Plastikpanik
Plastik ist seit dem Zweiten Weltkrieg der Treiber der Konsumgesellschaft. Das Wort stammt vom altgriechischen Verb »plassein«, übersetzt »formen«. Daraus leitet sich »plastikos« ab, »formbar«. Diese Formbarkeit entspricht der neu gefühlten Freiheit, die in den 1950er- und 1960er-Jahren vor allem als Konsum ausgelebt wird. Im Nachkriegsdeutschland (West) klingt »Nylon« nach der großen, weiten Welt. Die Kunststoff-Strumpfhose ist das Symbol für Westbindung, Warenfreude, Wohlstand. Plastik ist das Material der Stunde, so vielfältig, flexibel und modern, wie man selbst sein möchte.
Plastik hat eine Eigenschaft, die für Lebensmittelhersteller bares Geld bedeutet: Es ist leichter als bis dahin verwendete Materialien. Die Plastikverpackung genügt den wachsenden hygienischen Bedürfnissen der Kunden und reduziert Kosten für Transport und Lagerung. Mit seiner Anpassbarkeit an jede Form, seiner Widerstandsfähigkeit und seinem geringen Preis erlaubt Plastik erst die Warenlogistik der modernen Konsumgesellschaft. FMCG nennt man diese Produkte in der Sprache des Managements, Fast Moving Consumer Goods, Schnelldreher, die Alltagsprodukte der Wohlstandsgesellschaft. Ohne Plastikverpackungen wären sie undenkbar gewesen. Mit Shampoo zum Selbstabfüllen oder Joghurt im wachsversiegelten Holzfass hätten die Konsumgütergiganten Procter & Gamble, Nestlé oder Unilever die Welt kaum erobert. Bei einer Untersuchung von Greenpeace an den Stränden der Philippinen 2017 beträgt der Anteil des angespülten Plastikmülls dieser drei Konzerne rund ein Drittel des Gesamtmülls. Nestlé verkauft im selben Jahr etwa eine Milliarde Produkte täglich, 98 Prozent davon verpackt in Einwegplastik.
Ende der 1960er-Jahre, nach zwanzig Jahren kaum gebremster Konsumfreude, werden die Probleme unübersehbar, wie der Journalist Stephen Buranyi im britischen Guardian nachzeichnet. Im Juni 1969 erscheint in der New York Times ein Artikel über die »Dritte Verschmutzung« nach der Luft- und Wasserverschmutzung, den feststofflichen Abfall. »Die großen amerikanischen Städte stehen vor der Müllkatastrophe«, lautet der Titel. US-Präsident Nixon, ausgerechnet, nimmt sich in einem Positionspapier 1970 des Themas an: »Neue Verpackungsmethoden verwenden Materialien, die sich nicht abbauen lassen und kaum richtig verbrannt werden können. Daraus ergeben sich schwierige Müllprobleme. Obwohl viele Verpackungen wiederverwendbar wären, werfen wir heute weg, was wir noch vor einer Generation aufbewahrt hätten.« Ein öffentliches Umweltbewusstsein ist entstanden, bald schon sollen in den USA politische Konsequenzen gezogen werden. Wenig später erlässt der Staat New York eine Steuer auf Plastikflaschen, der amerikanische Kongress debattiert darüber, ob man Einwegverpackungen verbieten solle. Eine Stimmung gegen Plastik scheint sich auszubreiten.
Auch in Europa und in Deutschland. Der Spiegel schreibt 1971 über das Müllproblem: »Zwar werden nach der gegenwärtigen Schätzung Kunststoffe gegen Ende des Jahrzehnts gewichtsmäßig nur sechs Prozent der Müllmenge ausmachen; doch gemessen am Volumen, kann ihr Anteil auf etwa 50 Prozent ansteigen.« Das Nachrichtenmagazin zitiert eine Fachzeitschrift mit der eingängigen Formel »Verpackungsmüll – Folge des Fortschritts« und schreibt eindeutige Überschriften: »Müll-Öfen mit Kunststoffen überfüttert« und »Weggeworfene Perlonstrümpfe verrotten nicht«.
Aber Plastikproduzenten, die dahinterstehende Ölindustrie und Großverwender denken kaum daran, Produkte und Geschäftsmodelle umweltgerecht zu verändern. Einen Teil der Öffentlichkeit haben sie auf ihrer Seite. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt: »Was nicht verrottet, […] kann auch nicht schaden.« Solche Ansichten sind auch in der konsumfreudigen Zivilbevölkerung verbreitet. In den 1970ern gilt Plastik als cooler Gestaltungswerkstoff für Möbel, Kleidung, Konsumgüter aller Art. Da das aus ihrer Sicht auch so bleiben soll, beginnen die Hersteller, systematisch gegen Veränderungen und neue Umweltgesetze zu arbeiten. Nicht nur durch konzentriertes Lobbying und Gerichtsverfahren, sondern auch durch eine gezielte Umpolung der Debatte.
Mit groß angelegten Kampagnen verschiebt die Plastikindustrie die Alleinverantwortung für die Müllflut – auf die Kunden. Das passiert vorgeblich im Namen der Umwelt selbst. Über Jahre ist der Vorsitzende des Umweltverbandes »Keep America Beautiful« zugleich Chef einer Einwegdosenfabrik. Die Kommunikationsstrategie des Verbandes steht mustergültig für die gezielte Umleitung des wachsenden Unbehagens in Sachen Müllmassen. Das geschieht zum Beispiel mithilfe eines oft verbreiteten Werbeslogans: »Menschen verschmutzen die Umwelt. Und Menschen können die Verschmutzung stoppen.« Die Kampagnen haben Erfolg, die öffentliche Anti-Plastik-Stimmung wandelt sich und richtet sich kaum mehr gegen die Produzenten, sondern gegen die Leute, die die Verpackungen nicht in den Müll werfen.
