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E-Book

Kolumbien am Scheideweg

Ein Land zwischen Krieg und Frieden

AutorWerner Hörtner
VerlagRotpunktverlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl296 Seiten
ISBN9783858695772
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis22,99 EUR
Die meisten Kolumbianerinnen und Kolumbianer kennen ihr Land nur in einem latenten Kriegszustand. Staatsterrorismus, Guerilla, Paramilitarismus und Drogenhandel sind die Triebfedern eines der langwierigsten bewaffneten Konflikte unserer Zeit. Die Friedensverhandlungen der Regierung unter Präsident Juan Manuel Santos mit der Guerilla sind ein Versuch, die Rahmenbedingungen für eine Demokratisierung des Staates unter neoliberalen Vorzeichen zu schaffen. Aber die Schatten einer gewalttätigen Vergangenheit belasten die Gegenwart. Zu einflussreich erscheinen immer noch die Nutznießer des Krieges, zu schwerwiegend die historischen Versäumnisse auf dem Weg zu einer gerechteren Landverteilung, zu gravierend das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen. Werner Hörtner führt mit seiner Analyse insbesondere des Paramilitarismus und der rechtsautoritären Herrschaftspraxis des Langzeitpräsidenten Álvaro Uribe zu den Wurzeln des Konflikts. Und er zeigt die zivilgesellschaftlichen Akteure und ihren Einsatz für Frieden, Demokratie und Aufarbeitung.

Werner Hörtner, geboren 1948, lebt in Wien. Er ist ­Mit­begründer der Informationsgruppe ­Lateinamerika (IGLA) und Mitheraus­geber der Zeitschrift Lateinamerika ­anders. Von 1990 bis 2013 war er ­Redakteur der entwicklungspolitischen Monatszeitschrift Südwind. 1992 wurde ihm von der Österreichischen ­Bischofskonferenz der Preis für Dritte Welt ­Journalismus verliehen. Sein Buch Kolumbien verstehen. Geschichte und Gegenwart eines zerrissenen Landes ist 2006 im Rotpunkt­verlag erschienen (2.?Auflage 2007).

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Leseprobe

Vorwort


Eine gute Nachricht für alle, die Kolumbien bereits kennen und lieben, oder für jene, die das Land zwischen Atlantik und Pazifik erst kennenlernen möchten: Man kann es im Großen und Ganzen ohne Probleme, ohne Gefahr besuchen und bereisen; die früher alltäglichen Entführungen sind nur mehr eine Erinnerung an die Vergangenheit, ebenso Überfälle auf Reisende. Das Land ist dabei, sich von seinem einstigen Ruf als Hort von Drogenhandel und Gewalt zu befreien. Was die Kriminalitätsstatistiken betrifft, so ist Kolumbien – für lateinamerikanische Verhältnisse – ein normales Land geworden. Die Besucherinnen und Besucher, die das Land zum ersten Mal bereisen, kehren zufrieden zurück und loben die Freundlichkeit der Menschen, ihre Liebenswürdigkeit, ihre Gastfreundschaft. In den letzten Jahren ist die Zahl der Reisenden konstant gestiegen, und Europa ist die Region, in der das Interesse an Kolumbien am stärksten wächst. Von einem Massentourismus ist das Land jedoch noch weit entfernt.

Von der Person, die diesen Prozess hin zu einer besseren Sicherheitslage und, damit einhergehend, verbesserter Mobilität angebahnt und umgesetzt hat – und von dem Preis, den das Land für diese Politik der »Demokratischen Sicherheit« zahlen musste –, wird in diesem Buch noch viel die Rede sein: Álvaro Uribe war, mit Ausnahme von Staatsgründer Simón Bolívar, der Präsident, der bislang am längsten die Geschicke des republikanischen Kolumbien lenkte. Hätte es der Verfassungsgerichtshof nicht verhindert, so wäre Uribe gar drei Amtsperioden lang im Palacio Nariño, dem Präsidentenpalast in Bogotá, geblieben. Uribe ist auch der Politiker, der dem Land am stärksten seinen persönlichen Stempel aufgedrückt hat. Das Wesen dieser Prägung ist noch wenig erforscht, und es wird noch viele Jahre dauern, bis die Periode des Uribismo, der Uribe-Herrschaft, historisch aufgearbeitet sein wird. Und im Zuge dieser Aufarbeitung werden große Überraschungen ans Tageslicht kommen.

