»Hüte dich vor den Katholiken!«
Kindheit und Jugend im zerstörten Wirtschaftswunderland
Ich bin ein Nachkriegskind, Jahrgang 1948. Damit ein Jahr älter als die Bundesrepublik und genauso alt wie die D-Mark. Mit dem einen Unterschied: Mich gibt es noch.
Vom Sommer meiner Zeugung 1947 habe ich mir später einiges erzählen lassen: dass die Wirtschaft im zerstörten Land am Boden lag, die Währung auch. Es gab zwar noch die Reichsmark, aber keinen Gegenwert an Waren. Dafür Zwangsbewirtschaftung und Rationierung, Lebensmittelkarten, Schwarzmarkt: Schuhe gegen Schokolade, Pelze gegen Butter. Was regierte, war der Mangel: 1500 Kalorien standen dem »Normalverbraucher« zu. Rund 59 Kilo wog der Durchschnittsdeutsche, männlich, über fünfundzwanzig, damals. Herzkrankheiten, Diabetes? Fehlanzeige. Aber satt zu werden, war ein schwieriges Geschäft.
So ist es zu erklären, dass der Neugeborene von seinen Eltern vorsorglich gemästet wurde. Auf den ersten Bildern meines Lebens blickt mich da ein kleiner Buddha an, mit dicken Backen fröhlich lächelnd.
Die Ressourcen für die Vollverpflegung hatten meine Großeltern aus Oberhessen. Sie, die Eltern meiner Mutter, hatten in Neustadt bei Marburg einen riesengroßen Garten mit Gemüse aller Art, mit Hühnern, Schweinen, Ziegen – beste Möglichkeiten einer autonomen Selbstversorgung. Vor dem Haus wuchs ein märchenhafter Lindenbaum, auf dem man sich verstecken konnte. Es war das viel gerühmte Paradies der Kindheit, aus dem man nicht vertrieben werden kann. In den Wäldern rund um Neustadt stundenlang umherzustreifen, war ein prägendes Glück. War es da ein Wunder, dass ich Förster werden wollte?
Es ist seltsam, welche Erinnerungen an die Kindheit haften bleiben und welche verfliegen. Manchmal denke ich an den Käsekuchen, den wir »Mattekuchen« nannten, meiner Großmutter zurück. Sie buk ihn samstags, wenn wir sie besuchten, ließ ihn auf dem Schrank im Schlafzimmer, dem kühlsten Raum, erkalten. Wenn ich ankam, stieg ich rasch auf einen Stuhl, ein großes Messer in der Hand, und säbelte an dieser Köstlichkeit.
Und natürlich erinnere ich mich an das »Wunder von Bern«, 1954: »Schäfer nach innen geflankt, Rahn müsste schießen, Rahn schießt: T-O-R!« Heute heißt es oft, dieses Fußballspiel sei der eigentliche innere Gründungsakt der alten Bundesrepublik gewesen.
Wie 99 Prozent der Deutschen hatten auch meine Eltern damals keinen Fernseher. Die Nachbarn hatten einen. Und da drängte sich dann die gesamte Hausgemeinschaft. Doch in unserer Wohnung lief das Radio mit dem wunderbaren Herbert Zimmermann: »Sechs Minuten im Wankdorf-Stadion noch zu spielen. Keiner wankt …« Und weil der Fernsehkommentar um Längen langweiliger war, lief der kleine Guido zwischen dem Bild der Nachbarn und dem spannenderen Radioton immer wieder hin und her. Das war ein Zeichen: Jahrzehnte später haben wir im ZDF in unserem Film »Das Wunder von Bern – Die wahre Geschichte« diese unmögliche Diskrepanz aufzuheben versucht und die Bilder mit dem Radioton unterlegt. Es ist gelungen. Und so zähle ich zur aussterbenden Schicht von Zeitgenossen, die die Aufstellung der deutschen Mannschaft immer noch im Schlaf aufsagen können: Turek, Posipal, Kohlmeyer, Eckel, Liebrich, Mai, Rahn, Fritz Walter, Ottmar Walter, Schäfer, Morlock. Welche andere deutsche Nationalmannschaft hat sich so tief in das Gedächtnis der Nation eingebrannt?
