Prolog
Kriminelle Zahlen
Geschätzte Leserin, geschätzter Leser, bitte raten Sie mal: Wo ist das gefährlichste Pflaster der Welt? Welche Stadt hat die höchste Kriminalitätsrate?
New York? Nein, New York hat sich aus dieser Spitzengruppe schon lange verabschiedet.
New Orleans? Rio de Janeiro? Kairo? Kapstadt? Bagdad?
Ja, Sie kommen der Weltmetropole des Verbrechens immer näher.
Vielleicht Mogadischu? Ciudad de Juárez?
Respekt! Da kennt sich jemand in den Abgründen der Welt aus. Diese beiden Städte streiten sich tatsächlich um den Spitzenrang der Welt bei den Morden. Wir meinen aber hier die gesamte Kriminalität, einschließlich Diebstahl und Betrug.
Und da ist der Spitzenreiter die Città del Vaticano, die Vatikanstadt! Das musste uns der päpstliche Generalstaatsanwalt Nicola Picardi auch für das Jahr 2009 wieder einmal vermelden.1
Wie ist das möglich?
Das liegt an der Definition: Die Anzahl der ermittelten Delikte (beziehungsweise der eingeleiteten Strafverfahren) in einer Stadt geteilt durch deren Einwohnerzahl ergibt die Kriminalitätsrate. Bei rund 18 Millionen Pilgern und Touristen, die jährlich den Vatikan aufsuchen, kommt es auch zu vielen Diebstählen, Betrügereien und Ähnlichem. Und die werden in dieser Rechnung auf die knapp fünfhundert offiziellen Einwohner der Vatikanstadt umgelegt. Leider ist dieses Beispiel für Irreführung durch Statistik kein theoretisches. Beim Berechnen der sogenannten Ausländerkriminalität verfahren deutsche, österreichische und Schweizer Nationalisten auf dieselbe Art: Sie legen alle von ausländischen Touristen begangenen Diebstähle auf die ansässige Bevölkerung um und tun rechnerisch so, als hätten die ansässigen Bürger ausländischer Herkunft diese Taten begangen.
Sie glauben, auf so etwas fallen Sie nicht herein? Schau’n wir mal! Stellen Sie sich vor, Sie bekommen sechs Wochen lang jede Woche einen Werbebrief eines Anlageberaters, jedes Mal mit einem Aktientipp für die nächsten Tage, und jedes Mal kann der Folgebrief berichten: Unser Tipp letzte Woche war richtig, die Aktie X ist tatsächlich gestiegen (oder gefallen). Wen würden Sie danach als Erstes fragen, wenn Sie mit Aktien spekulieren wollten? Sechs Treffer hintereinander – das kann doch kein Zufall sein!
Tja, reingefallen! Das kann nämlich doch eine Art Zufall sein. Welche Art, werden wir Ihnen gleich erklären. Davor schauen wir uns, natürlich fiktiv, eine Liste der Entscheidungen an, die Sie letztes Jahr getroffen haben. Da finden wir zum Beispiel so etwas: Aufgrund einer Statistik über die Schadstoffe haben Sie Produkt A vorgezogen, und Versicherung B hat Sie mit ihren »Fakten« überzeugt. Bei der Übersicht über die Gebühren war der Handy-Anbieter C Ihr Gewinner. Dazu kommt eine Liste von Entscheidungen anderer, die Sie später ausbaden mussten: Ihr Arzt kannte die beste Therapie nicht, weil deren Entwickler, ein kleiner Fisch, die Vorteile nicht geschickt genug »nachgewiesen« hatte. Große Pharmakonzerne haben dafür einen ganzen Stab von Fachleuten. Die Regierung hat Ihnen eine Sozialleistung weggekürzt, weil gewisse Experten ihr vorgerechnet haben, dass ohne diese »Reform« Deutschland spätestens 2030 nicht mehr konkurrenzfähig sei. Bei all diesen Entscheidungen spielten Statistiken eine wichtige Rolle.
Jetzt aber zur Auflösung der rätselhaften Aktientipps! Der Anlageberater hat einfach Folgendes gemacht: In der ersten Woche hat er 16 000 Briefe verschickt mit dem Tipp: Aktie X wird steigen. Und 16 000 Briefe mit dem Tipp: Aktie X wird sinken. An die 16 000 Adressen, die den richtigen Tipp bekommen hatten, hat er danach 8000 Briefe verschickt mit dem Tipp: Aktie Y wird steigen. Und 8000 Briefe mit dem Tipp: Aktie Y wird sinken. Und so weiter. Am Ende der Übung blieben 500 Adressaten übrig, die sechsmal hintereinander den richtigen Tipp bekommen hatten. Der Zufall liegt darin, dass Sie zu diesen letzten 500 gehörten. Das wollen wir aber nur als Zahlenspiel verstanden wissen, als eine Art »Wunder der Statistik«. In Wirklichkeit ist dieses Szenario unwahrscheinlich, weil eine solche Beratungsfirma außer den Kosten der Werbebriefe auch die negative Imagewirkung der vielen falschen Prognosen berücksichtigen muss.
Wie kommt es eigentlich, dass so viele Menschen gleich Ja und Amen sagen, sobald jemand exakte Zahlen in den Raum wirft? Es ist immer wieder verblüffend: Sagen wir, dass im Jahre 2050 etwa jeder Dritte in Deutschland fünfundsechzig und älter sein wird, ernten wir skeptische Blicke. Sprechen wir dagegen von 32,5 Prozent Senioren, glaubt man uns andächtig. Das ist seltsam, denn in Wirklichkeit kann niemand auch nur ungefähr wissen, wie viele junge und ältere Leute es in vierzig Jahren geben wird. Was man 1970 für heute prognostiziert hat, ist schon lange Makulatur. Aber trotzdem glauben die meisten einer unehrlichen exakten Zahl eher als einer ehrlichen Schätzung.
