere Menschen als „Normalbegabte“.
Für jene Menschen, die in ihrem Denken, ihrer Wahrnehmung und ihrem Empfinden durch eine tatsächlich vorhandene Hochbegabung von der Norm abweichen, ist es aber wiederum oft sehr hilfreich, die eigene Hochbegabung – und sei es erst im Erwachsenenalter – zur Kenntnis zu nehmen. Eine spät erkannte Hochbegabung und auch Hochsensibilität kann für sie der rote Faden sein, der dem Leben rückblickend Plausibilität verleiht und viele bis dahin unerklärlich wirkende Besonderheiten in ein für die Betreffenden neues, positives Licht rückt. Denn wenn schon ein Etikett, dann ist Hochbegabung ja zumindest eine positive Schublade: Ein Potenzial und keine Krankheit oder Störung.
1.1 Was ist Hochbegabung und wie entsteht sie?
1.1.1 Assoziationen und Vorurteile rund um Hochbegabung
Welche Bilder entstehen in Ihrem Kopf, wenn Sie das Wort „Hochbegabung“ hören?
Einerseits ist da vielleicht die Faszination, die Wunderkinder und Genies auf uns ausüben. Man spricht oft mit Bewunderung von herausragenden Persönlichkeiten der Geschichte: Einige der berühmtesten sind z. B. das musikalische Wunderkind Wolfgang Amadeus Mozart, der brillante Forscher Albert Einstein, der geniale Maler Pablo Picasso oder das erstaunliche Allround-Talent Leonardo da Vinci. Sie, wie auch heute lebende berühmte Forscher oder Künstlerinnen, erleben wir als inspirierend. Aber in aller Regel kennen wir sie nicht persönlich, und sie sind für uns wenig greifbar.
Berichte, Kinofilme oder Romane über geniale Autisten oder Menschen mit ganz und gar herausragenden Begabungen führen leicht zu dem Missverständnis, Hochbegabung sei gleichzusetzen mit Genialität. Man denkt vielleicht an Leistungen, die an ein Wunder grenzen: ein fotografisches Gedächtnis, mit dem Menschen sich in Sekundenschnelle ganze Buchkapitel einprägen, Lesenlernen mit zwei Jahren, Universitätsstudium mit acht, Kopfrechnen in schwindelerregender Schnelligkeit und Komplexität … und richtig unheimlich wird es, wenn diese und weitere Begabungen parallel auftreten. Die eigenen Leistungen oder solche der eigenen Kinder, auf die man eigentlich gerade noch stolz war, erscheinen im Licht dieser unglaublichen Glanzleistungen plötzlich stümperhaft. Bei vielen Menschen weckt die Vorstellung von Hochbegabung, also von herausragenden Fähigkeiten und Denkgeschwindigkeiten, bei denen man unter Umständen nicht mithalten kann, ein unangenehmes Gefühl der eigenen geistigen Begrenztheit.
Vielleicht hat diese Verunsicherung gleichermaßen als Trost das Klischee von dünnen, blassen Kindern mit dicken Brillen hervorgebracht, die vor lauter Bücherstudium, „Jugend musiziert“- und „Jugend forscht“-Wettbewerben nie auf Bäume klettern, keine Freunde haben und allgemein ein eigentlich farblos-braves Leben führen. Wenn das Hochbegabung ist, dann ist man doch froh, wenn man selbst und die eigenen Kinder ein bisschen normaler sind!
Und so ist von der Bewunderung, die einem Picasso oder Mozart entgegengebracht wird, bei den alltäglichen Berührungspunkten mit dem Thema Hochbegabung meist nicht mehr viel zu spüren.
Die Förderung von begabten Kindern und Jugendlichen ist in den letzten Jahren immer mehr in den Fokus der Pädagogik gerückt und stößt nicht immer auf Zustimmung: Viele Menschen betrachten Förderprogramme für begabte Schülerinnen und Schüler skeptisch. Stecken dahinter nicht vielleicht ehrgeizige Eltern und Lehrer, die sich mit ihren hochbegabten Sprösslingen oder Lieblingsschülern unbedingt in den Vordergrund spielen möchten? Sollten nicht lieber mehr Energie und pädagogische Kreativität darauf verwendet werden, die weniger Leistungsstarken zu unterstützen? Und wenn die Medien immer mal wieder berichten, dass viele Hochbegabte mit unserem Schulsystem nicht zurechtkommen und zu Klassenclowns oder Schulversagern werden … Wird Hochbegabung da nicht dramatisiert und als Entschuldigung für schlecht erzogene, verwöhnte Kinder und Jugendliche missbraucht?