1954 war das Jahr des Aufschwungs, nicht nur auf dem grünen Rasen. Ich kam in die Schule, und das Stimmungsbarometer in der alten Bundesrepublik stand zum ersten Mal auf Zuversicht. Die weitaus meisten Westdeutschen sahen ihre Zukunft optimistisch, und der Wohlstand wuchs nun unaufhaltsam. Der Export schwoll mächtig an, Exportgut Nr. 1 war das deutsche Auto, wieder einmal, diesmal allerdings unter friedlichen Vorzeichen: Kraftwagen aus Wolfsburg, Untertürkheim oder München waren die Zugpferde der neuen Wirtschaftsblüte. Und bezeichnenderweise fiel in diesem Jahr erstmals auch das Wort vom »Wirtschaftswunder«, das in Wahrheit keines war. Denn die Wirtschaft Westdeutschlands, sie konnte produzieren, was sie wollte. Alles wurde gebraucht.
Die Familie meines Vaters stammt aus Oberschlesien. Freitags sind wir immer zu den Großeltern gegangen. Da war Schlesienabend. Es gab schlesische Gerichte und Erinnerungen an die alte Heimat. Für ein Kind mag das in Ordnung sein. Aber wenn man in die Pubertät kommt und der Freitagabend droht, dann sagt man innerlich: »O Gott, schon wieder Schlesienabend!« Es hat jahrzehntelang gedauert, bis ich die Großeltern verstanden habe. Sie brauchten diese familiären Treffen, um ihre oft traumatischen Erinnerungen zu verarbeiten. Für meine Großmutter war das Schlimmste gar nicht das, was ihr während der Flucht widerfahren ist. Es war die Tatsache, dass sie einige Wochen nach dem Krieg noch einmal aus dem Fluchtziel Görlitz in ihr Haus nach Rydultau zurückkehrte, um sich andere Schuhe zu holen, weil die einzigen, die sie auf der Flucht dabeihatte, kaputt getreten waren. Sie durfte nicht mehr hinein. In ihrem Haus wohnte mittlerweile eine polnische Familie, die selbst ebenfalls vertrieben worden war, aus dem schon von Stalin annektierten Lemberg. Also auch ein Opfer der Geschichte.
Meinem Vater blieb die Flucht erspart, denn er befand sich 1945 längst in Kriegsgefangenschaft. Er hatte Glück gehabt: Er war Soldat im Afrikakorps bei Rommel, wurde im November 1942 nach der Schlacht von El Alamein auf den afrikanischen Kriegsschauplatz geflogen und hatte die Ehre, den gesamten Rückzug vom Nildelta bis nach Tunesien mitzumachen. Manche sagen, dieser Rückzug sei Rommels größte Leistung gewesen, weil er ohne größere Verluste ablief. Mein Vater jedenfalls kam Mitte 1943 in amerikanische Kriegsgefangenschaft und verbrachte diese bis zum Jahr 1946 in so wahrhaft fürchterlichen Gegenden wie Florida und Kalifornien. Zugenommen hatte er in dieser Zeit zwölf Kilo. Die waren allerdings im ersten deutschen Hungerwinter 1946/47 sehr schnell wieder runter. In seine alte Heimat Oberschlesien konnte er nicht mehr entlassen werden. Und so ging er dann nach Neustadt, wo er beim Manöver 1942 ein überaus hübsches Mädchen kennengelernt hatte. Das war meine Mutter, das Ergebnis von all dem bin ich. Mein Vater wollte eigentlich Medizin studieren, aber da er nun Familie hatte, musste er stattdessen Geld verdienen und ging in den Außendienst bei einer Pharmafirma.
