2 Heranwachsen in der zunehmend mediatisierten Gesellschaft: Kinder und Jugendliche im Spannungsfeld digitaler Medien
Daniel Hajok
Kinder und Jugendliche wachsen heute ganz selbstverständlich mit digitalen Medien auf – und damit in einigen markanten Punkten auch völlig anders als noch vor 20, 30 Jahren. Mit dem Internet und den mobilen Alleskönnern erschließen sie sich die Welt der Medien zunehmend autonom und entziehen sich dabei immer früher einer Kontrolle und Begleitung durch Erziehende. Bevor in diesem Band die medienbezogenen Kompetenzen und Vorlieben junger Menschen als ein wichtiger Ansatzpunkt für eine an Alter und Entwicklungsstand orientierte Medienerziehung entworfen werden ( Kap. 3), sind im Folgenden zunächst die zentralen Hintergründe für ein angemessenes medienerzieherisches Handeln skizziert.
Der Blick richtet sich auf die Frage, wie sich Kindheit und Jugend unter dem Eindruck der Veränderungsprozesse in der zunehmend differenzierten, individualisierten und mediatisierten Gesellschaft gewandelt haben ( Kap. 2.1). Mit den Ergebnissen der KIM- und JIM-Studien wird in Kapitel 2.2 gezeigt, dass sich die Freizeitwelten von Kindern und Jugendlichen in den letzten Jahren grundlegend gewandelt haben. Der dabei zu beobachtende Bedeutungszuwachs von digitalen Medien wird in Kapitel 2.3 mit aktuellen Daten zum Medienumgang von Kindern und Jugendlichen vertieft. Abschließend werden zentrale Herausforderungen für ein am aktuellen Medienumgang junger Menschen orientiertes medienerzieherisches Handeln formuliert ( Kap. 2.4).
2.1 Wie sich Kindheit und Jugend gewandelt haben
Wenn wir uns als Erwachsene anschauen, was Kinder und Jugendliche Tag für Tag so alles treiben, haben wir schnell den Eindruck, dass Kindheit und Jugend nicht mehr allzu viel mit dem zu tun haben, was uns in den ersten Phasen unseres Lebens prägte. Tatsächlich scheint sich das Leben junger Menschen mit den gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und den markanten Veränderungen in der Welt der Medien grundlegend gewandelt zu haben. Im Fachdiskurs von Soziologie, Kommunikations- und Medienwissenschaften sind hierfür bereits früh Perspektiven entwickelt worden, die in der Zusammenschau sogar für einen neuen Sozialisationstypus sprechen (vgl. Hajok 2018). Die hier thematisierten Entwicklungen hin zu mehr Autonomie und Selbstverantwortung, neuen Formen von Kommunikation und Vernetzung werden nirgendwo so deutlich, wie beim Umgang junger Menschen mit digitalen Medien, mit Internet und Onlinediensten auf der einen und den mobilen Endgeräten auf der anderen Seite.
Suchend in einer individualisierten unübersichtlichen Welt
Schon vor über 30 Jahren hat der Soziologe Ulrich Beck mit seiner Risikogesellschaft die fortschreitende Individualisierung von Lebensentwürfen als eine zentrale Entwicklung in unserer von Differenzierung und Pluralisierung gekennzeichneten Gesellschaft beschrieben (vgl. Beck 1986). Heute erleben wir vielerorts hautnah mit, dass Heranwachsende unter diesen Bedingungen ihr Leben immer autonomer gestalten können und – das wurde in der öffentlichen Diskussion leider oft vergessen – es zugleich immer selbstverantworteter gestalten müssen. In der zunehmend komplexen Welt sind Erziehende nun einmal immer weniger in der Lage, unseren Schützlingen den für sie ›besten‹ Weg zu zeigen, die ›richtigen‹ Antworten auf drängende Fragen zu geben: hier die immer spezielleren Wünsche, Bedürfnisse und Interessen, dort die immer schwerer zu durchschauenden gesellschaftlichen Handlungsbereiche und sozialen Problemlagen, die selbst uns an die Grenzen des Versteh- und Nachvollziehbaren bringen.
In dieser unübersichtlichen Welt etablieren Heranwachsende mit digitalen Medien schnell ihre eigenen Zugänge zu den Antworten auf die sie drängenden Fragen. Interessengeleitet stellen sie sich immer früher individuelle Medienmenüs zusammen und verleihen so auch einem partizipativen Medienhandeln neuen Ausdruck.1 Kleine Expertinnen und Experten ihrer ganz eigenen Welt stehen dann vor uns. Die Achtjährige wird erst weniger Wochen im Internet unterwegs sein und ihren Eltern die ersten Fragen à la »Wie findet das Zebrajunge seine Mutter?« stellen. Klassische Sozialisationsinstanzen wie das Elternhaus und die Schule, die sich seit zig Jahren erstaunlich ›erfolgreich‹ gegen ein zeitgemäßes Lernen mit und vor allem über Medien gewehrt hat, sind in dieser Welt zwar nicht bedeutungslos geworden. Jugendliche, bereits Kinder, vertrauen aber immer mehr auf das, was ihnen die Medien mit ihren halbwegs verlässlichen Informationen und all den breit gestreuten Kommunikaten bekannter und unbekannter Anderer an Vorlagen fürs Leben bieten. Selbstsozialisation und Selbstlernen sind hier die Stichworte.
