Wie führt man richtig?
Das Ideal
«Die ideale Führungspersönlichkeit braucht: die Würde eines Erzbischofs, die Selbstlosigkeit eines Missionars, die Beharrlichkeit eines Steuerbeamten, die Erfahrung eines Wirtschaftsprüfers, die Arbeitskraft eines Kulis, den Takt eines Botschafters, die Genialität eines Nobelpreisträgers, den Optimismus eines Schiffbrüchigen, die Findigkeit eines Rechtsanwalts, die Gesundheit eines Olympiakämpfers, die Geduld eines Kindermädchens, das Lächeln eines Filmstars und das dicke Fell eines Nilpferds.» Der innenpolitische Sprecher der SPD-Bürgerschaftsfraktion, Ingo Kleist, zum idealen Profil eines neuen Polizeipräsidenten für Hamburg.
So pointiert dieses Bonmot auch formuliert ist, viel Wahres ist doch daran: Die Anforderungen an eine moderne Führungskraft sind überaus vielfältig und widersprüchlich. Für ständig wechselnde Situationen braucht die Führungskraft von heute eine große «personale Bandbreite» oder, anders ausgedrückt: eine Vielzahl von inneren Möglichkeiten, zu reagieren und zu agieren, die fast übermenschlich erscheinen will. Übermenschlichkeit ist aber kein gutes und realistisches Ideal für einen Menschen. Das ist der Grund, warum wir in unseren Fortbildungen für Führungskräfte ein anderes Ideal anpeilen, nämlich das Ideal der Souveränität 2. Ordnung. Was ist damit gemeint?
Souveränität 1. und 2. Ordnung: die Verbindung von Professionalität und Menschlichkeit
Wer auf Souveränität 1. Ordnung aus ist, der versucht, immer «Herr der Lage zu sein», jede Situation optimal zu meistern, sich keine Blöße zu geben, unangreifbar und unverwundbar zu sein, kurzum: ein perfekter Profi, der keine menschlichen Schwächen, Verwundbarkeiten kennt, der durch nichts und niemanden zu beirren ist, der sich keine Nachdenklichkeit anmerken lässt.
Demgegenüber bevorzugen wir ein Verständnis von Professionalität, die ein menschliches Antlitz trägt, die menschliche Schwächen und Fehlbarkeiten, menschliche Empfindlichkeiten und momentane Verwirrtheiten einschließt. Dieses Verständnis von Professionalität eignet sich möglicherweise weniger für einen Piloten im Cockpit, jede Unperfektheit kann hier schnell gefährlich werden. Sie eignet sich aber umso mehr für einen anderen Kontext, von dem hier ja die Rede ist, für die Begegnung von Mensch zu Mensch.
Wie man richtig führt
Wenn die Souveränität 2. Ordnung, also die Verbindung von Professionalität und Menschlichkeit, das Ideal ist, dem eine Führungskraft nachstrebt: Was bedeutet das nun für ihr Verhalten in einer konkreten Situation? Wie soll sie z.B. reagieren, wenn eine Mitarbeiterin, die noch neu im Team ist, folgendermaßen auf sie zukommt: «Also, ich weiß nicht recht: Ich werde das Gefühl nicht los, dass mich die neuen Kollegen regelrecht abblitzen lassen. Mir scheint es, als würden persönliche Gespräche abgebrochen, sobald ich in die Nähe komme …»
Soll sich die Führungskraft zuständig fühlen und Maßnahmen zur Teamintegration einleiten? Oder wäre es nicht besser, die Mitarbeiterin zu ermutigen, das Problem selbst anzugehen, unter Umständen, sie zu coachen bei der Art, wie sie es lösen kann? Oder wäre es richtig, die Angelegenheit bei der nächsten Teamsitzung auf die Tagesordnung zu setzen und gemeinsam im Team zu besprechen? Oder wäre nicht gerade dies ein großer Fehler, da etwas, das noch unklar ist und vielleicht auch nicht alle betrifft, zu einem Tagesordnungspunkt gemacht wird?
Da wir davon ausgehen, dass sich ein richtiges, gutes Führungsverhalten nur aus den Besonderheiten der Situation und den Besonderheiten der menschlichen Verfassung in dieser Situation ableiten lässt, kann nur die Führungskraft selbst, die sich in dieser Situation befindet, die für sie passende Antwort finden. Das richtige Führungsverhalten ist nicht auf Rezept zu haben, man muss es an sich herausfinden und entwickeln, es ist also immer eine kleine Erfindung «Marke Eigenbau». Jeder ist dabei selbst der kompetenteste Experte für seine Führungssituationen und für sich selbst.
Aber auch Experten können Beratung brauchen. Deshalb wollen wir Sie im Folgenden dabei unterstützen, für sich herauszufinden, welches Führungsverhalten das richtige in den unterschiedlichen Situationen Ihres Führungsalltags ist. Grundlage des Selbst-Herausfindens muss einerseits eine klare Bewusstheit über die Situation sein, in der ich mich befinde, und des Systems, in dem ich mich bewege, andererseits eine klare Bewusstheit meiner selbst in dieser Situation. Versuchen wir also diese doppelte Bewusstheit nach innen und nach außen zu entwickeln.
