Vorwort zur ersten Auflage
Warum machen Menschen Musik? Was ist überhaupt Musik? Wie wirkt Musik auf uns und warum wirkt sie so? Was geschieht, wenn wir Musik hören, machen oder verstehen? Was ist Talent und was geschieht beim Üben? – In diesem Buch geht es um Fragen wie diese. Die Antworten werden im Kopf gesucht, das heißt da, wo Musik „eigentlich“ stattfindet. Gewiss, auch ein Gemälde wird letztlich im Kopf gesehen, nachdem es mit dem Kopf (der den Pinsel lenkte) gemalt wurde; aber es hängt an der Wand, auch wenn keiner hinsieht. Musik hingegen ist nur da, wenn sie erlebt wird. Die Schwingungen in der Luft, die Rillen in der Schallplatte oder die Nullen und Einsen auf einer CD sind ebenso wenig schon Musik wie die im Schrank liegenden Noten. Musik ist zeitliche Gestalt und bedarf des Erlebens und des aktiven Hervorbringens solcher Gestalt. Selbst eine so einfache Melodie wie Hänschen klein entsteht erst dadurch, dass Töne gehört und als Musik erlebt werden.
Wie aber macht unser Gehirn, das Organ des Wahrnehmens, Erlebens, Handelns und Verstehens, in unserem Kopf Musik? – Von allen höheren geistigen Leistungen scheint sich Musik am wenigsten für neurowissenschaftliche Untersuchungen zu eignen. Das Musikhören stellt eine sehr persönliche Erfahrung dar, die oft nur schwer zu beschreiben ist. Der Hörer reagiert emotional auf die vom Komponisten erdachten und den Musikern ausgeführten Bewegungen der Luft. Diese Reaktionen sind stark abhängig von den jeweiligen Vorerfahrungen des Hörers, seinem Interesse, seiner (musikalischen) Erziehung, seiner Kultur und seiner Persönlichkeit. Das gleiche Musikstück kann den einen tief bewegen und den anderen völlig kalt lassen. Wie soll man in Anbetracht dieser Individualität und problematischen Kommunizierbarkeit von Musik zu wissenschaftlichen, d.h. allgemein gültigen Aussagen über Musik gelangen? Da Neurobiologie zu den Wissenschaften gehört, muss man also die Frage stellen, ob die hier angestrebte Naturwissenschaft der Musik überhaupt sinnvoll und durchführbar ist.
Musik kommt einerseits in allen Kulturen vor, ist jedoch andererseits nicht wie die Sprache praktisch lebensnotwendig, weswegen es auch eine deutlich größere Variationsbreite musikalischer Fähigkeiten im Vergleich zu sprachlichen Fähigkeiten gibt. Fast jeder hört Musik, das aktive Musizieren ist jedoch hierzulande eine hoch spezialisierte Aktivität, die von einer kleinen Minderheit aller Menschen mit großer Perfektion ausgeübt wird. Die Frage danach, wie unser Gehirn Musik hervorbringt oder wahrnimmt, scheint also zunächst wissenschaftlich recht hoffnungs- bzw. aussichtslos. Dieser Frage nachzugehen ist jedoch seit einigen Jahren möglich. Die Erforschung des Gehirns hat in den vergangenen etwa zehn Jahren einen beispiellosen Aufschwung genommen. Gerade weil Musik eine so besondere Fähigkeit ist, lassen sich durch das neurowissenschaftliche Studium dieser Fähigkeit wichtige Einsichten in die Funktionsweise unseres Gehirns gewinnen, die keineswegs nur für den Bereich der Musik gelten. Man kann also den Spieß gleichsam herumdrehen: Nicht nur die perzeptuellen oder sprachlichen Aspekte von Musik, sondern auch und gerade deren Individualität und Emotionalität machen neurobiologische Untersuchungen zur Musik überhaupt erst so richtig spannend!
Als Psychiater, Psychologe und Neurowissenschaftler habe ich die Entwicklung der Gehirnforschung beruflich mitverfolgt bzw. mitvertreten und habe – zu einem winzigen Teil – auch daran mitgewirkt. Als musikbegeisterter Nicht-Musikwissenschaftler habe ich zugleich die Ignoranz, die es mir erlaubt, über Musik zu schreiben ohne in – mir gar nicht bekannten – Detailproblemen zu versinken. So erklärt sich die Entstehung dieses Buchs aus einer zunehmend spannungsgeladenen Mischung von beruflichem Erkenntnisgewinn und privatem Enthusiasmus, und es bedurfte lediglich eines Zündfunkens, um diese Mischung zur Entladung (d.h. das Buch zur Entstehung) zu bringen. Dieser bestand in der Einladung meines Ulmer Kollegen Horst Kächele, einen Vortrag über Musik und das Gehirn anlässlich des 13. Workshops zur musiktherapeutischen Forschung im Februar 2001 zu halten. Die Vor- und vor allem Nachbereitungen hierzu uferten gleichsam aus und das Ergebnis liegt vor Ihnen.
Die Verbindung von Neurobiologie und Medizin einerseits sowie Musik andererseits ist ungewöhnlich, jedoch keineswegs an den Haaren herbeigezogen. Die Seele und die Nerven werden seit Jahrhunderten mit der Metaphorik der Schwingung beschrieben, und Ärzte haben – den Gründen sei hier nicht weiter nachgegangen – einen Hang zur Musik, was nicht zuletzt die vielen Ärzteorchester bezeugen. (Kennt jemand ein Juristen-, Wirtschaftswissenschaftler- oder Informatikerorchester?) Die Schnittmenge aus der Gruppe von Menschen, die sich für das Gehirn interessieren, und der Gruppe von Menschen, die sich für Musik interessieren, ist also gar nicht so klein, wie man bei der Verschiedenheit der Sachgebiete zunächst annehmen könnte.
