1. Auf dem Zeitstrahl durch die Geschichte des NLP
1.1 Kreativ-wilde Zeiten: die 1960er- / 1970er-Jahre
Während du dieses Kapitel liest, lernst du zugleich ein erstes NLP-Format kennen: eine Timeline-Arbeit. Wir laden dich ein, dich auf ein kleines mentales Abenteuer einzulassen, auch wenn wir das dahinterliegende Konzept erst im Abschnitt 8.2 „Timeline-Arbeit“ vorstellen werden. Du vertiefst die Wirkung, wenn du dazu zwei alte Woodstock-Songs spielst. Falls du sie nicht in deiner Musiksammlung hast, findest du sie leicht auf YouTube7: „If you’re going to San Francisco“ (Scott MacKenzie) und „Give peace a Chance“ (John Lennon). Halte bitte das erste Stück zum Abspielen bereit. Auf unseren Hinweis „Start“ hin kann es dann sofort losgehen. Das zweite Stück spielst du bitte ab, sobald wir dich im weiteren Text dazu auffordern.
So vorbereitet, stelle dir bitte jetzt vor, du könntest auf einem Lichtstrahl durch die Zeit düsen. Du kannst zurück in die Vergangenheit reisen oder voraus in die Zukunft. Du kannst nach Belieben die Richtung wechseln, also dich aus der Vergangenheit direkt in die Zukunft beamen und umgekehrt, Erfahrungen aus der Vergangenheit nutzen, um die Gegenwart besser zu verstehen – und: die Zukunft kreieren. Ja, das geht mit NLP, doch langsam, der Reihe nach.
Zunächst katapultieren wir uns in die späten 60er-, frühen 70er-Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Du spazierst über einen weißen Sandstrand und wunderst dich über die gigantischen Wellen, auf denen schwarz gekleidete Surfer waghalsig herumreiten. Solche Kracher hast du noch nicht gesehen. Auch die Menschen am Strand wirken auf dich irgendwie – merkwürdig: Einige laufen halbnackt herum, andere tragen lange, ausladende weiße und bunte Gewänder, Jeans, Lederstiefel. In deiner Nähe hörst du einen Mann zur Gitarre singen (und drückst jetzt auf „Start“):
„If you’re going to San Francisco“
Während du vorbeigehst, singt er gerade den Textteil, der übersetzt etwa so lautet:
„In der ganzen Nation herrscht so eine starke Schwingung – die Leute sind in Bewegung – Da ist eine ganze Generation mit einer neuen Erklärung – Die Leute sind in Bewegung – Wenn du nach San Francisco gehst, trage Blumen in deinem Haar – Wenn du nach San Francisco gehst, wirst du einige sanftmütige Leute treffen – Wenn du nach San Francisco kommst, wirst du den Sommer der Liebe erleben.“
Ein paar Schritte weiter locken dich Percussion-Rhythmen an. Hunderte junge Menschen haben die Musiker in ihre Mitte genommen, hocken am Boden und klatschen im Takt der Trommeln zweimal auf den Boden und einmal in die Hände: Boden – Boden – Hand; Boden – Boden – Hand, bum – bum – klatsch, bum – bum – klatsch. In diesem Takt singen die Musiker einen seltsam anmutenden Text. Jetzt ist die Zeit für das zweite Lied gekommen:
„Give peace a Chance“
„Let me tell you now – everybody’s talking about: revolution, evolution, masturbation, flagellation, regulation, integrations, meditations, United Nations, congratulations …“
Dann setzt das Publikum ein, beendet das Klatschen und grölt:
„All we are saying is give peace a chance,
All we are saying is give peace a chance.“
(Übersetzt etwa: Lasst es mich euch jetzt sagen: Alle reden über Revolution, Evolution, Masturbation, Flagellation, Regulation, Integrationen, Meditationen, Vereinte Nationen, Gratulationen – Alles, was wir sagen, ist: Gebt dem Frieden eine Chance!)
„Verrückte Welt“, denkst du, als ein Mann mit Spitzbart und Cowboystiefeln dich zum Mitmachen einlädt. Du folgst. Etwas unbeholfen noch, verschämt fast klatschst du im Rhythmus der Masse zweimal auf den Boden und einmal in die Hände. Da fixiert der Fremde dich mit seinen Augen und lenkt deinen Blick mit einer Bewegung seiner Hände nach oben, in Richtung Himmel. Plötzlich spürst du einen Ruck in dir, und der fremde Mann schreit: „Go for it, now!“ Dabei zieht er das „now!“ ungewöhnlich in die Länge, etwa „naaaaaau!“. Und du trommelst mit den Händen kraftvoll auf den Boden und klatschst dann in die Hände – bum – bum – klatsch, bum – bum – klatsch – und dann schreist du die Botschaft mit den anderen zusammen in die Welt: „All we are saying is give peace a chance.“
Eine typische Szene der späten 60er-, frühen 70er-Jahre: Die Woodstock-Generation rüttelt an den Grundfesten gesellschaftlicher Vorstellungen. Sie stellt alte Weltbilder in Frage. Der allgegenwärtige Wind der Veränderung findet seinen Ausdruck in künstlerischen Aktionen, (Friedens-)Demonstrationen und das Establishment provozierende Experimente des Zusammenlebens. Der Zeitgeist ist geprägt von Flower-Power, Bewusstseinserweiterung, Spiritualität und Aufbruch.
