Lukas Hillger «Jetzt bist du wahrscheinlich sehr traurig, oder?»
Wie es ist, wenn der Vater auszieht, wenn man neun ist – Warum Scheidungskinder erst nicht wollen, dass die Eltern neue Partner haben und es sich später sehnlich wünschen – Weshalb glückliche Eltern Gold wert sind – Wie es ist, wenn der Vater endlich die richtige Frau gefunden hat und sie dann plötzlich stirbt.
Als ich sie zum ersten Mal sah, musste ich weinen. Die Sonne schien, Essen stand auf unserem Tisch, um uns herum waren Dutzende Menschen, Kellnerinnen nahmen Bestellungen auf, Gläser klirrten. Mein Vater, mein Bruder und ich saßen in einem Biergarten, als sie auftauchte. Ich war alt genug, um zu wissen, dass dies nicht der Ort war, um seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, aber zu jung, um mich beherrschen zu können. Die Tränen flossen, und nichts konnte sie mehr aufhalten. Mein Vater sah betreten drein und sie … was tat sie? Sie lächelte! In meinem Kinderhirn war das ein weiterer Beleg dafür, dass diese Person vollkommen gefühlskalt war und sich nicht darum kümmerte, das Leben eines Neunjährigen zu zerstören. Wie sonst konnte sie es fertigbringen, in einer Situation wie dieser zu grinsen? Dann rannte ich weg. Nach draußen. Ins Freie. Vorbei an den Biertischen, an denen scheinbar glückliche Menschen saßen, sich sonnten und Bier tranken. Vorbei an den Kastanienbäumen, unter denen ihre Kinder im Sandkasten spielten und keine Ahnung vom Unglück hatten. Vorbei an ihren Autos, mit denen sie zusammen «glückliche Familie» spielten. Irgendwohin. Hauptsache weg. Als ich auf dem Parkplatz angekommen war, wusste ich nicht mehr weiter und hielt es für sinnvoller, am Auto zu warten.
Ihretwegen war mein Leben ein anderes geworden. Unwiederbringlich. Ihretwegen hatte ich monatelang an verschlossenen Türen gelauscht, um Gesprächsfetzen zwischen meinen Eltern aufzuschnappen, in der Hoffnung, diese würden helfen, mir das Unverständliche zu erklären. Ihretwegen hatte ich in einer Sommernacht mein Fenster aufgerissen und über die ganze Straße «Papa» geschrien, als er nach einem Streit mit meiner Mutter wieder zu ihr fuhr. Ihretwegen hatte ich meine Mutter weinen sehen. Ihretwegen war meine Welt aus den Fugen geraten.
Und jetzt stand sie vor mir und lächelte, als erwarte sie, von mir zu hören: «Du bist also die Freundin meines Vaters, wegen der er meine Mama, meinen Bruder und mich verlässt. Nett, dich kennenzulernen. Wir werden ganz bestimmt bald gute Freunde werden.»
Da war ich nun, in einer Welt, in der Biergläser geleert, Rechnungen bestellt und halbe Hähnchen an Tische gebracht wurden, in einer Welt, die sich irgendwie weiterdrehte, mir aber fremd geworden war. Mein Vater hatte sich das erste Treffen – ein zaghafter Schritt zur Normalisierung der Verhältnisse – anders vorgestellt.
Gabi sah gut aus. Sie war damals 27 Jahre alt, sechs Jahre jünger, als ich heute bin, und zwölf Jahre jünger, als mein Vater damals war. Heute weiß ich, dass man mit 27 Jahren nicht weiß, wie man sich gegenüber den zwei Kindern eines verheirateten Mannes am besten verhält. Heute denke ich mir, dass Gabi wahrscheinlich sehr unsicher und mit der Situation vollkommen überfordert war. Doch damals stand ihr Lächeln für das ganze Elend, das etwa mit Beginn meines neunten Lebensjahrs über mich hereingebrochen war, an dem ich keine Schuld trug, dem ich ausgeliefert war, mit dem ich nun irgendwie zurechtkommen musste.
Noch immer wenn ich meine Eltern besuche, muss ich austarieren: Wann besuche ich meine Mutter, wann meinen Vater? Es ist ein ungeschriebenes Gesetz, öfter und immer zuerst zu meiner Mutter zu fahren. Meine Beziehung zu meinem Vater ist nicht schlechter als die zu meiner Mutter. Doch auch nach über 20 Jahren ist das eine Art Bekenntnis: Mein Bruder, meine Mutter und ich sind die Familie, die mein Vater verlassen hat. Das gehört zu den Dingen, die sich nicht ändern werden. Ansonsten aber ändert sich für ein Scheidungskind mit den Jahren fast alles. Denn getrennte Eltern sind zunächst einmal alleine. Wenn Eltern alleine alt werden, macht uns das Angst. Weil wir uns glückliche Eltern wünschen. Aber auch, weil wir wollen, dass unsere alt werdenden Eltern gut aufgehoben sind und der Punkt, an dem sich das Unterstützungsverhältnis zwischen ihnen und uns umkehrt, möglichst lange hinausgezögert wird. Glückliche und gesunde Eltern helfen uns. Um unglückliche und kranke Eltern müssen wir uns kümmern. So wird aus dem neuen Partner von Mutter oder Vater, der Scheidungskindern früher Konkurrent und Aufmerksamkeitsdieb war, langsam ein Verbündeter.
