1.1 Psychodynamische Konzepte von Depression
Depressionen sind Störungen mit komplexen Ursachen und sehr unterschiedlichen Entwicklungspfaden. Aus unserer Sicht sollte nicht von einer Krankheit, sondern von einem Syndrom mit vielen Gesichtern gesprochen werden, das den affektiven Störungen zuzuordnen ist. Die lapidar und oft auch fälschlich gegebene Diagnose »Depression« sagt ebenso wenig aus wie die Diagnose »Kopfschmerz« oder »Rückenschmerz« (Schultz-Venrath 2013 [2015], S. 304).
Aus psychodynamischer Perspektive wurde erstmals durch Karl Abraham die »Depression« des Malers Giovanni Segantini durch den frühen Tod seiner Mutter – er war fünf Jahre alt, als sie starb – auf enttäuschte Liebeswünsche, auf frühkindliche Urverstimmung, verdrängten Hass auf die Mutter, abgewehrte grausame Impulse und Schuldgefühle zurückgeführt (Abraham 1911 [1982]). Dem damaligen Zeitgeist folgend, hob Abraham die Triebdynamik der oralen Introjektion sowie des oralen und analen Sadismus hervor und vertrat eine »präödipale Mutter-Ätiologie der Depression: mit der Fantasie von einem ursprünglichen Glück, dem Erleben von Verlassenheit, der abgewehrten Rachsucht und einer unstillbaren Sehnsucht nach der Mutter« (Will 2014, S. 162 f.).
Freud ergänzte in seiner berühmt gewordenen Studie über »Trauer und Melancholie« (1916 – 17f, S. 429) diese Überlegungen, indem er als zentralen Mechanismus der Melancholie die narzisstische Identifizierung mit dem »verlorenen« Objekt der Depression ansah: »… der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich« (ebd., S. 435). Daneben wies er auf den narzisstischen Rückzug solch erkrankter Patienten hin und sprach »von der Auflassung ihrer unbewussten Objektbesetzung und von der Regression der erotischen und aggressiven Libido ins Ich« (Will 2014, S. 163). Dadurch habe man »denn den Schlüssel des Krankheitsbildes in der Hand, indem man die Selbstvorwürfe als Vorwürfe gegen ein Liebesobjekt erkennt, die von diesem weg auf das eigene Ich gewälzt sind« (Freud 1916 – 17f, S. 434). Ferenczis Vorschlag, dass es sich bei der Depression um eine »Introjektionspsychose« handle, die durch eine Störung der »Abgrenzung des Ich vom Nicht-Ich« gekennzeichnet sei, hatte Freud nur partiell aufgenommen (May 2007, S. 4).
Rado (1927) differenzierte als Erster die verschiedenen Depressionsformen in eine melancholische und eine neurotische Depression. Dabei nahm er an, dass zwar die Konflikte und Mechanismen bei beiden identisch seien, die Unterschiede aber in der Struktur des Ich und dessen Objekt- und Realitätsbeziehung bestünden. Edith Jacobson (1977) differenzierte die jeweiligen ich-strukturellen Niveaus, die mit depressiven Zuständen verbunden sein können, und unterschied zwischen einem neurotischen, einem Borderline- und einem psychotischen Niveau der Depression sowie zwischen verschiedenen Formen depressiver Zustände.
Die Erkenntnis, dass sich psychische Erkrankungen meist nicht auf einen spezifischen Konflikt zurückführen lassen, wie dies das diagnostische und klassifikatorische Vorgehen der frühen Psychoanalyse noch vertrat, führte zur entscheidenden Weiterentwicklung der psychodynamischen Krankheitslehre. Wichtige Entwicklungen der Objektbeziehungstheorie und der intersubjektiven Theorie, einschließlich des Mentalisierungsmodells, trugen dazu bei, dass die Trias von Konflikt, Abwehr und spezifischem Krankheitsbild, wie sie die klassische psychoanalytische Krankheitslehre postulierte, abgelöst wurde.