Allerdings agieren die Heranwachsenden in der vernetzten Welt auch immer mehr in der vom Internetaktivisten Eli Pariser (2011) thematisierten Filterblase, im gebrochenen Hall des eigenen Echos, in dem Algorithmen ganz selbstverständlich das ausspielen, was den ganz persönlichen Bedürfnissen, Interessen, Träumen und Wünschen wohl am nächsten kommt. Und dort, wo das unübersichtliche Ganze verblasst, werden schnell auch die Konturen eines Netzwerkkapitalismus sichtbar, der mit seinen ökonomischen Prinzipien nicht auf irgendein kritisch-reflexives Subjekt setzt, sondern auf das sich situativ-anpassende Individuum (vgl. Niesyto 2013). Der flexible Mensch ist hier gefragt, und nach der beeindruckenden, bereits vor 20 Jahren vom Soziologen Richard Sennet (1998) postulierten Kultur des neuen Kapitalismus arrangiert sich dieser lieber mit seiner Umwelt, passt sich den neuen Marktentwicklungen an, bindet sich besser nicht allzu zu sehr an Ort und Zeit, meidet langfristige Bindungen und sieht Fragmentierung dann sogar noch als einen Gewinn. Heute steht längst auch das Leben von Jugendlichen, ja bereits Kindern unter diesen Vorzeichen, und lässt nur eine Facette eines veränderten Heranwachsens sichtbar werden, das zunehmend unter dem Eindruck digitaler Medien steht.
Beschleunigtes Leben durch Digitalisierung
Die soeben angesprochenen Entwicklungen in unserer Gesellschaft haben keineswegs ihr schnelles Ende gefunden, sondern mit den (medien-)technischen Entwicklungen ab den 1990er-Jahren auf beeindruckende Art und Weise weiter an Fahrt aufgenommen. In seiner vielbeachteten Sicht auf die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne hat der Soziologe Hartmut Rosa Mitte der 2000er-Jahre dann überaus treffend in den Diskurs eingebracht, wie rasant sich mit der Digitalisierung die Produktion, Vermittlung und Rezeption medialer Inhalte beschleunigt haben (vgl. Rosa 2005). Heranwachsenden, die sich die neuen Möglichkeiten schnell und unbefangen aneignen, bieten sich dadurch ohne Frage neue und durchaus attraktive Optionen zur Ausgestaltung des eigenen Alltags. Bereits das, was wenige Globalplayer mit ihren Plattformen, Diensten und vorgegebenen Strukturen in das und durch das Netz lassen, lässt Heranwachsende aber immer mehr unter Druck geraten, die unzähligen Inputs in ihrem Leben überhaupt noch unter zu bekommen. Der zunehmend ›verdichtete‹ Freizeitraum Jugendlicher ( Kap. 2.2) erscheint dabei fast schon komplett digitalisiert, der von Kindern ist auf dem besten Weg dahin.
Dem mit Digitaler Stress überschriebenen Abschnitt der JIM-Studie 2016 war dann auch zu entnehmen, dass ältere Kinder und Jugendliche dies selbst bereits als ein ›Problem‹ ihres Alltags wahrnehmen (vgl. MPFS 2016). Man muss nur einmal hinschauen, was ein heutiger Heranwachsender alles abzuarbeiten hat, wenn sein Smartphone mal zwei Stunden ausgeschaltet war – und hat das ganze Ausmaß unmissverständlich vor Augen. Zu den vielen Inputs kommt dann noch der Druck des zunehmend mediatisierten Sozialen hinzu, darauf angemessen zu reagieren und sich selbst anderen mitzuteilen. Nachrichten, ob geschrieben oder gesprochen, und die unzähligen Bilder brauchen in der neuen Kommunikations- und Selfiekultur kaum noch Sekunden, bevor sie bei WhatsApp, Snapchat und Instagram2 ohne Medienbruch gepostet sind – und sofort die ersten Kommentare evozieren. Das, was Erziehende ›früher‹ noch mit »Erst denken, dann handeln!« pädagogisierten, erhält im Alltag heutiger Heranwachsender so ein immer kürzeres Zeitfenster. Auch das ist Beschleunigung.
Bleiben wir aber noch kurz beim permanenten Feuerwerk an Inputs, dann haben wir es mit einer der grundlegenden Veränderungen des Lebens junger Menschen zu tun, die vielleicht einen ganz neuen Typus des Heranwachsens hervorgebracht haben. Denn in der beschleunigten Welt machen unsere Schützlinge immer mehr Erfahrungen, die weitgehend unverbunden nebeneinander stehen und gewissermaßen zu (nur noch) episodischen Erlebnissen ›verkommen‹, die vom Einzelnen immer weniger miteinander, mit der Geschichte und...