Gefangen im Kreislauf von
Fortschritt und Krise
Woran man echte Krisen erkennt
Denken Sie, dass Sie eine Krise sicher erkennen können? Und können Sie eine solche von einer problematischen Lage unterscheiden? Das ist ein sehr wichtiger Unterschied, will man sich in der gegenwärtig unübersichtlichen Welt sicher orientieren und die richtigen Schlüsse für das eigene Leben ziehen können. Aber der Reihe nach.
„Krise“ ist heutzutage ein äußerst inflationär gebrauchter Begriff. In unserem Informationszeitalter, in dem alles um Aufmerksamkeit kämpft und das „Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom“ zur häufigsten Kinder- und Jugendkrankheit geworden ist, muss man schon mächtig die Alarmglocken klingenlassen, um wahrgenommen zu werden. Heute wird fast alles rasch zur Krise verklärt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Hinzu kommt, dass verschiedenste Wissenschaftsdisziplinen – Medizin, Psychologie, Volkswirtschaft, Physik, Geschichte, Soziologie, Politik – den Begriff Krise mit sehr unterschiedlichen Bedeutungen belegen. Das macht es nicht einfacher. Deswegen werden wir uns hier gar nicht erst mit den entsprechenden fachlichen Besonderheiten beschäftigen – es würde nur Verwirrung stiften und doch nichts zur Klärung beitragen. Doch wer mit den vermeintlichen Krisen in unserer Welt gut zurechtkommen will, sollte dennoch wissen, wann er es womöglich mit einer zu tun hat, und wann nicht. Wir brauchen eine alltagstaugliche Arbeitsdefinition für den Begriff „Krise“. Hier eine Annäherung:
Krisen zeichnen sich im Kern dadurch aus, dass eine Not besteht, die bisherigen, etablierten Vorgehensweisen nicht mehr funktionieren und keiner eine wirkliche Ahnung hat, was jetzt nachhaltig helfen könnte. Im besten Fall gibt es zwar einige Ideen und Theorien, aber die vermeintlichen Experten sind sich völlig uneins, welche die richtige ist. Die alten Routinen machen häufig alles nur noch schlimmer und die Lage entgleitet immer mehr. Es ist vergleichbar mit einem Auto, das im Schlamm steckengeblieben ist und sich immer tiefer eingräbt, je mehr der Fahrer versucht, durch den entschlossenen Tritt auf das Gaspedal herauszukommen.
Im Kontrast zu Krisen steht der Begriff des „Problems“. Probleme oder problematische Situationen sind nichts weiter als Herausforderungen, die durch Ist-Soll-Differenzen gekennzeichnet sind. Etwas ist nicht, wie es sein sollte, aber man weiß schon recht genau, wo die Reise hingehen soll. Und es bestehen bewährte, von nahezu allen Experten anerkannte Routinen, die verlässlich helfen, den Istzustand zu überwinden und in den Sollzustand zu überführen – wenngleich diese „Lösungswege“ mit gewissen Schwierigkeiten verbunden sein mögen. Probleme haben mithin immer eine Lösung, sonst wären sie keine. Autopannen, Blinddarmentzündungen, brennende Häuser, überflutete Keller, randalierende Hooligans nach einem Fußballspiel – alles nur Probleme, für die Lösungen längst erfunden wurden und prinzipiell verfügbar sind.
Nicht so bei Krisen. Hier sind die bisherigen Lösungsversuche bestenfalls unwirksam. In schlimmeren Fällen gießen sie sogar Öl ins Feuer. Wenn man mitten in einer Krise steckt, gibt es keine sicher identifizierbaren Lösungen, sonst wäre sie nur ein normales Problem. In Krisen gibt es bestenfalls begründete Vorgehensweisen, welche die Ereignisse hoffentlich hilfreich voranbringen werden und in eine neue, stabile Normalität hineinführen. Krisen verlangen das Navigieren auf Sicht. Das ist für viele Menschen nicht einfach auszuhalten. Überprüfen Sie sich selbst: Was hilft Ihnen persönlich üblicherweise, Unklarheit erst einmal auszuhalten, die Ruhe zu bewahren und sich lediglich stückweise vorwärts zu tasten?
Tückisch: Man kann, gerade in der Anfangszeit von Krisen, häufig kaum entscheiden, ob man es wirklich mit einer zu tun hat. Vielmehr ist es zu Beginn nur eine vage Ahnung: „Irgendetwas läuft hier grundlegend anders als sonst, oder?“ Gewissermaßen bekommt die alte Normalität zunehmend Risse, gerät ins Stocken. Natürlich: manchmal bricht die bekannte Normalität auch plötzlich zusammen und die Krise ist deutlich da, so wie die Krisen, die durch die Reaktorkatastrophen von Tschernobyl oder Fukushima hervorgerufen wurden.