Es ist wohl auch kein Zufall, dass sehr viele Ergebnisse zur Neurobiologie des Lernens beim Menschen sich auf Musik und Musiker beziehen, denn wo sonst wird mit so viel Hingabe an Zeit und Aufwand geübt wie in der Musik? Wer ein Instrument erlernt, verbringt tausende von Stunden mit immer wieder den gleichen oder ähnlichen Bewegungsabläufen und hat entsprechende klangliche Wahrnehmungen, so dass sich die Effekte des Lernens auf das Gehirn des Menschen kaum irgendwo besser studieren lassen als im Bereich der Musik.
Im Hinblick auf das Hören und Machen von Musik ist die Kenntnis der dies ermöglichenden neuronalen Maschinerie zwar nicht notwendig, der Musiker wird aber dennoch vieles besser verstehen, wenn die physikalischen und physiologischen Grundlagen klar sind. So folgt beispielsweise das Design vieler Instrumente ebenso aus der Physik und der Physiologie wie die Tonleiter oder die Architektur von Konzertsälen. In diesem Buch geht es somit um Musik als einem Spezialfall von Wahrnehmen, Denken, Lernen und Handeln, an dem sich viele Einsichten besonders klar verdeutlichen lassen. Musik wird hier zu einer Art Brennpunkt, in dem sich erhellende Strahlen der Erkenntnisse aus verschiedensten Disziplinen (von Psychologie und Philosophie über die Physik zur Neurobiologie und wieder zurück) schneiden, in dem sich Einsichten aus den entferntesten Sachgebieten gegenseitig befruchten und Erfahrungen aus den entlegensten Winkeln unseres Seins überschneiden oder miteinander verschmelzen. Wir gehen ja immer schon, meist ohne viel darüber nachzudenken, mit Musik um, und dieses Buch soll einen Beitrag dazu leisten, diesen Umgang besser zu verstehen.
Was das konkrete Lehren und Lernen von Musik anbelangt, kann die Bedeutung der Forschungsergebnisse aus der jüngeren Zeit in Neurobiologie und Psychologie wahrscheinlich gar nicht überschätzt werden. Das Gehirn ist das Organ des Lernens und das Verständnis seiner Funktionsprinzipien sollte daher für Lehrer und Schüler etwa die Bedeutung haben wie das Verständnis der Funktion eines Motors für den Automechaniker. Im Hinblick auf den Musikunterricht an den Schulen wurde dies erst kürzlich von Ortwin Nimczik (2001, S. 3), Professor an der Hochschule für Musik in Detmold und Mitherausgeber der Zeitschrift Musik und Bildung, formuliert: „Für eine notwendige Neukonzeption [des Unterrichts] bedarf es unabdingbar der verstärkten Berücksichtigung von Erkenntnissen der Musikpsychologie und der neurobiologischen Forschung.“
Die Bedeutung der Physik schwingender Körper für Musik ist seit Pythagoras und Helmholtz jedem geläufig, der sich mit der Materie befasst. Sie ist Gegenstand sehr vieler guter Bücher zu den Grundlagen von Musik. Die Bedeutung der Physiologie, also der Wissenschaft vom lebendigen Körper, und insbesondere der Psychologie und Neurobiologie, der Wissenschaften vom Gehirn, für Musik ist ebenfalls heute sehr deutlich, findet sich jedoch bislang kaum zusammengefasst und für Jedermann zugänglich dargestellt. Diese Lücke soll das vorliegende Buch schließen. Es soll klar werden, was man weiß, wie man es weiß und was man nicht weiß, in einer möglichst einfachen und klaren Sprache.
Das Buch sollte sowohl für den musikalischen Laien als auch für den neurowissenschaftlichen Laien lesbar sein, weswegen ich vereinfachen musste, allerdings immer in dem Bestreben, die Dinge nicht bis zur Unkenntlichkeit oder gar Falschheit zu vereinfachen. Bei Experten auf dem Gebiet der Musik oder Neurobiologie möchte ich mich jedoch an dieser Stelle für die zuweilen für deren Geschmack vielleicht zu starken Vereinfachungen entschuldigen. Ich hoffe dennoch, dass auch ihnen die Lektüre gewinnbringend ist, zumal ich kein entsprechendes Buch auf dem deutschen bzw. internationalen (sprich: englischsprachigen) Markt finden konnte.
Ich habe viele Abbildungen gezeichnet, am Computer generiert oder fotografiert, weil auch im Bereich der Akustik und Musik manchmal ein Bild mehr sagt als tausend Worte. Es soll Spaß machen, dieses Buch zu lesen! Wer bei der Lektüre abstürzt, z.B. bei den Details in den Kapiteln 2 oder 3, sollte es einfach an einer anderen Stelle des Buchs wieder versuchen, vielleicht bei den Babys in Kapitel 6, dem Tanz in Kapitel 8, dem Singen in Kapitel 10, den singenden Buckelwalen und Neandertalern in Kapitel 14, den Wiegenliedern in Kapitel 15 oder der Filmmusik in Kapitel 16. Es ist meine Hoffnung, dass beim Lesen vor lauter Bäumen (sprich: interessanten Details) auch der Wald (der Grundgedanke) nicht untergeht, sondern im Gegenteil immer deutlicher hervortritt: Es geht immer wieder um die Musik im Kopf, also um das an uns und in uns, was Musik überhaupt erst entstehen lässt. Die zum Teil persönlichen...