1 Wohlfeiler Einstieg – Karikaturen ihrer Selbst
»Besonders des Nachts freute er sich des breiten Raumes im Bette und benutzte sehr ökonomisch diese schöne Zeit, sich für die kommenden Tage zu entschädigen und seine Person gleichsam zu verdreifachen, indem er unaufhörlich die Lage wechselte und sich vorstellte, als ob drei zumal im Bette lägen, von denen zwei den Dritten ersuchten, sich doch nicht zu genieren und es sich bequem zu machen.«
Gottfried Keller, »Die drei gerechten Kammacher«
Im Multitasking karikiert sich die Moderne selbst. Menschen, die unterschiedliche Dinge gleichzeitig verrichten, die gehend simsen, telefonierend Auto fahren und Medien nur noch als Hintergrundgeräusch bei der Hausarbeit oder auf den Laufbändern der Fitnessstudios konsumieren, werden nicht umsonst durch die kritischen Register der Feuilletons gezogen und an den Pranger verfehlter Aufmerksamkeitsökonomien gestellt. Von allen Seiten argwöhnisch beäugt, wird ihnen zum Verhängnis, dass sie zu viel und dass sie vor allem zu viel gleichzeitig tun. Das alles kann weder gut sein, noch kann es auf Dauer gutgehen. Und dass die vielfältigen Lifestyle-Produkte der Unterhaltungselektronik als Ablenkungsagenten stets mit von der Partie sind und dass sie sich in gesteigerter Form in einen Schauplatz irgendwelcher Nebenapplikationen verwandelt haben, macht die Sache auch nicht besser – Knopf im Ohr hin, Smartphone in der Hand her. Der Wunsch nach Konzentration auf das, was früher einmal das Wesentliche genannt und dadurch von Ablenkungen abgeschirmt werden konnte, scheint hoffnungslos naiv. Die gestressten Zeitgenossen haben sich mitsamt ihren Medien in Nebengebräuchen verloren – und das kulturkritische Lamento trägt nicht wirklich dazu bei, sie wieder in die Spur zu bringen. Ein Telefon etwa, das nur noch seinem griechischen Wortlaut folgt und zum Fernsprechen benutzt wird, ist ein markttechnischer Atavismus – ebenso wie ein menschlicher Fernsprecher, der ganz in seinem Tun aufgeht und nicht doch noch irgendetwas nebenbei erledigt, der unter den Bedingungen verkabelter Telefonapparate Männchen kritzelt und Einkaufslisten schreibt oder den Gewinn an schnurloser Freiheit nutzt, um den Geschirrspüler auszuräumen und Wäsche aufzuhängen. So ernst erscheint die Lage, dass die Sorge um das Multitasking längst das Gesundheitssystem und namentlich die Krankenkassen erreicht hat. Die Hauspostille der privaten Krankenversicherung DKV – DKV impulse – warnt in ihrer ersten Ausgabe des Jahres 2011 eindringlich vor den Gesundheitsrisiken des »Multi-Tasking« und propagiert bei ihren Mitgliedern die alte Kunst des systematischen Hinter- und geordneten Nacheinanders.1
Das an dieser Stelle stereotyp angebrachte Argument verweist auf einen unaufhaltsamen Trend zur Selbstökonomisierung, dem die Menschen zunehmend unter- oder gar erliegen. Selbst der Schlaf, so redet man uns inzwischen ein, sei davon betroffen, ist er doch laut der einschlägigen Literatur jene Phase, in der, wenn sonst schon nichts passiert, wenigstens das Gewicht reduziert, Fremdsprachenkenntnisse erweitert oder nachträglich noch die Qualifikation zum Betriebswirt erworben werden soll. Flankiert von unterschiedlichen Theorieangeboten nicht zuletzt der Soziologie, ist es der Typus des unternehmerischen Selbst, den seine eigene Inbetriebnahme und Bewirtschaftung unter jenen Druck setzt, dem er durch Strategien der Gleichzeitigkeit zu genügen sucht.2 Die parallele Abarbeitung unterschiedlicher Tasks, wenn man schon hier die Terminologie der Informatik aufgreifen möchte, sichert ihm Effizienzressourcen, ohne die er gegenüber der Schar anderer unternehmerischer Selbste ins Hintertreffen gerät. Die Folgen dieser Haltung sind so vielfältig beschrieben worden, dass es gleichermaßen wohlfeil wie überflüssig wäre, sie in Exempeln noch eigens vor Augen zu führen.
Abb. 1: Multitasker I (tierisch), gepostet von »Janet« auf dem Blog Do it Better.
An dieser Stelle genügt daher vielleicht der Verweis auf eine entsprechende Ikonografie, die das Multitasking in der Bilderwelt vielgliedriger Gottheiten verortet und mit dem Lotussitz die lokale Herkunft dieser Referenz visuell untermauert.3 Googelt man den Begriff Multitasking unter Zuhilfenahme der Bildfunktion, wird angesichts der Dominanz solch krakenhafter Wesenheiten allerdings noch etwas anderes deutlich: Es sind nicht mehr nur die Zuschreibungen von außen, die in dieser Ikonografie ihre probate Veranschaulichung finden, sondern sie bestimmt mittlerweile in hohem Maße Selbstwahrnehmung und Selbstbild der Betroffenen – wie freimütige Einschätzungen im Internet zeigen.