Die Jugendproteste sind ein weltweites Phänomen. Auch Deutschland ist in dieser Zeit eine kleinbürgerliche und autoritäre Gesellschaft. Im Westen sitzen Nazis in hohen Regierungsämtern, die große Mehrheit der heimgekehrten Väter verweigert ihren Kindern eine ehrliche Antwort auf die Frage nach ihrer Mitverantwortung zwischen 1933 und 1945. Alexander und Margarethe Mitscherlich treffen mit ihrem Werk Die Unfähigkeit zu trauern (Mitscherlich, 2007) den Nerv der jungen Menschen: Sie untersuchen darin die Verantwortung des Einzelnen an politischen Verbrechen. Den Deutschen bescheinigen sie kollektive Mitleidlosigkeit und fehlende Scham für die NS-Gräuel, die gerade mal ein paar Jahre zurückliegen. Zur gleichen Zeit treten die US-Amerikaner in Vietnam die Mitmenschlichkeit mit Füßen. Bilder von Kindern, die durch Napalm verbrennen, oder von einem amerikanischen Soldaten, der einem Vietnamesen eine Pistole an den Kopf hält, werden zu Ikonen des Entsetzens.
Die Jugend verliert den Glauben daran, von den Repräsentanten alter Weltbilder das Richtige lernen zu können. Vor allem in den humanwissenschaftlichen Fakultäten der Universtäten brodelt es. Junge Professoren und ihre Studenten erkennen, dass es ihre Fächer sind, von denen Impulse für ein neues Menschenbild und eine friedvolle Welt ausgehen können – in der Psychologie, in der Pädagogik, in den Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, der Soziologie und in der Politik. An der Universität Hamburg schocken Studenten während der feierlichen Einführung eines neuen, erzkonservativen Rektors die anwesenden Honoratioren. Sie tragen ein Transparent und skandieren lautstark die darauf geschriebene Losung: „Unter den Talaren der Muff von 1000 Jahren“8. Die Universitätsleitung lässt das Orchester lauter spielen – es gibt Bach und Händel –, allein: Die Studenten und der von ihnen ausgehende Sturm der Veränderung ist nicht mehr zu übertönen, nie mehr. Es ist, als ob man plötzlich aufwachte, als ob jemand das Licht angeknipst hätte – und auf einmal ist alles bunt: Langhaarige junge Männer halten Frauen in wallenden und bunten Kleidern im Arm. Auf dem Plattenteller drehen sich die neuesten Songs der Bee Gees, der Beatles, der Rolling Stones („Hey Jude“ auf einer knallroten Schallplatte, wow!), Joan Baez, Bob Dylan, Greatful Dead, The Who, Joe Cocker. Jimi Hendrix schockt das Establishment, indem er mit den Zähnen die Saiten seiner Gitarre zupft und dabei die Geräusche einschlagender Raketen und das Schreien sterbender Soldaten musikalisch mit Klängen der US-amerikanischen Nationalhymne mischt. Dieses schräg klingende Meisterwerk verstört so wie die Ereignisse, auf die es die Aufmerksamkeit lenkt.
In dieser kreativ-wilden Zeit entsteht NLP. Es ist sozusagen ein Kind dieser Zeit. Manche glauben sogar, NLP brauchte diese Zeit so nötig, wie ein Feld satten Humus braucht, damit die Ernte gut wird.
Santa Cruz, südlich von San Francisco. Die Stadt liegt lang gezogen an der Monterey-Bucht, an deren weißem Sandstrand wir nach der ersten Reise auf unserem Lichtstrahl angekommen sind. In der Nachbarschaft leben Persönlichkeiten wie Alfred Hitchcock, Shirley Temple, die Rockgruppen Santana und The Doobie Brothers. Santa Cruz gilt in spirituellen Kreisen als Kraftplatz. Viele Hippies suchen hier Frieden und Glück. Der Mann, der dich eben mit seinem „Go for it – now“ zum Mitmachen motiviert hat, heißt Richard9.
Richard Wayne Bandler, geboren 1950, ist ein typisches Blumenkind mit langen Haaren, Spitzbart, Cowboystiefeln. Er liebt die legendäre Westcoast-Musik dieser Zeit und spielt selbst Gitarre, Schlagzeug und Piano. Richard studiert zunächst Philosophie, Logik, Computerwissenschaften und später Verhaltenswissenschaften an der University of California in Santa Cruz. Seine Leidenschaft gilt der humanistischen Psychologie und der Frage, welche Faktoren dazu führen, dass Menschen sich verändern. Durch seine Bekanntschaft mit Robert S. Spitzer, dem Präsidenten des Verlagshauses Science & Behavior Books (Palo Alto), lernt er schon früh einige Koryphäen auf dem Gebiet der Psychologie persönlich kennen und saugt deren Wissen und Können auf. Ab 1972 – immer noch als Student – gibt er bereits gestalttherapeutische Seminare und Gruppensitzungen. Mal kassiert er dafür fünf Dollar, mal eine Essensmarke für die Mensa. Seine Methoden sind bizarr, verrückt – und erfolgreich.
Robert Frank Pucelik10, geboren 1945, ist ein mehrfach traumatisierter Mann. Er hat die Eskapaden eines ständig betrunkenen Vaters in seiner Kindheit erlebt. Überlebt hat er als Soldat die Hölle des Vietnamkrieges. Genau deshalb studiert er Psychologie: Er will traumatisierten Menschen helfen. Auch er leitet schon als Student gestalttherapeutische Gruppen. Es...