Beginnen wir mit der grundsätzlichen Situation, in der ich mich als Führungskraft befinde. Ein Wesensmerkmal dieser Situation ist die Widersprüchlichkeit der Anforderungen.
Die Führungskraft im Spannungsfeld von Humanität und Effektivität
Führungskräfte müssen in ihrem Alltag sehr unterschiedlichen, nicht selten auch gegensätzlichen Anforderungen gerecht werden. Einer dieser grundsätzlichen Gegensätze ist z.B. der folgende: Auf der einen Seite muss eine Führungskraft dafür sorgen, dass Ziele erreicht, Aufgaben erfüllt, Ergebnisse produziert, Termine eingehalten werden und dadurch der «Shareholdervalue» maximiert wird. Auf der anderen Seite heißt es dann aber auch, darauf zu achten, dass «die Mitarbeiter das wichtigste Kapital des Unternehmens sind», dass nur zufriedene Mitarbeiter gut arbeiten und die Atmosphäre im Team stimmen muss.Was auf den ersten Blick wie unvereinbare Gegensätze aussieht, sind nicht selten zwei Seiten einer Medaille, zwei positive Ausrichtungen, die nur für sich genommen, ohne den Ausgleich der anderen Seite, Gefahr laufen, in ein negatives Extrem abzurutschen. Stehen sie in einem positiven Spannungsverhältnis, können sie eine gelungene Ergänzung bilden (das dieser Darstellung zugrunde liegende Modell, das Werte- und Entwicklungsquadrat, wird im Kapitel 2.4 erklärt):
Es gilt also, die positiven Werte – Effektivität und Humanität – so auszubalancieren, dass man auf Dauer weder in das eine noch in das andere Extrem abrutscht. Es handelt sich dabei allerdings um eine dynamische Balance. Dies wird einem spätestens dann bewusst, wenn eine Situation eine Entscheidung verlangt, die in das eine oder das andere Extrem tendiert, wenn man z.B. einen fähigen Mitarbeiter entlassen muss. Umso wichtiger ist es dann, den anderen positiven Wert nicht aus den Augen zu verlieren und die Balance möglichst bald wiederherzustellen, indem man sich z.B. dem zu entlassenden Mitarbeiter gegenüber so offen und fair wie in dieser Situation möglich verhält.
In ihrem Alltag bekommt eine Führungskraft die Gegensätzlichkeit dieser und anderer Anforderungen oft dadurch unmittelbar zu spüren, dass sie von unterschiedlichen Personen an sie gestellt werden, es besteht ein so genannter Intra-Rollenkonflikt.
Die «Sandwich-Position»: die Führungskraft, ein «armes Würstchen»?
Da diese Anforderungen von oben und von unten gestellt werden, nennt man diesen Intra-Rollenkonflikt auch die «Sandwich-Position» der Führungskraft im mittleren Management. Vergegenwärtigt man sich die Vielzahl der Rollenpartner, die irgendetwas von der Führungskraft wollen, wie z.B. Mitarbeiter, Vorgesetzte, Personalentwickler, Kunden, bekommt man den Eindruck, eine Führungskraft im mittleren Management müsse sich wie ein «armes Würstchen» fühlen, eingewickelt in ihre Führungsrolle, zu keiner freien Bewegung mehr fähig (s. Abb. 1, S. 18, und vgl. Schulz von Thun, 1998, S. 166ff.).
Die in der Abbildung auftretenden Rollenpartner sind noch nicht einmal alle, die in der Praxis Einfluss auf die Führungskraft nehmen können. Hinzu kommen Kollegen, Vertreter anderer Unternehmensbereiche, der Betriebsrat usw. Sie alle können mit unterschiedlichen Mitteln mehr oder weniger großen Druck auf die Führungskraft ausüben.
Die Auseinandersetzung mit der Führungsrolle : eine klare Linie entwickeln
Um nun nicht tatsächlich als «armes Würstchen» in der «Sandwich-Position» eingequetscht zu werden, muss eine Führungskraft ihre eigene Linie entwickeln. Sie sollte eine klare Vorstellung davon haben, was sie als ihre Aufgabe sieht und was nicht, wo sie anderen entgegenkommt, wo sie ihre Grenzen zieht und was sie ihrerseits von anderen erwartet. Hat sie diese klaren Vorstellungen nicht und versucht sie es allen recht zu machen, ist die Gefahr groß, dass die Führungskraft zum Spielball ihrer Rollenpartner und deren unterschiedlichen Erwartungen wird. Hat sie sich nicht rechtzeitig abgegrenzt und klar Stellung bezogen, wird sie für die unvermeidbaren Versäumnisse – denn sie kann ja nicht allen widersprüchlichen Erwartungen gleichzeitig gerecht werden – zur Verantwortung gezogen und wird zum «multiplen Prügelknaben» (s. Abb. 2, S. 19 oberer Teil, und Schulz von Thun, 1998, S. 168).
Abb. 1. Intra-Rollenkonflikt im mittleren Management
Hier hilft kein Jammern und kein Klagen über die unbestreitbar schwierige Rolle als Führungskraft, sondern nur die aktive Auseinandersetzung mit dieser Rolle, um eine klare Linie, ein Selbstverständnis zu entwickeln, mit dem man diese Rolle ausfüllen will. Es geht darum, sich diese Rolle anzueignen, sie sich zu Eigen zu machen, anstatt sich von...