Kapitel 2
1981
Bonn, im Oktober. Ich liege am Flussufer und kann mich nicht sattsehen – seit Stunden strömen Menschenmassen über die Rheinbrücke zum Hofgarten. Von 300 000 Demonstranten ist die Rede. Transparente zeigen Friedenstauben oder Parolen wie »Frieden schaffen ohne Waffen« oder »Atomraketen – verschleuderte Moneten«. Weit vorne am Rednerpult klebt ein Schild: »Pershing II – Cruise Missiles – NEIN!«.
Altkanzler Willy Brandt spricht. Und Pfarrer Heinrich Albertz und Petra Kelly und Erhard Eppler und am Ende Heinrich Böll, den ich so sehr schätze – für seine Haltung und seine Menschlichkeit. Am Ende überbringt die Witwe von Martin Luther King Grüße und Zuspruch von den amerikanischen Pazifisten und wir singen »We shall overcome«, die Hymne der Bürgerrechtler. Und wie ich dann nachts über die Rheinbrücke zurückgehe, im Strom dieser gewaltigen Friedensbewegung, und an meine Kinder denke, bin ich hochgestimmt und aufgewühlt – wir sind viele und können es vielleicht schaffen, dass Europa nie mehr zum Schlachtfeld wird.
Auf der Rückfahrt im Bus bleibe ich schlaflos und gehe morgens in Bremen direkt zur Arbeit, mit einem schönen Gefühl, das mich noch lange trägt.
Bald genügt es mir nicht mehr, nur Transparente hochzuhalten.
Eine Fahrradstunde von meiner Wohnung liegt in Garlstedt die US-Kaserne der 2nd Armoured Division aus Texas. Die Panzerbrigade nennt sich selber »Hell on wheels«. Später werden 18 Soldaten von ihnen im Zweiten Irakkrieg sterben. Mit Friedensfreunden blockieren wir die Zufahrten aufs Gelände, die Stimmung ist gereizt, Panzerketten schneiden scharf an mir vorbei. Ich bleibe sitzen, ich bin kein Feigling.
In gewisser Weise werde ich nun mit 60 zum späten Einzelkämpfer und oft, wenn ich mit dem Fahrrad zu meiner Schwester nach Garlstedt fahre, schreibe ich mit dickem Filzstift auf die Schilder am Sperrzaun: AMI GO HOME! – immer auf der Hut vor Militärstreifen.
Im US-Strategiepapier »Air Land Battle« steht, von deutschen Generälen mitunterzeichnet: »Unsere Armeen müssen in einer Weise bewaffnet und ausgebildet werden, dass sie die Kampfaufträge bewältigen können, die wir ab Mitte der Neunzigerjahre auf dem mitteleuropäischen Gefechtsfeld durchzuführen haben werden.«
Ich bin sicher, die Menschen in Russland wollen keinen Krieg – vor allem aber wollen sie nicht, dass er von deutschem Boden ausgeht. Ich bin verzweifelt.
1940
Im Frühjahr 1940 bestand ich mein Vorsemester am Hamburger Technikum und kam danach, wie jeder meines Jahrgangs, zum Reichsarbeitsdienst. Wir haben Deiche gebaut, an der Ostsee, bei Elbing in Ostpreußen. Der Ton war rüde und mit uns schufteten auch einige Polen. Auch wenn wir uns nicht verständigen konnten, waren sie mir sympathisch. In der Schule hatten wir Rassenlehre gehabt, da wurde uns klargemacht: Es gibt eine Herrenrasse – das sind wir – und es gibt Untermenschen, das sind vor allem die Völker im Osten. Und obwohl mir alle sagten, dass ich dumm sei, hatte ich ein kritisches Denken. Ich habe den Lehrern das nicht abgenommen. Warum sollte es Menschen geben, die weniger wert sind? Und als ich in den Wochenschauen sah, wie Hitler forderte: Lebensraum fürs deutsche Volk im Osten – da habe ich mich schon als Jugendlicher gefragt, was heißt das dann für die, die dort leben? Und ich fragte mich auch: Was wäre denn, wenn die das mit uns machen würden? Aber wenn man glaubt, dass es wertvolle Menschen gibt und wertlose, dann hat man auch kein Mitgefühl mit diesen Menschen. Ich hatte dieses Mitgefühl.
Beim Einmarsch in Polen wurde die Mehrzahl der Morde an polnischen Zivilisten von Wehrmachtssoldaten begangen. Der »glorreichen Wehrmacht«.
Vier Wochen hatte der Polenfeldzug gedauert. Dänemark war in einem Tag besetzt worden, Norwegen in fünf Wochen. Und dann der Westfeldzug – Holland, Belgien, Luxemburg und Frankreich binnen sieben Wochen!
Im Sommer 1940 hielt uns die ganze Welt für unbesiegbar.
Ich habe das auch befürchtet.
1985
Wie jeden Donnerstag stehe ich von 17 bis 18 Uhr im Käuferstrom der größten Bremer Einkaufsstraße, zwischen Straßenhändlern und Pflastermalern, mit zwei umgehängten Papptafeln, die mir von der Brust bis zum Knöchel reichen. Vorne drauf steht:
»Wir konsumieren und konsumieren – wir haben die Welt zu einem Kaufhaus gemacht und zerstören sie – die EG gibt jeden Tag 120 Millionen Mark aus, um unverkäufliche Lebensmittel zu lagern und zu vernichten – und jeden Tag verhungern 40 000 Kinder qualvoll.«
Ich dränge mich nicht auf, sondern warte, ob jemand reagiert. Ich bekomme viele freundliche Gesichter zu sehen und häufig sprechen mich Passanten auch an. Dann kommen wir ins Gespräch – über Konsum, die westliche Gesellschaft, Menschlichkeit und die Verantwortung des Einzelnen. Böse Kommentare höre ich selten, mitunter schauen die Leute mit den großen Einkaufstüten kühl, mehr aber nicht. Die meisten sagen, es stimme ja, was da stehe – nur könnten sie nichts ändern. Das stimmt nicht: Mit unserem Verhalten können und müssen wir den Lauf der Welt verändern. So sieht das auch diese neue Partei der Grünen, für die ich Sympathien hege.