Ein anderes Beispiel: Jahrelang haben Klimaforscher, Umweltschützer, Meeresbiologen und Wasserexperten gewarnt: Die Erderwärmung wird Überschwemmungen, Dürren und andere Katastrophen auslösen, unermessliche Schäden verursachen und viele Menschen das Leben kosten. Die Reaktion? Allgemeines Schulterzucken in den verantwortlichen Ländern. Dann kam eines Tages ein Ökonom und legte eine Rechnung vor: Der Klimawandel wird, wenn er nicht gebremst wird, bis 2050 wahrscheinlich Kosten von mindestens 5 Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts verursachen, während wirksame Gegenmaßnahmen nur etwa 1 Prozent des Bruttoinlandsprodukts kosten würden.2 Und schon wurde der Klimawandel zum großen Thema auf dem nächsten Weltwirtschaftsgipfel.
Sind Dinge erst dann real, wenn sie in Zahlen angegeben werden? Sind Zahlenangaben stets etwas Rationales? Warum glauben so viele Menschen an Zahlen, als ob sie eine Religion wären? Auch auf solche Fragen wollen wir hier eingehen. Der Philosoph und Aufklärer Voltaire resignierte schon im 18. Jahrhundert: »Je häufiger eine Dummheit wiederholt wird, desto mehr bekommt sie den Anschein von Klugheit.« Dass Dummheit sich auch ins Gewand von Parametern, Tabellen und Graphen kleiden kann, war damals noch kaum üblich. Voltaires grantiges Fazit soll aber nicht das letzte Wort in dieser Angelegenheit bleiben.
Wir versprechen Ihnen: Bald werden Sie wissen, mit welchen Tricks der statistischen Schönfärberei, Aufbauscherei, Ausblenderei und Lügerei sogenannte Sachzwänge konstruiert und wichtige Entscheidungen beeinflusst werden. Sie denken, »die da oben« sind kluge Leute, die sich nicht so leicht hinters Licht führen lassen? Das hatten wir auch gehofft – bis wir sie näher kennengelernt haben.
Wir stützen uns dabei auf jahrzehntelange Erfahrung, gesammelt in der Beratung von Ministerien und Bundestagsabgeordneten (in der Bonner Beratungsstelle des Statistischen Bundesamts), in der Statistikschmiede einer großen bundesweiten Ärzteorganisation und nicht zuletzt durch unseren jahrzehntelang geschärften Blick auf öffentlich dargestellte Zahlen und Fakten.
Nach der Lektüre dieses Buches gehören auch Sie, so hoffen wir, zum Kreis der Aufklärer, die kritische Blicke hinter die Kulissen der Statistikmacher werfen und dabei selber erkennen oder zumindest erahnen, wo etwas »faul ist im Staate Dänemark«.
Doch bitte nicht das Kind mit dem Bade ausschütten! Zahlen und Statistiken sind und bleiben – innerhalb gewisser Grenzen und Voraussetzungen, über die man offen sprechen muss – ein höchst nützliches Instrument, um wichtige Teile der Wirklichkeit zu beschreiben. Wer Statistiken an sich für Teufelszeug erklärt, dem sagen wir: Dummheit ohne Zahlen ist auch nicht besser als Dummheit mit Zahlen.
Damit dieses Buch trotz des trockenen und für manche Leser vielleicht einschüchternden Themas locker bleibt und stellenweise sogar vergnüglich ausfällt, schmücken wir es mit zahlreichen persönlichen Erlebnissen aus, die Gerd Bosbach als Statistiker in der merkwürdigen Welt der Zahlen und Diagramme erlebt hat und oft auf amüsante Art zum Besten gibt. Deshalb ist der Ich-Erzähler in den folgenden Kapiteln Gerd Bosbach. Coautor Jens Jürgen Korff sorgt für Lesefreundlichkeit und würzt als Historiker das Werk vor allem mit neugierigen und klugen Zwischenfragen, mit einigen Beispielen aus dem Umweltbereich sowie mit einem Abstecher in Philosophie und Psychologie der Zahlengläubigkeit (»Exkurs: Gespräche über den Kult der Zahl«).
Die Kapitel 1 bis 10 des Buches sind bestimmten Methoden gewidmet. Hier erläutern wir Statistiktäuschungen gleicher Struktur zunächst an Beispielen und dann prinzipiell. Die Kapitel 11 bis 13 stellen politische Komplexe wie Armut, Gesundheitswesen und Rentenversicherungen in den Mittelpunkt. Hier untersuchen wir, wer auf dem jeweiligen Feld welche der bereits bekannten Methoden einsetzt, um bestimmte Ziele durchzusetzen. Dabei werden aufmerksame Leser hier und da Beispiele wiedererkennen, die sie schon in den Methodenkapiteln kennengelernt haben. In den Kapiteln »Der Sack der Rosstäuscher« und »Die Dummen und die Bösen« haben wir weitere Beispiele zusammengetragen, die den Rahmen der übrigen Kapitel gesprengt hätten – wobei uns im Kapitel »Die Dummen und die Bösen« die Grundfrage interessiert: Wird da aus Dummheit oder aus böser Absicht getäuscht? Die Kapitel »Resigniert wird nicht!« und »Übung macht den Meister« liefern Ihnen praktische Tipps und Übungen, um selber Täuschungen entlarven zu können.
Wir wünschen Ihnen so manches Aha-Erlebnis bei der Lektüre und viel Spaß beim Lachen über Prozentisten und Sachzwangsneurotiker!
1Laut heute.de Magazin, 10.1.2010, kamen 2009 in der Vatikanstadt...