Vorwort – warum ich dieses Buch schreibe
Silvester 2015 verbrachte ich mit meiner Frau und meinem kleinen Sohn auf der Insel Phuket in Thailand. Ich war nicht dort, um Urlaub zu machen. Etwas mehr als ein Jahr zuvor hatte ich meinen Job bei der Bundespolizei an den Nagel gehängt, um mich ganz meiner Karriere als Kampfsportler zu widmen. Auf Phuket befand sich das Trainingslager, in dem ich mich für die anstehenden Wettkämpfe in Mixed Martial Arts vorbereitete.
Den Silvesterabend feierte ich entspannt zusammen mit meiner Familie und den internationalen Trainingskollegen. Als ich am Neujahrsmorgen 2016 aufwachte und auf mein Smartphone schaute, entdeckte ich als Erstes die Nachricht eines Freundes aus Köln. Sie klang nach einem launigen Neujahrsgruß und bestand im Wesentlichen aus der scherzhaften Bemerkung: «Kaum bist du nicht mehr hier, drehen sie alle frei» – darunter der Link zu einer Eilmeldung.
Ich konnte mir keinen Reim darauf machen, folgte dem Link und begann zu lesen. Die Meldung handelte von Ereignissen, die sich angeblich in der vergangenen Nacht an meinem ehemaligen Einsatzort, dem Kölner Hauptbahnhof, abgespielt hatten. Was ich da las, klang allerdings so unglaublich, dass ich zunächst an eine der gezielten Falschmeldungen glaubte, mit der satirische Webseiten wie «Der Postillion» unsere moderne (Medien-)Welt aufs Korn nehmen. Ich schaute nach, woher die Eilmeldung stammte – die Quelle war seriös. Ich rief andere Nachrichtenportale auf und fand dieselbe Meldung. Offenbar war es die bittere Wahrheit: In der Silvesternacht war es im und in der Umgebung des Kölner Hauptbahnhofs während weniger Stunden zu zahlreichen sexuellen Übergriffen auf Frauen gekommen. Die offizielle Pressemitteilung der Kölner Polizei hatte am Neujahrsmorgen noch verkündet: «Ausgelassene Stimmung – Feiern weitgehend friedlich». Der Kölner Stadtanzeiger vermeldete tags darauf 30 Opfer und ca. 40 Tatverdächtige – eine erschreckend hohe Zahl.
Das sollte alles an dem Ort vorgefallen sein, an dem ich drei Jahre lang Tag für Tag auf Streife gewesen war und den ich in- und auswendig kannte? Sicher, der Hauptbahnhof ist ein hartes Pflaster. Es gibt dort Drogenhandel, Schlägereien, Diebstähle, auch Selbstmorde hatte ich dort während meiner Dienstzeit erlebt. Aber so etwas? Ich fühlte mich an das erinnert, was man häufig über die Opfer von Wohnungseinbrüchen liest: dass diese Menschen neben dem Verlust von materiellen Dingen vor allem unter dem – häufig als noch schwerwiegender empfundenen – Verlust ihrer Privatsphäre leiden. Allein der Gedanke daran, dass Fremde durch das eigene Heim gestapft sind und alles durchwühlt haben, hinterlässt tiefe Risse im Sicherheitsempfinden, in der privaten Idylle, in der man bisher gelebt hat.
Auch wenn der Vergleich weit hergeholt scheint und ich natürlich kein Opfer geworden bin: So habe ich mich gefühlt, als es um die Übergriffe am Hauptbahnhof ging. Das war mein Arbeitsplatz gewesen, waren meine Leute, mein Revier. Ich kannte die Menschen, die dort arbeiteten, alle Wege und Schleichwege, jedes Gleis, jede schmuddelige Ecke. Ich wusste, wie es dort riecht, wenn morgens in den Imbissbuden der Kaffee aufgebrüht wird, wie sich die Sonne auf der Haut anfühlt, wenn sie im Sommer durch das Dach scheint, und wo es das beste Schnitzelbrötchen im Bahnhof gibt. Das alles schien plötzlich in Mitleidenschaft gezogen. Man hatte in gewisser Weise auch meine Privatsphäre angetastet.
Gleich mein nächster Gedanke galt meinen ehemaligen Kollegen: Wer von ihnen hatte an jenem Abend wohl Dienst gehabt? Ob Franziska[1] oder Axel[2] das alles miterlebt hatten?
Noch bevor ich dazu kam, einen von ihnen zu kontaktieren, offenbarte sich nach und nach das ganze Ausmaß der Übergriffe in der Silvesternacht. Je mehr ich in den folgenden Tagen die Berichterstattung verfolgte, die schnell auch in den internationalen Medien ihr Echo fand, desto fassungsloser wurde ich. Die Zahl der gemeldeten Straftaten wuchs kontinuierlich an, bis sie die ursprünglich veröffentlichte Zahl um ein Vielfaches überstieg. Viele der betroffenen Frauen hatten erst im Laufe der folgenden Tage und Wochen Anzeige erstattet – zuletzt ermittelte die Polizei wegen rund 1600 Straftaten, davon 550 sexuelle Übergriffe. In 8 Fällen gehen die Ermittler von Vergewaltigungen aus, in 19 weiteren von Vergewaltigungsversuchen.[3]
Eines war schnell klar: Das hier überstieg in seinen Dimensionen alles bisher Dagewesene. Gruppen Hunderter junger Männer, die gezielt Jagd auf einzelne Frauen machten, sie isolierten und einkesselten, sie bestahlen, begrapschten und sogar vergewaltigten – das hatte es in dieser Form in Deutschland noch nie gegeben. Noch dazu mitten im Herzen einer Großstadt wie Köln, an einem stark frequentierten Ort und an einem Abend, an dem traditionell vonseiten der Polizei erhöhte Einsatzbereitschaft bestand. Trotzdem waren die eingesetzten Polizeikräfte offensichtlich nicht imstande gewesen, die Lage unter Kontrolle zu bekommen und die Übergriffe zu unterbinden. Was war da bloß geschehen?