Mein Vater wurde 1949 geboren. Er ist das Kind zweier Kriegsflüchtlinge. Meine Oma, aus dem ehemaligen Ostpreußen vertrieben, lernte meinen Opa, einen Bessarabien-Deutschen, auf einem Tanzabend in einem Flüchtlingslager in Thüringen kennen. Sie war 18, er 20. Er war kleiner als sie, weshalb sie ihn anfangs nicht mochte. Doch mein Opa hatte den Krieg überlebt, ein Auge und zwei Fingerkuppen verloren. Er war zäh und hartnäckig: Immer wieder bat er sie, mit ihm zu tanzen. Als sie schließlich einwilligte, war ihr Leben besiegelt. Ihre Eltern freuten sich, die 18-Jährige endlich verheiraten zu können. Mein Vater war das erste von insgesamt acht Kindern. Die Familie flüchtete in den Westen Deutschlands nach Nordrhein-Westfalen, zog dann nach Dingolfing, später nach München. Irgendwo auf dem Weg dorthin wurden sie zu einer christlichen Freikirche bekehrt. Wahrscheinlich gab die Religion der zehnköpfigen Familie Kraft, um in einer fremden Welt zu bestehen. Denn Bayern war in diesen Nachkriegsjahren für Nichtbayern so fremd wie Deutschland heute vielleicht für einen Usbeken. Nachdem mein Vater das Abitur gemacht hatte, war klar: Der älteste Sohn der Familie wird den ehrenwertesten Beruf überhaupt erlernen. Er sollte und wollte Pfarrer werden. Er schrieb sich für ein Theologie- und später noch für ein Psychologie-Studium ein. Mein Vater zog als Student in seiner Freizeit von Haus zu Haus, um zu missionieren. Er wollte Menschen das Wort Gottes bringen.
Warum ich all das erzähle? Weil ich glaube, dass dies viel mit der späteren Scheidung meiner Eltern zu tun hat. Zumindest ist es eine von vielen Erklärungen, die ich mir mit der Zeit erarbeitet habe. Mein Vater sah gut aus und war charmant – das ist er noch heute mit 63 Jahren. Doch er glaubte, Affären, Sex, unkomplizierte Liebschaften seien eine Form der Sünde. Also heiratete er mit Anfang 20 seine erste Frau, eine Finnin, denn nur in der Ehe schien Sexualität für ihn vor Gott vertretbar. Ein Jahr später ließ er sich wieder scheiden, und wahrscheinlich dämmerte ihm hier zum ersten Mal, dass Pfarrer vielleicht nicht der richtige Beruf für ihn war. Im Psychologie-Studium lernte er meine Mutter kennen.
Meine Mutter wurde 1951 in München geboren. Ihr Vater war ein Polizist, der wegen einer nicht ganz aufgeklärten Nazi-Vergangenheit als solcher nicht mehr arbeiten durfte und sein Geld an der Pforte einer großen Firma verdiente, ihre Mutter putzte. Sie wuchs als einziges Kind in einfachen Verhältnissen auf. Die Familie lebte in einer kleinen Münchner Stadtwohnung. Sie waren eher arm als reich, doch es ging aufwärts. Hatte meine Oma nach gerade einmal sieben Jahren die Schule verlassen müssen, ging meine Mutter auf ein Mädchen-Gymnasium. Später studierte sie Psychologie. Als sie meinen Vater traf, war sie 26 Jahre alt, hatte wenig Erfahrung mit Männern, aber wusste, was sie wollte: eine glückliche Familie – also Mann, Kinder und im besten Fall ein Haus am Stadtrand.
Meine Eltern heirateten im April 1978. Meine Mutter war damals 27 Jahre alt, mein Vater 29. Beide hielten viel von Bildung und italienischem Essen. Sie waren gegen Atomkraftwerke und den NATO-Doppelbeschluss. Beide wollten ihre Kinder gewaltfrei erziehen. Sie zogen in eine Wohnung am Stadtrand. Ein Jahr später kam ich auf die Welt, Ende 1980 folgte mein Bruder. Mein Vater arbeitete inzwischen als Psychologe in der Personalabteilung einer großen deutschen Firma. Er verdiente gut, und für zwei junge Leute aus einfachen Verhältnissen fühlte es sich nach noch mehr an. Meinen Eltern gelang ein Klassenaufstieg – vom Proletariat ins Bürgertum. Fünf Jahre später ging noch ein Traum in Erfüllung: Sie kauften sich eine Doppelhaushälfte in einem Dorf am Stadtrand von München und zogen ein. Mein Bruder und ich bekamen jeweils ein eigenes Zimmer. Meine Mutter bepflanzte einen Rosengarten, mein Vater trank am Freitagabend Rotwein vor dem Kamin. Mit Gott hatte er inzwischen nichts mehr am Hut. Er war vom Paulus zum Saulus geworden. Bis heute gehört mein Vater zu den vehementesten Religionskritikern, die ich kenne. Er fuhr einen alten Mercedes Benz, meine Mutter einen Ford Fiesta. Wir hatten nette Nachbarn, die ebenso wie meine Eltern aus der Stadt hierhergezogen waren und Kinder bekamen. Meine Mutter verstand sich gut mit ihnen, mein Vater ignorierte ihre Anwesenheit. Einmal im Jahr fuhren wir mit dem Auto über den Brenner nach Chioggia ans Meer. Mein Bruder und ich durften Limo trinken, und wir verbrannten unsere Kinderhaut beim Spielen in den Sanddünen der Adria. Am Ende der zwei Wochen beluden meine Eltern das Auto mit Spaghetti, Espresso und Risotto, den es damals noch in keinem deutschen Supermarkt gab, und fuhren in den Norden zurück. Wir lebten den Traum einer jungen deutschen Familie Anfang der achtziger Jahre. Wir waren...