Meine Zeilen sagen ja nur, dass wir durch Zuviel-Haben und Noch-mehr-haben-Wollen mitschuldig werden an Hunger und Not in der Welt. Macht und Wohlstand sind ungerecht verteilt. Und damit das so bleibt, werden heute wie damals Soldaten benutzt, dieses Ungleichgewicht zu sichern. Das steht auf der Rückseite meiner Pappen.
Ich weiß, was Hunger ist, ich habe ihn im KZ Esterwegen bis zum Exzess erlebt. Ich bin nicht zufällig in die Eine-Welt-Bewegung geraten. Und in die Friedensbewegung – mein ganzes Leben denke ich an Johanns letzte Worte. »Nie wieder Krieg.« Das gibt mir Kraft.
Mit den christlichen Friedensfrauen bin ich oft bei Mahnwachen gegen die Rüstung, genieße aber auch meine Alleingänge. Vor einer Weile ging ich mit meinen Tafeln auf eine Wahlveranstaltung der CDU – inmitten von Hunderten Unionsanhängern. Da wurde ich dann schon angepöbelt, ein paar versuchten mich wegzudrängen, ich stemmte mich dagegen, einer holte die Polizei, die hat sich das angeschaut und ich durfte bleiben – wir haben schließlich ein Recht auf freie Meinungsäußerung.
Dafür muss man nicht besonders mutig sein – Zivilcourage genügt schon. Vieles tat ich aus Verzweiflung und Wut und weil ich endlich kämpfen konnte. In den Jahrzehnten davor war ich zu kaputt gewesen und hatte erniedrigt als Feigling gelebt. So ist es wohl auch ein Nachholen des Kämpfens, ein spätes Aufbäumen im Dienste einer guten Sache.
Mal sind meine Kinder stolz auf mich, mal befremdet. Mir gibt es jedenfalls Kraft und Halt, jetzt, wo ich bald in Rente gehe.
1941
Ich wollte kein Soldat sein und bin es schließlich am 6. Februar doch geworden, bei der Kriegsmarine. Entziehen konnte sich niemand. Meine Grundausbildung war in Belgien und gleich am ersten Tag eckte ich an, weil ich mich weigerte, die Stiefel und Koppeln der Unteroffiziere zu putzen. Da haben sie mich schikaniert – Liegestütze, durch den Schlamm robben, Strafwachen. Ich habe mich aber weiter gesperrt – ich war nicht mehr der artige Junge.
Es gab noch mehr Schikane und ich wurde noch bockiger. Ich hätte es leichter haben können, aber ich wollte mich nicht einfügen, es ging einfach nicht. Ich wollte kein Laufbursche sein und ich denke, es ging mir schon da um meine Würde.
Nach der Grundausbildung wurden wir an die Kanalküste verlegt, in die Nähe von Dünkirchen, zur »Operation Seelöwe«, der geplanten Invasion Englands. Dafür wurden Hunderte Binnenschiffe umgebaut und mit Ladeklappen versehen. Bei gutem Wetter sollten wir mit Luftunterstützung übersetzen.
Wir lagen auf diesen Schiffen geschützt unter Bäumen, der englischen Jagdbomber wegen. Einmal liefen wir mit rund hundert Schiffen zum Manöver aus, um auf unserer Kanalseite die Landung zu proben. Plötzlich kamen englische »Spitfire«-Jagdflieger und feuerten auf uns. Es gab viele Tote – auch auf unserem Boot. Die Munition durchdrang sogar Schiffswände.
So vergingen Wochen mit Exerzieren und Manövern und Toten. Als Hitler dann am 22. Juni die Sowjetunion angriff, war vollends klar: Das mit der Invasion Englands klappt nicht. Also wurden wir abgezogen und verteilt. Einige von uns landeten bei der Hafenkompanie Bordeaux. Dafür hat man die genommen, die man nicht mehr brauchen konnte, die größten Pfeifen – darunter ich.
Die Hafenkompanie, so um die 250 Mann, war ein ziemlich wüster, unmilitärischer Haufen, fast alle hatten schon mal in Arrest gesessen.
Wir hatten ein gutes Leben in der Etappe und Bordeaux ist eine sehr schöne Stadt. Da die Westalliierten die Atlantikhäfen blockierten, mussten wir nur das französische Beutegut bewachen: Lebensmittel, Rohöl, Waffen, Teppiche, Kunst, Möbel. Und ab und an Franzosen kontrollieren.
Viel war nicht zu tun. Wir wohnten und schliefen auf einem großen französischen Passagierschiff und Rotwein gab es mehr als genug. Die Kriegshölle war woanders.
Am Hafen arbeiteten auch Franzosen, mit denen wir uns gut verstanden – Wachleute, Feuerwehrmänner, Dockarbeiter. Manche konnten Deutsch – dass unter ihnen Widerstandskämpfer waren, habe ich erst später begriffen.
In der Hafenkompanie lernte ich Kurt Oldenburg kennen, den ich sofort mochte. Wir sind viel gemeinsam herumgezogen, flanierten am Hafen, saßen in den Cafés und schauten den Mädchen hinterher – wir waren ja beide erst 19.
In den Monaten in Bordeaux habe ich viel Feldpost an meinen Vater und...