Als Erstes hörte ich von meiner Exkollegin Franziska, mit der ich oft auf Streife gewesen war und mit der mich auch nach meinem Ausscheiden aus dem Polizeidienst immer noch eine Freundschaft verbindet. Franziska war tatsächlich in dieser Nacht am Bahnhof im Einsatz gewesen. Sie schickte mir weitere Links und schrieb dazu: «Traurig, was hier passiert ist! Das absolute Chaos!»
Ich war von ihrer Fassungslosigkeit überrascht, denn ich wusste, wie hart sie im Nehmen war. In dieser Nacht musste wirklich etwas gewaltig schiefgelaufen sein.
Bald verschob sich in den deutschen Medien der Fokus der Diskussion. Auf das Entsetzen über «die schreckliche Silvesternacht» und das Ausmaß der Straftaten folgte die naheliegende Frage nach den Verantwortlichen für das Desaster. Und die waren für viele schnell ausgemacht. Versagt hatte die Polizei, und zwar auf ganzer Linie. Ich war wenig überrascht, denn oft genug hatte ich es in meiner aktiven Dienstzeit selbst erfahren müssen: Die Polizei musste häufig als Prügelknabe herhalten, wenn beispielsweise bei Demos oder anderen Großveranstaltungen die Dinge außer Kontrolle gerieten. Sie hatte zu wenig Präsenz gezeigt oder zu viel, den militanten Teilnehmern zu viel durchgehen lassen oder unverhältnismäßig hart reagiert – je nach Couleur des jeweiligen Kommentators. Natürlich kann eine Polizeistrategie versagen oder es zu Fehlverhalten einzelner Beamter kommen. Natürlich muss man das genau in Augenschein zu nehmen. Für solche Fälle unterhält die Polizei eine eigene Abteilung (deren Ermittlungen bei den Kollegen zugegebenermaßen nicht immer auf Begeisterung stoßen).
Doch je mehr ich von meinen Exkollegen aus erster Hand über den Einsatz in dieser Nacht erfuhr, desto mehr verdichtete sich für mich der Eindruck, dass hier wieder einmal die Beamten an vorderster Front für ein Versagen verantwortlich gemacht wurden, dessen Wurzeln eigentlich viel weiter zurückreichen und dessen Auswirkungen in der Silvesternacht nun für alle Welt sichtbar wurden. Doch am bequemsten war es natürlich, die Gründe dafür allein aufseiten der Polizei zu suchen.
Dies tat auch der Innenminister der Landesregierung von NRW, Ralf Jäger, der damit jede Mitverantwortung von sich abwälzte und nach einer Woche den Kölner Polizeipräsidenten Wolfgang Albers in den vorzeitigen Ruhestand versetzte. Auf Facebook konnte ich verfolgen, wie meine Exkollegen mit völligem Unverständnis auf die Maßnahme des Innenministers reagierten. In ihren Posts tauchte in vielerlei Variationen immer wieder dieselbe Frage auf: «Warum werden hier nicht endlich die Fakten auf den Tisch gelegt?»
Ich kontaktierte einige der Exkollegen, deren Facebook-Einträge ich gelesen hatte, weil ich genauer wissen wollte, wie sich die Situation für die Beamten vor Ort dargestellt hatte. Auf meine Frage «Was hast du in der Silvesternacht erlebt?» begann die Antwort fast immer mit «Das kannst du dir nicht vorstellen» und «So was hat es noch nie gegeben!».
Mich erschreckte es, dass sich die Einschätzungen meiner Kollegen derart glichen und ihnen die Ereignisse der Silvesternacht so zu schaffen machten, obwohl ich sie als gestandene Polizisten kannte, die den alltäglichen Wahnsinn am Bahnhof meist mit Humor nahmen. Ihre Schilderungen bestätigten, was auch die Frauen berichtet hatten, die in jener Nacht Opfer der Übergriffe wurden: Die mutmaßlichen Täter waren offenbar zu einem überwiegenden Teil Migranten.[4] Für die Polizisten, die am Hauptbahnhof im Einsatz waren, gehörten sie einer altbekannten Tätergruppe an. Es handelte sich in der Mehrzahl um junge männliche Kleinkriminelle aus Ländern wie Algerien, Tunesien oder Marokko – die «Nafris», wie die Nordafrikaner im Polizeijargon genannt werden. Auch mich hatten sie über meine gesamte Dienstzeit am Hauptbahnhof hinweg begleitet, da sie dort die sehr aktive Szene der Taschendiebe bildeten.
Eines allerdings war diesmal auch für die Polizisten völlig neu: Niemals zuvor hatte es innerhalb von so kurzer Zeit – die Taten konzentrierten sich auf wenige Stunden – derart viele kriminelle Zugriffe in solch offenbar organisierter Form gegeben wie in dieser Nacht.
Die Polizeikräfte wurden von der schieren Anzahl der Täter und Straftaten schlichtweg überrollt. In einer Menschenmasse, die sich so dicht im Bahnhofsgebäude drängte, dass es laut vieler Zeugen kaum möglich war, auch nur von den Bahnsteigen kommend die Ausgänge...