Am 9. April 2013 zogen durch viele Städte Kolumbiens Massen von Menschen im Zeichen des Friedens, mit Slogans auf den Lippen, die zu einem friedlichen Ende des bewaffneten Dauerkonflikts aufriefen. In der Hauptstadt Bogotá führte Präsident Juan Manuel Santos gar selbst die Friedensdemonstrationen an, zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern von linken und Mitte-linken Organisationen, von indigenen, afrokolumbianischen und Frauenbewegungen, von politischen Gruppierungen des Zentrums, von Bauernorganisationen. Es war ein Tag der Einheit, ohne Sektierertum, ohne Dogmatismus: alle vereint im Ruf nach Frieden und für einen positiven Ausgang der in Havanna stattfindenden Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla.

Am selben Tag vor 65 Jahren waren ebenfalls Menschenmassen durch Bogotá gezogen, verzweifelt und wütend, tötend und brandschatzend, eine breite Spur der Zerstörung hinter sich lassend. Der 9. April 1948 war der Tag, an dem Jorge Eliécer Gaitán, der Hoffnungsträger der Armen und der Marginalisierten, im Zentrum der Hauptstadt ermordet wurde – und mit ihm für Millionen von Menschen der Traum von einer besseren Zukunft.

Seit jenem Tag kam Kolumbien nicht mehr zur Ruhe. Etwa eine halbe Million Menschen fielen in diesen 65 Jahren der Gewalt zum Opfer. In den kurzen Phasen der Ruhe brodelte es unter der Oberfläche stets weiter; im Untergrund bahnte sich immer schon der nächste Gewaltausbruch an. Mit dem Auftreten der neuen paramilitärischen Gruppierungen Anfang der 80er-Jahre wurde die Gewalt schließlich zu einem Alltagsphänomen, angeheizt von Paramilitarismus, Drogenhandel, Guerilla und Staatsterrorismus. Dabei folgte die immerwährende Gewaltspirale einem fatalen Muster: Die im Sinn der US-Doktrin der »Nationalen Sicherheit« ausgebildeten Streitkräfte sahen hinter allen Feinden und Kritikern des Systems die »Subversion«, die es zu eliminieren galt. Die Guerilla, vor allem die ländlich orientierten FARC, entführten und erpressten Grundbesitzer, um mit dem Lösegeld ihre militärische Schlagkraft zu steigern. Die von Entführungen bedrohten Kreise organisierten und bewaffneten sich, unterstützt vom Drogenhandel und von den staatlichen Sicherheitskräften. Was dann folgte, war die Zeit der Massaker, der Massenvertreibungen, des Verschwindens von Zigtausenden Menschen, deren sterbliche Überreste nun mühsam aus namenlosen Massengräbern geborgen werden.

Zu Beginn des neuen Millenniums betrat einer die politische Bühne Kolumbiens, der einen Ausweg versprach. Álvaro Uribe war ein völlig neuer Politiker-Typ – mit einem ganz eigenen Führungsstil. Ein dynamischer Mann mit Überzeugungskraft, ein Mann des Volkes, nicht einer dieser Gebildeten aus vornehmer Familie. Ein von Arbeitswut Besessener, der mit seinem ganzen Kabinett die Dörfer und Städte bereiste und den einfachen Menschen Rede und Antwort stand. Ein Mensch wie du und ich – dachten sich zumindest viele Kolumbianerinnen und Kolumbianer.

