Kapitel 2
Der Wandel des Menschenbildes in der Psychiatrie
Aus dem Übergang vom monadischen, introspektiven, retrospektiven, intrapsychischen Ansatz der klassischen Therapieschulen zur systemischen Sicht erwächst auch ein neues Bild vom Menschen. Kapitel 2 versucht, diesen Übergang parallel zur historischen Erweiterung des wissenschaftlichen Weltbildes darzustellen, das, vom antiken Begriff der statischen Materie ausgehend, seine unerhörte Bereicherung durch das Dazukommen der energetischen Sichtweise erfuhr, und in unserer Zeit völlig neue, zusätzliche Dimensionen durch die Einbeziehung des Begriffs der Information annimmt.
In einem 1911 veröffentlichten Lehrbuch erwähnt der Verfasser, einer der hervorragendsten Vertreter der europäischen Psychiatrie unseres Jahrhunderts, den Brief eines Schizophrenen an seine Mutter:
Liebe Mamma! Heute befinde ich mich besser als gestern. Es ist mir eigentlich gar nicht um’s Schreiben. Ich schreibe Dir aber doch sehr gern. Ich kann ja zweimal d’ran machen. Ich hätte mich gestern, am Sonntag, so sehr gefreut, wenn Du und Luise und ich in den Park hätten gehen dürfen. Von der Stephansburg hat man eine so schöne Aussicht. Es ist eigentlich sehr schön im Burghölzli. Luise hat auf den letzten zwei Briefen, ich will sagen auf – den Couverts, nein Briefumschlägen, die ich erhalten habe, geschrieben, Burghölzli. Ich habe aber wo ich das Datum hingesetzt, Burghölzli geschrieben. Es gibt auch Patienten im Burghölzli die sagen Hölzliburg. Andere reden von einer Fabrik. Mann kann es auch für eine Kuranstalt halten. […J Alle Menschen haben Augen. Es gibt auch solche, die blind sind. Die Blinden werden dann von einem Knaben am Arm geführt. Es muss sehr schrecklich sein, nichts zu sehen. Es gibt auch Leute, die nichts sehen und noch dazu solche, die nichts hören. Aber ich kenne auch einige, die hören zu viel. Man kann zu viel hören. Man kann auch zu viel sehen. Im Burghölzli hat es viele Kranke. Man sagt ihnen Patienten. Einer hat mir gut gefallen. Er heißt E. Sch. Der lehrte mich: Im Burghölzli giebts viererlei, Patienten, Insassen, Wärter. – Dann hats noch solche, die gar nicht hier sind. Es sind alles merkwürdige Leute.
Und der Verfasser des Lehrbuchs, Prof. EUGEN BLEULER, führt dazu aus:
Ein nicht schizophrener Briefschreiber würde berichten, was an der Umgebung auf sein Befinden Einfluss hat, was ihn irgendwie angenehm oder unangenehm berührt, oder dann, was den Adressaten interessieren kann. Hier fehlt ein solches Ziel: das Gemeinsame aller Ideen besteht darin, dass sie an des Patienten Umgebung anknüpfen, nicht aber, dass sie Beziehungen zu ihm haben. […] Sind aber auch die ausgedrückten Ideen alle richtig, so ist das Schreiben doch bedeutungslos. Patient hatte das Ziel, zu schreiben, aber nicht, etwas zu schreiben.
Vor 70 Jahren waren diese Schlussfolgerungen zwingend und überzeugend: der Brief ist Ausdruck eines zerrütteten Geistes. Wir Heutigen – Laien oder Fachleute – finden es schwierig, den Sinn des Briefs so aufzufassen. In unserem Denken hat sich inzwischen ein Wandel vollzogen; wir sind eher bereit, in diesem Brief Andeutungen zu sehen, Innuendos, die von den Beziehungen des Schreibers zu seiner Mutter und, im weiteren Sinne, zu seinen Mitmenschen und dem Anstaltsmilieu handeln. Noch offensichtlicher wird dieser Wandel im folgenden Zitat aus einem 1970 veröffentlichten Buch:
Mit ihm stimmt etwas nicht
denn er würde sich nicht so verhalten
wenn es bei ihm stimmte
also verhält er sich so
weil etwas mit ihm nicht stimmt
Er glaubt nicht, dass mit ihm etwas nicht stimmt
denn
was unter anderem
mit ihm nicht stimmt
ist, dass er nicht glaubt, dass irgendetwas
mit ihm nicht stimmt
daher
müssen wir ihm zur Einsicht verhelfen,
dass die Tatsache, dass er nicht glaubt, dass irgendetwas
mit ihm nicht stimmt
unter anderem das ist,
was mit ihm nicht stimmt
Es handelt sich hier um ein Zitat aus dem aphoristischen Buch Knoten des Londoner Psychiaters RONALD LAING (1970), das man – mit etwas Humor – ebenfalls als Lehrbuch der Psychiatrie bezeichnen könnte. Der Bezugsrahmen ist hier freilich ein ganz anderer. Es geht nicht um die Manifestationen eines gestörten Geistes, sondern um eine gestörte Beziehung oder, genauer gesagt, um die eigenen Annahmen über die Annahmen des anderen. Diese Annahmen sind aber reine Konstruktionen und nicht feststellbare Tatsachen oder gar platonische Wahrheiten. Die Art und Weise, wie eine Beziehung von den Beziehungspartnern gesehen wird, entzieht sich jeder objektiven Verifikation. Feststellbar ist aber der Grad der Harmonie, die den Partnern aus einer mehr oder weniger übereinstimmenden Definition ihrer Beziehung erwächst, beziehungsweise die Folie à deux, wenn sie allzu weit von der Art und Weise abweicht, wie andere Menschen die Beziehung definieren, oder schließlich die Folgen der schweren Konflikte, die sich aus der Nichtübereinstimmung der individuellen Beziehungsdefinitionen der Partner ergeben.