Aufgewachsen bin ich in Aschaffenburg. Die Kriegszerstörungen in dieser Stadt waren einerseits das Resultat von Bombardierungen der Alliierten, andererseits die Folge jener Idiotie, dortselbst im März des Jahres 1945 unbedingt noch einmal eine Front aufmachen zu wollen. Ausgerechnet das wunderschöne Renaissanceschloss geriet zur Kampfkommandantur der letzten Fanatiker – und wurde entsprechend zerstört. Der Wiederaufbau dauerte bis in die Achtzigerjahre.
Kindheit in Ruinen – das war damals selbstverständlich, denn man kannte ja nichts anderes. Die vielen Kriegsversehrten auf ihren Krücken prägten ebenso das Straßenbild wie die sechstausend GIs der US-Armee, die in den alten Wehrmachtskasernen anfangs als Besatzer über unsere zarten demokratischen Wurzeln wachten und uns später vor einem »Angriff aus dem Osten« schützen sollten.
Im Ortsteil Damm, wo wir anfangs wohnten, ging es ziemlich kernig zu. Heutzutage heißen seine Buben Pascal oder Kevin, damals hießen sie Karl, Franz, Max und Kurt. Und als ich Neuankömmling auf die Frage »Ei, wie heißt’n du?« wahrheitsgemäß antwortete »Guido«, hatte ich noch wochenlang ein schweres Los. Denn so hieß ein Dämmer Junge einfach nicht.
Vier Jahre später zogen wir in einen anderen Ortsteil. Weil ein Junge ja so sein will wie die anderen, dachte ich mir jetzt: »Das ist die Chance!« Mein Mittelname ist »Friedrich«, nach dem Namen meines Onkels. Als erneut die Frage kam: »Wie heißt’n du?«, sagte ich nun: »Friedrich. Ihr könnt aber Fritz zu mir sagen.« Zwei köstliche Wochen lang war ich der Fritz – bis meine Mutter eines Tags von einem Fenster ihren Sohn lauthals zum Abendessen rief: »Guido!« Das Komplott war aufgedeckt.
Aschaffenburg war damals eine sehr katholische Stadt – zu 90 Prozent. Ich bin evangelisch. In Bayern gab es damals unter der CSU-Regierung noch die Konfessionsschule. Das hieß, ich musste mit dem Bus durch die halbe Stadt, mit Umsteigen am Hauptbahnhof, um am anderen Ende von Aschaffenburg eine Klasse zu besuchen, die rein evangelisch war. Und man mag es glauben oder nicht: Wir hatten damals in der Volksschule, so hieß sie noch, nicht nur getrennte Klassen, wir hatten sogar getrennte Toiletten. Apartheid auf Bayerisch.
Ich wäre damals lieber Katholik gewesen. Barocke Pracht und Weihrauch – das war einfach die bessere Show! Wer mich vor all dem Prunk warnte, war meine Oma mütterlicherseits, eine fromme Protestantin. Als ich ihr erzählte, was mir durch den Kopf ging, hob sie ihre Hand und sagte: »Bub, hüte dich vor den Katholiken – die lügen!« Meine katholischen Freunde, denen ich das heute erzähle, sagen dazu: »Die Oma hatte recht. Natürlich lügen wir. Wir können es ja beichten!«
Im Gymnasium habe ich mich nahezu ausschließlich für Geschichte interessiert. Das lag vor allem an dem Lehrer – und sein Name sei genannt: Dr. Lothar Häusler, der heute hochbetagt in Würzburg lebt. Viele aus meiner Generation erzählen mir, dass ihr Geschichtsunterricht pottlangweilig gewesen sei, ein stupides Auswendiglernen von Zahlen und Fakten. Bei mir war es anders: Dr. Häusler machte damals etwas, was die anderen auch hätten tun können, aber nicht taten. Er würzte seinen Unterricht mit den...