Krisen, die schleichend heraufziehen, die also nicht plötzlich durch singuläre Ereignisse entstehen, sind hingegen nicht immer leicht zu erkennen. Es gibt dennoch einige Indizien, die auf Krisen hindeuten können und dazu einladen sollten, den bisherigen Blick auf die Dinge zu hinterfragen: Denn bei aufziehenden Krisen entsteht bei vielen der Eindruck, dass alles immer schneller auf wichtige, schicksalhafte Entscheidungen zuläuft. Diffuse Stimmungen von ›was jetzt passiert, hat weitreichenden, prägenden Einfluss auf die weitere Zukunft‹ können sich ausbreiten. Werden Krisen chronisch und über längere Zeiträume nicht bewältigt, grassieren immer extremere Ansichten, Verschwörungstheorien und Misstrauen. Obskure, stark vereinfachende Erklärungen für den Ursprung der Misere machen dann die Runde und Sündenböcke werden gesucht. Immer lauter und emotionaler erklingen Rufe nach einer raschen Lösung für die vermeintlichen Probleme. Ethische Standards und moralische Bedenken werden im Klima der Verunsicherung und Angst erschreckend schnell im Handstreich vom Tisch gewischt.
Letzend Endes wird bei der Entscheidung der Frage, ob man es in bestimmten Fällen mit Krisen zu tun hat oder nicht, jeder auf seine eigene Einschätzung zurückgeworfen. Denn es gibt keinen gottgleichen, völlig objektiven Blick von außen auf die Welt. Es gibt kein eindeutiges, hinreichendes Kriterium, sondern immer nur Hinweise. Somit lässt sich auch nie objektiv bestimmen, ob man es wirklich mit einer Krise zu tun hat. „Krise“ ist keine objektive Feststellung, sondern immer nur eine mehr oder weniger gut gestützte Annahme. Erst im Rückspiegel, nach erfolgreicher Überwindung einer Krise, oder auch dann, wenn die Krise in einer Katastrophe geendet ist, wird man mit Fug und Recht sagen können: „Oh ja, das war offensichtlich eine Krise!“ Aber wenn man mittendrin steckt? Unmöglich. Und auch erst im Rückspiegel wird man sagen können »dieses oder jenes hat zur Lösung der Krise beigetragen« oder auch »dieses oder jenes hätten wir besser nicht tun sollen«.
Es ist wie in einer Parabel des irischen Philosophen Charles Handy: Er erzählt von einem Frosch und was geschieht, wenn man ihn in einen Topf mit kochendem Wasser hineinwirft. Ahnen Sie es?
Er springt einfach wieder heraus und flüchtet in angenehmere Gefilde. Unglaublich schnell, entschlossen, vielleicht auch mit ein paar Blessuren, aber doch weitgehend unbeschadet. Was aber geschähe, wenn man einen Frosch in einen Topf mit zimmertemperiertem Wasser hineinsetzen würde? Und das Ganze dann sanft, Grad für Grad, erwärmen würde? Nichts würde geschehen. Das Tier bliebe sitzen. Bei 30 Grad würde es vielleicht denken: „Angenehm warm hier.“ Bei 40 Grad: „Ordentlich warm sogar. Am besten ich mache es mir jetzt so richtig bequem, entspanne und schalte mal schön ab.“ Bei 50 Grad: „Schon sehr warm heute. Aber das geht bestimmt vorbei.“ Bei 60 Grad: „Jetzt wird`s aber wirklich langsam heiß. Vielleicht sollte ich mal nachschauen, was da los ist? Oder einfach abwarten? Meine Glieder sind gerade so schlaff, ich warte mal noch …“ Bei 70 Grad: „Heiß! Heiß! Heiß! Da stimmt doch was nicht! Ich würde jetzt sofort hier rausspringen und mal nachschauen. Wenn ich noch könnte … Aber woher die Energie nehmen?“ Bei 90 Grad: „–“. Da war`s das dann.
Das Normalitätsmodell des Frosches hat offensichtlich versagt. In seiner Annahme entsprechen Temperaturveränderungen, solange die nur langsam vonstattengehen, der Normalität, und erfordern keine überstürzte Flucht. Als der Frosch dann doch skeptisch wird, ist es zu spät zum Gegensteuern. Der Frosch hat eine krisenhafte Zuspitzung mit vermeintlicher Normalität verwechselt.
Dreierlei Dinge wären hilfreich gewesen, die Katastrophe abzuwenden: ein besseres Normalitätsmodell, neugierige Skepsis, und rechtzeitige Handlungsbereitschaft. Menschen reagieren auf langsame Veränderungen von Natur aus träge. Übermäßiger Alarmismus wird von Artgenossen nicht sonderlich geschätzt. Das ist durchaus sinnvoll, denn wer würde andauernde Warnrufe noch ernst nehmen? Somit ergibt sich im Angesicht möglicher krisenhafter Entwicklungen ein scheinbares Dilemma: Immer wieder beschwichtigen und dadurch im Krisenfall nicht rechtzeitig reagieren – oder zu früh Alarm schlagen und dadurch nicht ernstgenommen werden.
Nach der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten waren beide Tendenzen zu beobachten. Der Spiegel eröffnete seine erste Ausgabe nach dem Ereignis mit dem Titel »Das Ende der Welt (wie wir sie kennen)« und ließ damit...