1 Klinik, Diagnostik und allgemeine Therapie
Für die westlichen Industrienationen beträgt die jährliche Inzidenz primärer Tumorerkrankungen des Gehirns insgesamt 12–20 auf 100.000 Personen. Der Anteil von Menschen, die an oder mit Gehirnmetastasen sterben übersteigt diese Zahl noch um ein Mehrfaches (DeAngelis 2001). Insgesamt zeigt sich in den letzten beiden Jahrzehnten ein Häufigkeitsanstieg der Gehirntumorerkrankungen, der über die durch eine Veränderung der Alterspyramide und verbesserte Diagnostik erklärbare Inzidenzzunahme hinausgeht. Tabelle 1.1 gibt einen Überblick über die relative Häufigkeit bestimmter Tumorentitäten bei primären Tumoren des Gehirns im Erwachsenenalter und im Kindesalter. Nahezu alle Hirntumore zeigen einen Inzidenz-Gipfel in bestimmten Altersklassen. Maligne Gliome und primär zerebrale Lymphome weisen einen Häufigkeitsgipfel im höheren Lebensalter auf, während z. B. zerebrale Ependymome und Medulloblastome ganz überwiegend das Kindes- und junge Erwachsenenalter betreffen. Bei Kindern stellen die Gehirntumore nach Leukosen die häufigste Neubildung mit einer Inzidenz von etwa 3/100.000 Kinder dar.
Tab. 1.1: Relative Häufigkeitsverteilung primärer Gehirntumoren
Tumorhistologie | Kindesalter | Erwachsenen- alter | Altersgipfel bei Erwachsenen (Jahre) |
Glioblastome | 10 % | 30 % | 40–60 |
Oligodendrogliome | 0,5 % | 5 – 10 % | 30–50 |
Meningeome | 0,5 % | 20 % | 40 – 50 |
Medulloblastome | 23 % | 1 % | 20–30 |
Zerebrale Lymphome | selten | 3 % | 50–60 |
Hypophysentumoren | selten | 1–10 % | 35 – 40 |
Plexuspapillome | 1 % | 0,5 % | 20 – 25 |
Intrakranielle Schwannome | selten | 5 – 8 % | 35 – 45 |
Tumoren der Pinealisregion | 1 % | 1 % | 20– 30 |
Die Entstehungsmechanismen, die der Entwicklung von Gehirntumoren zugrunde liegen, sind mit wenigen Ausnahmen ungeklärt. Ein statistisch signifikanter Zusammenhang von kraniellen Bestrahlungen im Kindesalter mit dem Auftreten bestimmter Gehirntumoren nach mehrjähriger Latenz ist zwar gesichert, darüber hinaus gibt es jedoch keinen wissenschaftlich belegten Zusammenhang zwischen dem Auftreten hirneigener Tumoren und Schädel-Hirn-Traumata, Infektionserkrankungen, der Benutzung von mobilen Telefonen oder der Exposition mit biologischen und chemischen Noxen (DeAngelis 2001). Die überwiegende Mehrheit der Gehirntumoren tritt sporadisch auf. Es gibt seltene familiäre Tumorsyndrome, in deren Verlauf auch Gehirntumoren gehäuft auftreten, so z.B. bei der Tuberösen Sklerose, der Neurofibromatose Typ I und Typ II und beim Hippel-Lindau-Syndrom. Wenngleich die Ursache oder besser die multikausalen Entstehungsbedingungen von Gehirntumoren nicht bekannt sind, ist die Molekularpathogenese dieser Tumoren umfangreich untersucht. Sie ist in Kapitel 2 dargestellt.