Die Abwälzung der Verantwortung auf den Einzelnen passt in den 1980ern gut in die zunehmend neoliberale Zeit. Selbst Margaret Thatcher ruft dazu auf, sich endlich besser zu benehmen und keinen Plastikmüll mehr in die Landschaft zu werfen. »Plastikmüll zum persönlichen Versagen umzudefinieren funktionierte perfekt«, schreibt Buranyi und zitiert Thatcher anlässlich der Begehung eines stark verschmutzten Parks: »Das liegt nicht in der Verantwortung der Regierung, es ist die Schuld der Leute, die diesen Müll bedenkenlos wegwerfen.« Die Produzenten des Plastikmülls werden nicht einmal erwähnt. Bis heute wirkt diese Umdefinition nach. Natürlich tragen die Leute, die ihren Abfall irgendwo fallen lassen, die Schuld an ihrer Missetat. Aber ein verschmutzter Park hat nichts zu tun mit dem eigentlichen Problem, der schieren Existenz von derart viel Plastikmüll. Die Vermischung dieser Probleme in den Köpfen muss als überaus erfolgreiche PR-Kampagne betrachtet werden – als Plastikpropaganda.
Um einen Rückfall in die Anti-Plastik-Stimmung dauerhaft zu verhindern, bedient sich die Plastikindustrie eines weiteren cleveren Tricks, der Legende des Recyclings und der Wiederverwendbarkeit. Im Zweiten Weltkrieg war die Wiederverwendung von Rohstoffen aus dem Hausmüll von mehreren Ländern systematisch ausgebaut worden, in den USA »Salvage for Victory« (Altmaterial für den Sieg) und »National Salvage Campaign« in Großbritannien. Diese historischen Anknüpfungspunkte nimmt die Plastikindustrie wieder auf und propagiert Recycling. Auch das ist kommunikativ geschickt, niemand kann ernsthaft gegen Recycling sein. Aber in den ersten Jahren handelt es sich um reine Kundenberuhigung, denn bis Ende der 1980er-Jahre beträgt weltweit der Anteil des wiederverwerteten Plastiks rund null Prozent. Vor der Einführung des Dualen Systems zur Mülltrennung in Deutschland in den Jahren 1990 und 1991, später vor allem durch den »Grünen Punkt« bekannt, liegt der Anteil bei 2,7 Prozent. Von diesen Zahlen aber hört man wenig, die Öffentlichkeit wird mit Zukunftsversprechen besänftigt. Die Industrie in den USA behauptet Anfang der 1990er, im Jahr 2000 werde Plastik das meistwiederverwertete Material sein.
Schon 1988 wissenschaftlich beschrieben, erscheinen durch den Zufallsfund eines Seglers 1997 regelmäßig Medienberichte über die gigantischen Plastikinseln im Pazifik. Spätestens seit Anfang der Nullerjahre warnen Wissenschaftler lautstark vor Mikroplastik, das unter anderem durch Abrieb von größeren Plastikteilen entsteht. Eine breite gesellschaftliche Reaktion bleibt aus. Trotz der Warnungen erobert Mikroplastik als absichtlich verwendeter Inhaltsstoff sogar Produkte vom Shampoo über die Hautcreme bis zum Peeling. Nach dem Jahrtausendwechsel steigt der Recycling-Anteil von Plastik nur wenig. In den USA liegt er noch immer im einstelligen Prozentbereich. Die Plastikindustrie wechselt die PR-Strategie und verbreitet, dass »Plastiktüten zu den am meisten wiederverwendeten Gegenständen im Haushalt« gehörten. 2003 führt eine Lobbyistin aus, was genau damit gemeint ist: »Viele, viele Tüten werden wiederverwendet als Bücher- oder Lunch-Tüten für die Schulkinder, als Mülltüten oder um Waldis Hinterlassenschaften vom Rasen aufzunehmen.« Ein brillanter Satz wie aus dem Lehrbuch für manipulative PR, denn er ist wahr, klingt einleuchtend und überzeugend – aber vernebelt die relevanten Tatsachen. Auch mehrmals verwendete Tüten landen danach im Müll. Wenn das Kind sein Schulbrot in der Plastiktüte mitnimmt, ändert das nichts daran, dass der Vater beim nächsten Einkauf wieder fünf Stück mit nach Hause trägt. Und dass mit Hundekot verschmierte Tüten ausgewaschen und mehrfach verwendet werden, dürfte eher nicht die Regel sein. Plastik ist weiter auf dem Siegeszug, nach der Jahrtausendwende schütteln viele Volkswirtschaften die Neunzigerjahre ab und feiern bis zur Finanzkrise ein Konsumfeuerwerk. Wenn es eine Gleichung gibt für die Plastikwirtschaft, lautet sie: Mehr Konsum bedeutet mehr Plastik. Immer neue Produkte, immer neue Verpackungen. Die Supermärkte sind die Kathedralen des Plastikkapitalismus.
Zweifel auf Regierungsebene entstehen um die Jahrtausendwende in Bangladesch. Dort kommt es 1998 und 1999 zu Flutkatastrophen. Das Land, etwas größer als die Schweiz und Österreich zusammengenommen, steht zeitweise zu 60 Prozent unter Wasser. In vielen Städten fließen die Fluten wochenlang kaum...