Während in den USA und allgemein im angelsächsischen Raum weitgehend positiv über „giftedness“ gesprochen wird und es alles andere als eine Schande ist, ein Studium mit Auszeichnung abzuschließen oder ein Stipendium zu ergattern, scheint es uns Deutschen vor dem Hintergrund unserer Geschichte bis heute schwerzufallen, ein entspanntes Verhältnis zum „Elitären“ zu finden. Viele hochbegabte Schüler und Studentinnen verschweigen gegenüber Gleichaltrigen ihre exzellenten Noten, und Promovierte berichten mir öfter, dass es ihnen peinlich ist, mit „Doktor“ angesprochen zu werden. Eine Interviewpartnerin, die in der damaligen DDR aufgewachsen ist, schrieb:
„Weil die DDR ein Arbeiter- und Bauernstaat war, wurden Angehörige der sogenannten ‚Intelligenz‘ (und ihre Kinder) kritisch gesehen, und eigentlich sollten nur Arbeiter- und Bauernkinder gefördert werden (Zugang zum Abitur usw.). Meine Eltern waren Akademiker und gute Schulleistungen fielen mir fast mühelos zu, deshalb fühlte ich mich seltsam ‚anders‘ und hatte ein schlechtes Gewissen denen gegenüber, bei denen das nicht so war.“
Auch in den westlichen Bundesländern kennen viele Hochbegabte die Erfahrung, für gute Leistungen belächelt oder gehänselt zu werden. So berichtete mir eine andere Interviewpartnerin:
„Ich denke unheimlich schnell und kann auch sehr schnell lesen und überhaupt Dinge visuell erfassen. Mein Allgemeinwissen übertraf fast immer das anderer Menschen, mit denen ich zu tun hatte. All das hat mich auch oft einsam gemacht. Man ist nicht sehr beliebt, wenn man immer alles besser kann und weiß, das ist meine Wahrnehmung. Und wenn man einfach anders ist. Darum habe ich mich oft zurückgenommen und versucht, meine Fähigkeiten unter den Teppich zu kehren.“
Bei all diesen Vorbehalten und Klischees gegenüber Hochbegabung und Hochbegabten lohnt es sich, einigen Fragen auf den Grund zu gehen. Heißt Hochbegabung denn überhaupt, wahnwitzige Wunderleistungen zu vollbringen? Ist ein hochbegabtes Kind automatisch ein unsportlicher Außenseitertyp und als Erwachsener dann ein zerstreuter Professor oder ein wunderlicher, linkischer, sozial gestörter Freak – so wie etwa Sheldon Cooper in der beliebten amerikanischen Comedy-Serie The Big Bang Theory?
Die Antwort heißt – wenig überraschend: Nein. Es gibt ganz verschiedene Bereiche, in denen ein Mensch besonders begabt sein kann. Manche sind relativ gut messbar, andere weniger gut bis überhaupt nicht. Die Spannbreite zwischen „deutlich überdurchschnittlich“ und „an ein Wunder grenzend“ ist außerdem groß. In der Sprache der Intelligenzquotienten bedeutet dies, dass zwischen einem IQ von 130 (gilt als hochbegabt) und einem IQ von 160 oder mehr (einer extrem seltenen Höchstbegabung) noch einmal ganze Welten liegen können.
Es sind also längst nicht alle Hochbegabten regelrechte Genies oder wunderliche Freaks. Aber auch die „ganz normal Hochbegabten“ (so nennt Andrea Brackmann sie in ihrem Buch [2012b]) unterscheiden sich in ihrer Begabung deutlich vom überwiegenden Teil ihrer Mitmenschen und bewegen sich mit ihren Interessen und ihrem Verhalten häufig außerhalb des Mainstream.
Sie selbst, liebe Leserin und lieber Leser, können also durchaus hochbegabt sein, ohne nachvollziehen zu können, wie der mehrfache Weltmeister im Kopfrechnen, Gert Mittring, innerhalb von Sekunden die 137. Wurzel aus einer tausendstelligen Zahl ziehen kann. Weder Kindern noch Erwachsenen ist eine Hochbegabung rein äußerlich anzusehen. Und selbstverständlich werden zwei Menschen nicht automatisch auf einer Wellenlänge sein und sich charakterlich ähneln, nur weil sie beide hochbegabt sind. Was Hochbegabte aber teilen, ist die Erfahrung, mit ihrem Denken und Wahrnehmen deutlich abseits der Norm zu liegen. Problematisch wird es, wenn dieses Anderssein dauerhaft als persönliche Unzulänglichkeit interpretiert wird. Genau dies kann jedoch leicht geschehen, wenn Menschen sich ihrer Hochbegabung nicht bewusst sind und sich jahrelang vergeblich bemühen, so zu sein und so zu „funktionieren“ wie die Mehrheit der Menschen um sie herum.
EXKURS
Begabung ist nicht alles
Nicht nur der Begriff Hochbegabung, auch schon das Wort Begabung löst unterschiedliche Assoziationen und Gefühle aus. „Begabung ist doch nicht alles“, sagen Kritiker der Hochbegabungs-Diskussion und sprechen zum...