1.1 Symptomatik intrakranieller Raumforderungen
Kopfschmerzen sind das häufigste Symptom bei intrakraniellen Tumoren; sie betreffen ca. 50 % der Patienten mit primären und metastatischen Gehirntumoren. Typisch sind das Schmerzmaximum in den frühen Morgenstunden, das Neuauftreten von Kopfschmerzen bei bislang beschwerdefreien Personen oder die Änderung des Kopfschmerzcharakters bei Patienten, die unter chronischen Kopfschmerzen anderer Genese litten. Weitere Symptome einer intrakraniellen Druckerhöhung sind Nausea, Nüchternerbrechen und Visusminderung als Folge einer Papillenschwellung. Abhängig von der Lokalisation, von der Histologie, von der Wachstumsgeschwindigkeit und von der Ausbildung eines peritumoralen Ödems können Gehirntumoren initial durch neurologische fokale Zeichen symptomatisch werden: Neurologische fokale Symptome werden verursacht durch die Infiltration neuronaler Strukturen, durch deren unmittelbare Kompression und Druckschädigung oder durch eine Ischämie als Folge einer Kompression der das Parenchym versorgenden Blutgefäße. Fokale oder fokal beginnende, sekundär generalisierte epileptische Anfälle treten bei 30–70 % aller Patienten mit Gehirntumoren auf (Vecht et al. 2006). Uncharakteristisch anmutende Symptome wie vermehrte Reizbarkeit, erhöhte Erschöpfbarkeit, Schlafbedürfnis und Persönlichkeitsänderung können ohne nachweisbare neurologische fokale Symptome auf eine Gehirntumorerkrankung hindeuten. Mitunter führen typische psychische Störungen, die häufig eher den Angehörigen als den Betroffenen selbst auffallen, zum Arztbesuch. Im Gefolge einer Gehirntumorerkrankung auftretende endokrine Störungen und Gerinnungsstörungen bedürfen oftmals der gezielten Therapie. Charakteristische hormonelle Funktionsstörungen und Gesichtsfeldstörungen im Rahmen von Tumoren der Sellaregion werden in Kapitel 3.6 besprochen.
1.2 Diagnostik und Differentialdiagnose
1.2.1 Bildgebung
Die bildgebende Diagnostik zerebraler Raumforderungen ist die Domäne der Magnetresonanztomographie (MRT) und Computertomographie (CT), digitaler Schichtbildverfahren mit der Möglichkeit dreidimensionaler Rekonstruktionen. Die topographischen Beziehungen von Tumoren zu funktionell bedeutsamen Kortexregionen gewinnen besonders in der Gliomchirurgie zunehmende Bedeutung. Moderne Bildverarbeitungstechniken ermöglichen die Fusion von morphologischen Daten aus CT- und MRT-Untersuchungen mit funktionellen Darstellungen wie dem funktionellen MRT (fMRT), der Single-Photonen-Emissions-Computertomographie (SPECT) und der Positronen-Emissions-Tomographie (PET).
1.2.1.1 Computertomographie (CT)
Die CT-Bildgebung ermöglicht eine Bilddarstellung von knöchernen Schädelstrukturen sowie Gehirn und Ventrikelsystem. Ihre Vorteile sind ihre leichte Verfügbarkeit und der unproblematische Einsatz bei Patienten mit Metallimplantaten und beim anästhesiologischen Monitoring. Vor allem bei akuten Krankheitsbildern gibt sie als primäres diagnostisches Verfahren Hinweise auf das Ausmaß einer Massenverschiebung, des Begleitödems und der Auswirkung auf die Liquorpassage.
1.2.1.2 Magnetresonanztomographie (MRT)
Die MRT ist grundsätzlich sensitiver in der Detektion pathologischer Veränderungen im Gehirn und deshalb bei der präoperativen Planung unverzichtbar. Durch die Wahl verschiedener Untersuchungsparameter und Bildgenerierungstechniken ist eine differenzierte Beurteilung verschiedener biologischer Gewebe möglich. Wie in der CT sind Blut-Hirn-Schranken-Störungen durch die Verwendung von Kontrastmittel erfassbar. Mittels MR-Angiographie ist eine Gefäßdarstellung möglich, die z.B. bei parasagittalen Meningeomen die Beurteilung der Durchgängigkeit des Sinus sagittalis superior erlaubt. Der Vorteil der MRT liegt darin, dass die Schichtführung beliebig veränderbar und eine hohe Auflösung auch kleinster anatomischer Strukturen z. B. von Hirnnerven möglich ist. Funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) und Diffusion Tensor Imaging (DTI) sind spezialisierte Untersuchungsmethoden, die eine Lokalisationsdiagnostik von »eloquenten« Hirnregionen bzw. von Bahnsystemen in anatomischer Beziehung zu Gehirntumoren erlauben. Mit der fMRT wird die lokale Änderung der Hirndurchblutung nach gezielter Stimulation (z. B. motorisch,...