Die Physiotherapie ist ein, auch im Bereich des deutschen Gesundheitswesens, schon lange etablierter Beruf. Sie gehört zum Bereich der Gesundheitsfachberufe (früher Medizinalfachberufe) und nimmt somit auf Grund der gesetzlichen Regelung eine Sonderstellung im beruflichen Bildungssystem in Deutschland ein. Die Ausbildung ist weder im Berufsbildungsgesetz (BBiG) wiederzufinden, noch ist sie auf einer akademischen Ebene angesiedelt [vgl.: AG MTG, 2003].
Die Fachberufe im Gesundheitswesen verbindet:
die bundesrechtlich und bundeseinheitlich geregelte Ausbildung;
dass sie überwiegend von Frauen ausgeübt werden;
dass diese Berufe in einem spezifischen Abhängigkeitsverhältnis zur ärztlichen Profession stehen;
dass sie über keine akademische Tradition und eigenständige Bezugswissenschaft verfügen;
dass die Lehrer die in der schulischen Berufsausbildung eingesetzt werden, nicht zwingend universitär ausgebildet sein müssen (Ausnahme: Krankenpflegeschulen);
für einige Berufe, hier vor allem Krankenpflege und therapeutische Berufe, das berufspolitische Bemühen um Akademisierung.
Die im Bereich der Physiotherapie vorgesehene Ausbildungsdauer von drei Jahren ist an sogenannten „Schulen des Gesundheitswesens“ (früher Medizinalfachschulen) oder an Berufsfachschulen angesiedelt und fordert als Zugangsvoraussetzung einen mittleren Bildungsabschluss [vgl.: MPhG, §10, 1994].
Im Vergleich dazu ist die Ausbildung in den meisten europäischen Ländern, als auch weitestgehend im sonstigen Ausland, im Bereich der Hochschulen angesiedelt und fordert als Zugangsvoraussetzung die allgemeine Hochschulreife oder die Fachhochschulreife.
Durch diesen Zustand hinkt die Physiotherapieausbildung in Deutschland im Vergleich zum europäischen und auch außereuropäischen Ausland, bezogen auf die Formalien, um zirka 15 – 20 Jahre hinterher [vgl.: Schämann, 2005]. Dies führt trotz der allgemeinen Anerkennungsrichtlinien der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aus dem Jahr 1988 und einer Ergänzung dazu aus dem Jahr 1992 zu einer deutlichen Benachteiligung der deutschen Physiotherapeuten im europäischen Arbeitsmarkt [vgl.: 89/48/EWG, 1988; 92/51/EWG, 1992; 95/43/EWG, 1995]. Des Weiteren sind Physiotherapeuten dadurch faktisch aus dem internationalen Forschungskontext ausgeschlossen [vgl.: AG MTG, 2003].
Exkurs: Bologna-Prozess
Durch das Bologna-Abkommen (Italien - im Jahr 1999 von 29 europäischen Bildungsministern unterzeichnet) [vgl.: Hochschulrektorenkonferenz, 2005], wurde der 1998 durch die sogenannte Sorbonne-Erklärung (Frankreich - von den Bildungsministern Frankreichs, Italiens, Großbritanniens und Deutschland unterzeichnet) [vgl.: Sorbonne-Erklärung, 1998], eingeleitete politische Prozess, zur Schaffung eines einheitlichen Europäischen Hochschulraumes, bis zum Jahr 2010 gesichert.
Das Prager Kommunique (Tschechien - im Jahr 2001 von 33 europäischen Bildungsministern unterzeichnet) [vgl.: Prager Kommunique, 2001] bestätigte das Bologna-Abkommen und legte die wichtigsten Schritte zur Schaffung eines einheitlichen Europäischen Hochschulraumes fest.
Im Herbst 2003 fand die zweite Bologna-Folgekonferenz der europäischen Bildungsminister statt. Diese war in Berlin (Deutschland) und es nahmen schon 40 Staaten mit ihren Bildungsministern teil [vgl.: Berliner Kommunique, 2003].
Bergen (Norwegen) war im Jahr 2005 Tagungsort für die dritte Folgekonferenz, an der jetzt schon 45 europäische Staaten teilnahmen. Zweck dieser Konferenz war es, eine Zwischenbilanz (stocktaking report) zu ziehen [vgl.: Bergen Kommunique, 2005].
Für das Jahr 2007 ist die vierte Bologna-Folgekonferenz geplant, sie soll in London (England) stattfinden.