Abb. 2: Multitasker II (weiblich) (Stock-Fotografie).
Entsprechende Einträge folgen dabei ganz der Geschlechterkonvention und weisen das Multitasking als reine Frauensache aus. Ein Herr gesteht dort unumwunden ein, dass er schon durch die bloße Gleichzeitigkeit von Babybetreuung und Notdurftverrichtung überfordert sei, wohingegen die zugehörige Kindsmutter in der gleichzeitigen Abwicklung von Routinen glänze, so dass bei ihr neben sämtlichen Obliegenheiten der Kleinkinderbetreuung auch noch das Ausfüllen von Steuererklärungen und sogar die Durchführung von Herzoperationen ihren Platz fänden. Wie wirkmächtig das Klischee ist, dem zufolge vor allem Männer an den Anforderungen der Gleichzeitigkeit scheitern, stellt mustergültig eine animierte Bildfolge vor Augen, die der wechselseitigen Ausschließlichkeit von Körperhygiene und Toilettengang bei Männern gewidmet ist – mitsamt ihren verheerenden Folgen für ein derart benutztes Badezimmer.
Abb. 3: Multitasker III (männlich), in animierter Form auf einem portugiesischen Blog gefunden.
Für die Kontextualisierung multitaskingfähiger Wesenheiten taugt jedoch nicht nur der Alltag. Nicht zuletzt ist auch das Reich bloßer Fantasien sachdienlich, wenn dort etwa die genetischen Folgen von Atombombenexplosionen durchgespielt und für alternative Baupläne von Organismen ausgeschöpft werden. In Arno Schmidts Gelehrtenrepublik, einem im Jahr 1957 veröffentlichten Kurzroman aus den Roßbreiten, sind unkontrollierte Mutationen längst dystopische Realität: Mehrgliedrigkeit wie die Hexapodie und artenübergreifender Sex waren in der damals noch fernen Zukunft des Jahres 2008 handlungsleitend – jedenfalls am Ort des Geschehens, einem von Hominiden bevölkerten Streifen im Westen der USA, in dem die bizarren Resultate durch Radioaktivität verursachter Mutationen sorgsam unter Quarantäne gehalten werden.4 Wollte man lieber innerhalb einer natürlichen Natur verbleiben, so fände man auch hier mit vielarmigen Kraken oder vielgliedrigen Tausendfüßlern Protagonisten, die sich zur Veranschaulichung anböten.5 Das Reich der Übertiere hält seine Pforten geöffnet – ebenso wie die technischen Rüstkammern, die ihrerseits mit imposanten Organvervielfältigungen aufwarten. Spidermans Kontrahent Doc Ock (für Octopus) ist eine solche parallel arbeitende Kampfmaschine – bestückt mit einer Batterie unabhängig voneinander einsetzbarer Gliedmaßen, die seine Durchschlagskraft entsprechend potenzieren.
Versucht man, solche Bilder und das Feuilletonwissen über den Alltag überlasteter Multitasker wissenschaftlich zu erfassen, zeichnet sich ein Typus ab, der sich keineswegs in der Kasuistik irgendwelcher Fallgeschichten und Typenkarikaturen erschöpft – um das all(ge)fällige Gender-Argument vom Multitasking-Monopol der Frauen gar nicht erst weiter zu strapazieren.6 Man könnte in ihm mit dem Soziologen Niklas Luhmann nicht weniger als das Resultat eines großangelegten sozialen Wandels sehen, an dessen Ende das aufgeklärte Individuum in seiner vollen Strahlkraft zum Erscheinen kommt. Die für die Systemtheorie Luhmanns alles entscheidende Frage, warum um alles in der Welt ein Individuum identischer mit sich und damit individueller als andere sein können soll, wird, vielleicht nicht in der Theorie, sehr wohl aber in der Praxis, häufig operativ entschieden – auf Kosten und mithilfe konsequenter Zeitnutzungen. Ausgehandelt wird die Individualitätszumutung, die den Übergang von hierarchischen zu funktional ausdifferenzierten Gesellschaftsformationen markiert und damit den Weg in die Moderne ebnet, über Steigerung und Zeitoptimierung, über Strategien der Selbstüberbietung und der mehr oder weniger passgenauen Taktung. Und weil an diesem Punkt die Ausprägung individueller Lebensstile und die Ökonomie der Selbstbewirtschaftung in ihrem theoretischen Anliegen in dieselbe Richtung zielen, erschöpft sich diese Geschichte keineswegs in der erwartbaren Einsinnigkeit lebensweltlich lokalisierbarer Leistungszumutungen. Sie ist gerade nicht auf einzelne Bereiche wie eine im Wandel begriffene Arbeitswelt einzuschränken, die, wie es in einer unlängst ausgestrahlten Fernsehserie hieß, Deutschland unter Druck setzt, sondern sie betrifft das Leben in seiner ganzen Fülle – auch und gerade in der Freizeit,...