Von Ödipus zu Narziß.
Vor dem Ausbruch des 1. Weltkrieges widmet S. Freud seine Aufmerksamkeit einem Manuskript, in dem er einen Versuch unternimmt, die Lustökonomie des Narzissmus zu untersuchen, um die Verteilung seelischer Kräfte vorzustellen, welche, wie er glaubte, diesen Charakter bestimmen (Freud, 1914).
Es ist offensichtlich, daß sich entsprechende Gedankenfolge aus vorangehenden Texten ableitete, die er in diesem Manuskript zitiert. In seinen Überlegungen über die Natur und Ursprung des Narzissmus setzt er sich mit bekannten psychischen Phänomenen auseinander, die auch in anderen seinen Werken vorkommen, aber diesmal werden sie aus narzisstischer Perspektive betrachtet und im Zusammenhang mit dem Narzissmus erläutert. Die auf diese Weise hergestellten Verbindungen zeigen, daß Narzissmus der Psyche innenwohnend ist, und nur infolge diverser Abweichungen von seinem Normalzustand als narzisstische Krankheit in Erscheinung tritt, d.h. ätiologisch relevant wird.
In seinem Manuskript gibt S. Freund kurze, aber treffende Darstellung dieses Phänomens, die damaligen Wissensstand voll und ganz entspricht, und die aus heutiger Sicht nicht zu beanstanden ist, obwohl an manchen Stellen obsolet geworden (referiert von Kernberg, Hartmann, Diamond und anderen, 2006). Zu unserem allgemeinen Bedauern wurden seine Gedanken von diesem Thema durch die Ereignisse des Krieges abgelenkt, so daß er sich, von äußeren Umständen beeinflußt, zurück zu der Geschichte von Ödipus kehrte, und sich in nachfolgenden Schriften mit dem Todestrieb befasste (Freud, 1915), was im Nachhinein als großer Verlust für seine Lehre und für die Allgemeinheit bewerten kann.
Hier spielt noch eine Rolle, daß die Begegnung mit Ödipus für S. Freud schicksalhaft war. Bereits 1873 las er „König Ödipus“ von Sophokles im Original, später verarbeitete er klassisches Sujet zum psychoanalytischen Konzept (1900, 1909, 1913, 1924). In gewissem Sinn wurde Ödipus zu seiner idée fixe, die er oder sie ihn im Laufe seines Lebens verfolgte.
Von Ödipus zu Narziss: Die Veränderung des Paradigma oder nur die Verschiebung der Symbole?
Ich meine, Ödipale Prozesse sind nur ein spezifischer Fall der Psychogenese, die von genetischen und epigenetischen Programmen kontrolliert und von induzierenden Umwelteinflüßen bestimmt wird, während das eigentliche Ziel dieser Genese die Ausformung eines Individuums darstellt, das mehr oder weniger über sich selbst und die Prozesse, die zu seiner Entstehung führen und in seinem Inneren ablaufen, informiert ist, und mehr oder weniger seine Entwicklung und diese Prozesse beeinflussen kann, also der Herr in seinem Hause ist. Wenn man die Psychogenese so versteht, symbolisiert Narziss mehr als Ödipus die Möglichkeit, sich selbst zu erkennen und darüber hinaus noch in die Tiefen eigener Seele zu blicken.
Wie tief?
Narziss stand zu Freud‘s Zeiten im Schatten von Ödipus, obwohl es schon damals zu überlegen war, ob nicht Ödipus sondern Narziss in den Vordergrund psychoanalytischer Theorie treten sollte. Nach S. Freud hat man ihm ausreichend Aufmerksamkeit geschenkt, nicht zuletzt, weil der Selbsterhaltungstrieb, der, im Gegensatz zum Todestrieb, als Oberbegriff für Vitalität, Sexualität und Individualität zu verstehen ist, ins Zentrum der Verhaltensforschung rückte, und somit zur treibenden Kraft des wissenschaftlichen Interesse wurde.
Und tatsächlich, was kann offensichtlicher sein als die Regung, die Gefahr zu entkommen, um eigenes Leben zu retten, sowie die Bestrebung jedes Lebewesens, sich zu ernähren und besseres Schicksal zu suchen? Diese Regungen waren auch für Ödipus sowie für seine Eltern keinesfalls fremd. Im Gegenteil, suchten sie, jeder für sich, ein besseres Schicksal; wer von ihnen daran Schuld war, das ihnen etwas anderes zugefallen ist, als sie suchten?
Auf der Suche nach den Ursprüngen des Verhaltens und nach den Gründen für Verhaltensunterschiede, wie sie auf so eindrucksvolle Weise in altgriechischen Sagen geschildert sind, stoßt man unweigerlich auf Prädispositionen. Das frühere Schicksal heißt heute Veranlagung und Lebensumstand, während Diagnose und Prognose den Orakelspruch ersetzen. Trotz bisherige Erklärungsansätze bleibt vieles rätselhaft, weswegen angebracht scheint, einige Schritte zurück zu gehen, um das Gesamtbild ins Auge zu fassen.
In diesem Gesamtbild bleibt die Rolle der Psychoanalyse in der Aufklärung psychischer Vorgänge unbestritten, obwohl manche das bezweifeln und fragen, ob es überhaupt Psyche gibt.