Dieser Gesamtablauf wird auch als „Bologna-Prozess“ bezeichnet, da 1999 in Bologna die Rahmenbedingungen für einen einheitlichen europäischen Hochschulraum geschaffen wurden.
So wurden die folgenden Punkte festgelegt:
Die Schaffung eines Systems leicht verständlicher und vergleichbarer Abschlüsse.
Die Schaffung eines zweistufigen Systems (undergraduate, hier: Grundstudium/ postgraduate, hier: Aufbaustudium) von Studienabschlüssen.
Die Einführung eines Leistungspunktesystems ECTS (European Credit Transfer and Accumulation System), das Europäische System zur Anrechnung, Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen.
Eine Mobilitätsförderung durch die Beseitigung von Mobilitätshemmnissen.
Die Förderung der europäischen Zusammenarbeit durch Qualitätssicherung.
Die Förderung der Europäischen Dimension in der Hochschulausbildung.
[vgl.: Bologna-Erklärung, 1999 bei Schämann. 2005]
Siehe hierzu auch die Grafik auf der nächsten Seite, zum Vergleich des deutschen mit dem englischen, bzw. dem angloamerikanischen Studientyp.
Studientypen im Vergleich
Abbildung 1 Quelle http://ag-wiss.vpt-akademie.de/physio_studium.htm (letzter Download 20.01.2006)
Anmerkung:
„Der hier dargestellte deutsche Studientypus repräsentiert die Studiengänge der Naturwissenschaften (z. B.: Biologie, Chemie, Physik, Mathematik, Informatik, Elektrotechnik usw.). Zum Erreichen des ersten akademischen Grades steht zuerst die Diplomprüfung und dann die obligate Diplomarbeit an.
Die Dissertation zum Erreichen des Doktorgrades ist im eigentlichen Sinne kein Abschluss, lediglich eine Auszeichnung für die Befähigung zu selbständiger wissenschaftlicher Arbeit. Dies wird im deutschen System als zweiter akademischer Grad bezeichnet. Die Habilitation solle eher als Weiterführung und Vertiefung der wissenschaftlichen Arbeit verstanden werden. Abschluss der Habilitation ist dann die Antrittsvorlesung.
Der Titel des Professors kommt nach dem des Privatdozenten, beide stellen den dritten akademischen Grad, im deutschen System dar. Zum Professor wird man berufen.
Es wird geplant bis 2010 das deutsche System an das angloamerikanische anzupassen und anstelle des Privatdozenten den Juniorprofessor einzuführen.
Die akademischen Grade beim angloamerikanischen Studientyp sind zunächst Bachelor (erster akademischer Grad) und Master (zweiter akademischer Grad), mit der Möglichkeit als dritten akademischen Grad den Doktortitel zu erlangen [vgl.: AG-Wissenschaft, VPT-Akademie, 2003]. Die Studiendauer für den ersten und zweiten akademischen Grad, sollte insgesamt nicht länger als 10 Semester, also fünf Jahre, dauern.
Durch den Bologna-Prozess wurde die, seit 1991 durch die AG MTG vertretene Forderung auf eine Akademisierung der Gesundheitsfachberufe neu angeschoben [vgl.: Schämann, 2005].
Die Forderungen der AG MTG im Einzelnen:
„Die Novellierung der Berufsgesetze mit der Anhebung der Ausbildung generell auf Hochschulniveau.“
„Die Einrichtung von Bachelor-Studiengängen an den Hochschulen für den ersten berufsqualifizierenden Abschluss der Berufsgruppen Ergotherapie, Logopädie, Physiotherapie, Orthoptik und Hebammenwesen.“
„Die Einrichtung von Master-Studiengängen an Hochschulen für die genannten Berufe insbesondere in den Bereichen Forschung, Lehre, Management und zur fachlichen Spezialisierung in den einzelnen Berufen“ [AG MTG, 2003].
Im Bereich der Physiotherapie ist der Bachelor of Science international mittlerweile der Grad, der zur Berufsausübung berechtigt. Der Bachelor in der Physiotherapie ist jemand, der eine berufsqualifizierende Grundausbildung auf akademischem Niveau erfolgreich absolviert hat, er ist also für die Berufspraxis qualifiziert. Für Forschung, Leitung und Lehre erfolgt auf internationalem Parkett, die notwendige Qualifizierung im Rahmen eines Masters- oder Doktorandenstudiums[2] [vgl.: Scherfer, 2003].
Das deutsche Gesundheitswesen hat sich aus der Historie heraus mittlerweile zu einem der größten und auch beschäftigungsintensivsten Teilsysteme der Gesellschaft entwickelt. Die...