In diesen wenigen Sätzen ist vieles vorweggenommen, das näher belegt werden muss, um dem Thema dieses Vortrags gerecht zu werden.
Das Menschenbild der Psychiatrie war bekanntlich jahrtausendelang von religiösen, magischen, dämonischen oder abergläubischen Vorstellungen beherrscht. Diese weit zurückliegenden Auffassungen sollen uns hier nicht beschäftigen, obwohl es für einen mit der Materie vertrauten Chronisten sicherlich reizvoll wäre, unleugbare, aber peinliche Parallelen zwischen gewissen «Behandlungs»-Methoden jener finsteren Zeiten und noch bestehenden Praxen aufzuzeigen.
Im Zeitalter der Aufklärung vollzieht sich insofern ein entscheidender Wandel, als man dazu übergeht, auch in den seelischen Störungen nach objektiven Gründen zu suchen. Statt Dämonen regiert nun bekanntlich die Déesse raison und gibt den wissenschaftlichen Ton an. Mit dieser Einsetzung der Vernunft als höchster menschlicher Instanz kommt folgerichtigerweise der Wunsch nach Objektivierung der Welt, d.h. nach der Reinigung des wissenschaftlichen Weltbilds von unbeweisbaren Dogmen, Vorurteilen, Annahmen, Mythen und dergleichen. Der erste Schritt zur Herbeiführung objektiver Ordnung im kaleidoskopischen Durcheinander der Natur bestand darin, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten, verbindende Elemente zu finden und die Gegenstände der Beobachtungen in Gruppen und Untergruppen einzuteilen und danach zu benennen – in einem Wort: zu klassifizieren. Zu diesem Zwecke wurden die Dinge im So-Sein ihrer physischen Eigenschaften erfasst. Und auf die Gefahr hin, die Vereinfachung dieser Darlegung über alles zulässige Maß auszudehnen, ließe sich vielleicht sagen, dass daher die Materie (im antiken Sinne) Forschungsobjekt wurde – wenigstens was ihre eben erwähnten Eigenschaften und Erscheinungsformen betrifft.
Wie jede andere Disziplin stützt sich auch die Psychiatrie auf das wissenschaftliche Weltbild der betreffenden Epoche. Es fällt allerdings auf, dass sie es niemals fertigzubringen scheint, an der Spitze des Fortschritts zu stehen, sondern länger als andere Fachgebiete an den von jenen bereits überholten Paradigmata festhält. Was immer der Grund dafür sein mag, so finden wir, grosso modo, dass das Menschenbild der Psychiatrie sich zunächst am Begriff der Veranlagung reproduziert. In dieser Sicht sind wir von Natur aus auf bestimmte Eigenschaften hin angelegt, die sich freilich erst im Laufe des Lebens verwirklichen und ausprägen. Sie werden aber als vorgegeben und daher weitgehend unveränderlich gesehen. Wenngleich man in diesem Zusammenhang von Materie nur metaphorisch sprechen kann, handelt es sich doch um materielle Eigenschaften, wie etwa die Konstitution. Um die Menschen in ihrem So-Sein zu verstehen, betreibt man Physiognomik; ein Klassifikationsverfahren, das auf ARISTOTELES zurückgehen dürfte und im 18. und 19. Jahrhundert mit Namen wie LAVATER, CARUS und anderen verbunden ist. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickeln GALL und sein Schüler SPURZHEIM eine Methode, die Phrenologie, die bekanntlich die Veranlagungen und daher auch den Charakter eines Menschen aus der Form des Schädels und besonders seiner Unebenheiten ableitet, indem sie aus ihnen Vermutungen auf die darunterliegenden Hirnpartien zieht. Etwas später spricht LOMBROSO vom Reo nuto, dem mit einer organischen Minderwertigkeit geborenen Verbrecher; einem Menschen also, dessen Handeln ein für allemal so festgelegt ist, wie die Farbe seiner Augen.
Während das Bild des Menschcn noch in solchen statischen Eigenschaften gesucht wurde, hatte das Weltbild der Wissenschaft in anderen Sparten diesen materiebezogenen Gesichtspunkt längst hinter sich gelassen. Die entscheidende Wendung, die freilich auch ihrerseits Ansätze bereits in der Antike hat, ergab sich durch die Einführung des Begriffs der Energie. Diese in der Formulierung des ersten Hauptsatzes der Wärmelehre gipfelnde Entwicklung ist für die schwindelerregenden Fortschritte der Technik in den letzten drei Jahrhunderten verantwortlich. Im Zusammenspiel von Materie und Energie, von den angeborenen Gegebenheiten und ihren dynamischen Wechselwirkungen, ergaben sich Verständniskategorien, die dem Weltbild der statischen Materie verschlossen geblieben waren. Mit FREUD – wenn wir wieder von wichtigen Vorläufern simplifizierend absehen wollen – tritt der Begriff der Energie auch in die Psychiatrie ein. Seelische Gegebenheiten werden nun als dynamische Abläufe gesehen. Wie...