Als einer der Ersten, die sich für eine Weiterentwicklung der psychodynamischen Theorie und Praxis interessierten, vertrat Mentzos (1982, 2009) eine dreidimensionale Diagnostik für psychische Störungen, die die strukturelle Ebene, die Konfliktebene und die Abwehr- bzw. Kompensationsmechanismen berücksichtigte:
Mit der ersten Dimension (Modus) beschrieb er die Art der Abwehr und die Modi der Kompensation einer Störung, die entschieden, welche Symptomatik und welches Erscheinungsbild bei einer psychischen Störung vorrangig seien. Dabei sollten die Abwehrprozesse und die Kompensation eines Konflikts oder eines psychischen Traumas immer auf zwei Ebenen, der intrapsychischen und der interpersonellen, betrachtet werden. Besonders der Blick auf den interpersonellen Abwehrmodus lasse gut sichtbar werden, in welcher Art und Weise der Patient seine Beziehung zum Objekt konstelliere, damit sie für ihn kompensatorisch wirksam ist. Auf früheren psychoanalytischen Theorien zur Abwehr aufbauend, nutzte Mentzos eine Hierarchie von reifen und unreifen (frühen) Abwehrmechanismen. Zu den reiferen Abwehrmechanismen zählen Intellektualisierung, Rationalisierung, Affektisolierung, Verschiebung, Identifikation und Verdrängung, zu den unreiferen Idealisierung, Projektion, psychische Introjektion, projektive Identifizierung, Abspaltung, Verleugnung, Dissoziation, Somatisierung und Agieren.
Die zweite Dimension (Konflikt) bezog sich auf die Art und die Reife des Konflikts. Sidney Blatts Arbeiten zur Depression integrierend, ging Mentzos von einem dialektischen Prozess zwischen einem selbst- und einem objektbezogenen Pol aus. Die normale psychische Entwicklung sei ein Oszillieren zwischen Tendenzen nach Identität, Autonomie und Autarkie auf der einen Seite und Wünschen nach Nähe und Bindung auf der anderen. Gerate der dialektische Prozess durch bestimmte Faktoren wie z. B. neurobiologische Dispositionen, Persönlichkeit und bestimmte psychosoziale Konstellationen in eine Dysbalance, führe dies zur Entwicklung bestimmter Grundkonflikte, je nachdem, welcher Pol der Entwicklung beeinträchtigt sei. Auf dieser Basis formulierte Mentzos folgende sieben Grundkonflikte:
Autistischer Rückzug versus Fusion mit dem Objekt
Absolut autonome Selbstwertigkeit versus vom Objekt absolut abhängige Selbstwertigkeit
Separation versus Abhängigkeit sowie Individuation versus Bindung
Autarkie versus Unterwerfung und Unselbständigkeit
Identifikation mit dem Männlichen versus Identifikation mit dem Weiblichen
Loyalitätskonflikte
Triadische »ödipale« Konflikte
Die dritte Dimension (Struktur) bezieht sich auf die Reife der Persönlichkeitsorganisation, die im Wesentlichen in der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (Arbeitskreis OPD 2009) aufgegangen ist. Sie schließt die Art und Weise mit ein, wie die Beziehung zum Ich und zum Objekt gestaltet wird.
Wir schlagen vor, dieses dreidimensionale Modell um die Mentalisierungsfähigkeit als vierte Dimension zu erweitern. Damit bietet sich die Möglichkeit, Mentalisieren, das strukturell bedingt ist und kontext- und bindungsspezifisch variiert, mit der Erstdiagnostik zu erfassen und im Verlauf und am Ende einer therapeutischen Behandlung zu reevaluieren.
Die aktuelle psychodynamische Depressionsforschung formuliert ein integratives Modell der Depression, das die Heterogenität depressiver Erkrankungen hinsichtlich ihrer psychodynamischen, strukturellen und neurobiologischen Aspekte widerspiegelt. Mit dieser Grundhaltung schlugen Will und Mitarbeiter (Will 2014; Will et al. 2008) folgende praktikable Einteilung der depressiven Störungen in fünf Subgruppen vor:
depressive Reaktion auf belastende Lebensumstände
depressive Neurose/Charakter auf neurotischem Strukturniveau (mit gut integrierter Struktur)
depressive Neurose/Charakter auf mittlerem Strukturniveau (mit mäßig integrierter Persönlichkeitsstruktur, zum Beispiel bei narzisstisch oder psychosomatisch Depressiven)
Borderline-Depression bei schweren Persönlichkeitsstörungen mit gering integriertem Strukturniveau
psychotische Depression (Melancholie) mit im psychotischen Zustand desintegrierter Persönlichkeitsstruktur
Inzwischen werden in der medizinischen Terminologie, insbesondere im DSM-V, unter dem Begriff »Depressive Störungen« unterschiedliche Schweregrade (von leicht bis schwer) und die Berücksichtigung der Dauer (Persistierende Depressive Störung ...