Die Atembewegung repräsentiert wie keine andere Lebenserscheinung psychische Evidenz. Kein Wunder, daß im Altgriechischen der Begriff der Seele ψυχή vom Verb ψύχω atmen, wehen abgeleitet wurde.
Ein biologisches Individuum mit ihm innewohnender Psyche bestehen vom ersten bis zum letzten Atemzug, obwohl das Atmen in menschlichem Lebenszyklus nie aufhört. Das Atmen ist die Umkehrung der Photosynthese und somit ihr Kompliment, und, obwohl Pflanzen gleichfalls atmen, sind sie die Voraussetzung für die Existenz der Tiere, die sich nicht nur vom Sauerstoff leben sondern auch von den Pflanzen ernähren, womit sie zum Bestand des Bodens beitragen, welcher für die Pflanzen, die am Land leben, unentbehrlich ist.
Solche Verbundenheit hat ursprünglichen Charakter; manche sprechen vom Panpsychismus, was seine Berechtigung hat, die wissenschaftliche Erklärung besteht darin, daß biologische Systeme keinen Kopf oder das Nervensystem brauchen, um intelligent zu sein und sich intelligent zu verhalten, eine Zusammenfassung findet man bei Baluška und Levin (2016).
Dennoch entwickelt sich sowohl das Nervensystem als auch der Kopf bei manchen Lebewesen, was infolge der Komplexitätssteigerung ihres Verhaltens geschieht. Die Grundlagen des Verhaltens sind seine Beweggründe, die in Tropismen und Taxien realisiert werden, wobei auch Emotionen und Motiven höher entwickelter Organismen dazu gerechnet werden müssen.
Der Hauptmotiv jedes Lebewesens ist die Selbsterhaltung, und der Selbsterhaltungstrieb erklärt sich aus dem Zusammenwirken einzelner Elemente eines Systems, das aus Detektoren des inneren Zustandes sowie aus Effektoren besteht, welche bei jeder Verletzung der Homeostase zur Wiederherstellung des optimalen physiologischen Zustandes beitragen. In diesem Sinne sollen gleichfalls psychische Zustände und Reaktionen als Wiederherstellung des psychischen Gleichgewichts verstanden werden, so z.B. die Wunscherfüllungsträume. Die Wahrnehmung innerer Zustände ist einer der Hauptgründe für die Entwicklung des Bewußtseins mit allen seinen Einzelfunktionen, u.a. Reflexivität (self-reference), Selbstbild (self-concept), Selbstfürsorge (self–care), Selbsterhaltung (self-preservation).
Individualisierung läuft bekanntlich über und auf die Wahrnehmung innerer Stimme, eigener Interessen, Bedürfnisse, Wünsche, innerer, subjektiver Realität, auf und über das, was als selbstreflexives Vermögen bezeichnet wird, und was die Wahrnehmung der Unterschiede zwischen Selbst und anderen, auf das Hinterfragen der Tradition hinausläuft.
Das Auftauchen des Individuums in einer Menge, die noch als Herde existiert und vom Herdentrieb zusammengehalten wird, bedeutete qualitativen Sprung zur Auflösung des unbewußten Zustandes und des Erlangens des Bewußtseins, des Bewußtwerdens eigener Regungen und Wünsche, die oft konträr zum Herdentrieb waren und diesem widersprachen. Ein Widerspruch erheben gegen das, was selbstverständlich schient, was immer schon so und nicht anders war, ist eine schwere Aufgabe, wie jeder Anfang.
Biologische Systeme sind nicht nur der Zusammenhang der Elemente sondern auch ihre Zuordnung. Der Selbsterhaltungstrieb leitet sich von dieser Zuordnung ab als Reaktion auf die Änderung der Umgebung und als Adaptation auf diese Änderung. Das Nervensystem vermittelt zwischen Umwelteinflüssen und Bedürfnissen des Körpers, und errechnet die Verhältnisse, die notwendig wären, um Gefahren zu entkommen und optimalen innerkörperlichen Zustand zu erreichen. Nach der Errechnung des Verhaltens erfolgt die Neupositionierung durch die Bewegung, und, während errechnete Bewegung ausgeführt wird, werden schon nächste Schritte prospektiv berechnet.
Das Lernen ist dichotomisch strukturiert: Adäquate Handlungen, die im Nachhinein positiv bewertet werden, bleiben in Erinnerung, d.h. werden strukturell im Neurom festgehalten, falsche Handlungen, dagegen, werden verworfen und aus dem Gedächtnis gestrichen, weil aus Mißerfolgen nur schwer lernen kann, oder sie werden zu Last und Hemmung.
In diesem prospektivischen und prognostischen modus operandi kreiert das Neurom unmittelbare oder entfernte Zukunft, die zur Grundlage der Handlung wird; die Zukunft entsteht sozusagen neu in jedem Moment unseres Daseins als eine Hypothese und die damit verbundene Erwartung. In weiteren Schritt erfährt diese hypothetische Zukunft eine Prüfung, woraus Rückschlüsse auf die Korrellierbarkeit zwischen Erwartung und Wirkung gezogen und, falls notwendig, entsprechende Korrekturen vorgenommen werden. In paradoxer Umkehrung der Abfolge von Zukunft und Gegenwart geschieht die Prüfung ihrer Entsprechung im Prozess neuronaler Kommunikation und Synchronisation, was eine koordinierte Handlung in variabler Umgebung ermöglicht.
Durch den Umstand, daß die zum Inhalt des Gedächtnisses...