Der Lebenslauf von Álvaro Uribe weist viele Nähen zum Paramilitarismus und zum Drogenhandel auf, schon seit Anfang der 80er-Jahre, als der junge Jurist seine ersten politischen Gehversuche unternahm und als vor allem im Departement Antioquia, in dem die Familie Uribe verwurzelt ist, illegale bewaffnete Akteure neuer Dimension ihre ersten Erfolge feierten. Ein Beispiel für einen solchen Berührungspunkt ist der Fall der Entführung einer Tochter aus einer reichen Viehzüchter- und Drogenhändlerfamilie. Die Uribes waren mit der Familie Ochoa Vázquez verwandt und eng befreundet. Die Antwort von Medellíns High Society war die Gründung einer Gruppe, die sich »Tod den Entführern« nannte – so etwas wie die Generalprobe für das erklärte Vorhaben, solche direkten Angriffe auf die physische Integrität der Reichen zu bekämpfen und künftig zu verhindern. Es war ein erfolgreicher Versuch. Und einer, bei dem die Frage der Legalität der eingesetzten Mittel keine Rolle spielte.

Apropos Legalität: Für Uribe, das Staatsoberhaupt, den Oberkommandierenden der Streitkräfte, spielte die Frage der Gesetzmäßigkeit der Mittel nie eine Rolle. Zahlreiche Skandale untermauern diese Feststellung. In den acht Jahren seiner beiden Präsidentschaften etablierte sich in Kolumbien eine Kultur des todo vale: Der Zweck heiligt die Mittel. Diese Kultur wurde durch Uribe so etwas wie eine neue Staatsräson, und sie durchsetzte alsbald auch einen großen Teil des Staatsapparats, wurde zu einer Normalität des Uribismus.

Álvaro Uribe baute in den acht Jahren seiner Präsidentschaft ein ungeheures, raffiniertes und oft auch waghalsiges Lügengebäude auf. Die Konstruktion bekam zwar immer wieder einmal Risse, Teile davon fielen in sich zusammen, doch das Staatsoberhaupt aktivierte jedes Mal aufs Neue seine berühmt gewordene Fähigkeit, unversehrt aus den Trümmern aufzustehen, den Staub abzuschütteln und zur normalen Tagesordnung überzugehen. Und so konnte Uribe nach zwei Amtsperioden mehr oder weniger unbeschadet den Präsidentenpalast verlassen, während zahlreiche seiner engsten Vertrauten, Berater und Parteifreunde wegen ihrer Zusammenarbeit mit dem Paramilitarismus verurteilt wurden. Doch einige zentrale Projekte seiner Herrschaft sind zumindest teilweise gescheitert: sein Vorhaben der Demobilisierung – oder besser gesagt: Legalisierung – der Paramilitärs; sein ambitioniertes Projekt der Unterwanderung staatlicher Institutionen mit mafiösen Machtstrukturen; sein Versuch, die Guerilla zum Aufgeben zu zwingen; die zweite Wiederwahl. Und fast immer waren es die Obersten Gerichte, die dem Präsidenten Stolpersteine in den Weg legten und eine noch weitere Machtkonzentration vereitelten.

Uribe ist seit August 2010 zwar Ex-Präsident, doch zur Ruhe gesetzt hat er sich mitnichten. Im Hintergrund zieht er weiter die Fäden, um sein Lebensprojekt einer »Neugründung« des Staates zu verwirklichen. Der dahinter stehende Machtzirkel ist immer noch intakt und entschlossen, seine Interessen durchzusetzen. Wichtige Vorhaben der Regierung Santos werden von diesen Kreisen torpediert: die Landrückgabe (und neoliberale Umgestaltung des Agrarsektors), die Opferentschädigung, der Friedensprozess. Doch die Eroberung der Macht durch den von Präsident Santos angeführten Block der modernisierenden Bourgeoisie hat den Uribismus spürbar geschwächt. Der Kampf zwischen den von Uribe und Santos angeführten Sektoren der Machteliten wird wahrscheinlich an Heftigkeit noch zunehmen. Juan Manuel Santos versucht, sich den antiuribistischen Kräften der Zivilgesellschaft, auch der Linken, anzunähern. Seine Teilnahme an den Demonstrationen vom 9. April kann als Signal in diese Richtung verstanden werden.

Die Gegenwart Kolumbiens steht ganz unter dem Zeichen der Friedensverhandlungen mit der Guerilla. Präsident Santos möchte als Friedenspräsident in die Geschichte eingehen, und paradoxerweise stehen ausgerechnet unter ihm, dem früheren Verteidigungsminister und Intimus des Kriegspräsidenten Uribe, die Aussichten auf ein Ende des bewaffneten...

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