Zur Einführung
Zweite Halbzeit der ersten Legislaturperiode des Landtages des Freistaats Sachsen. Aus der Fülle der Ereignisse und Erinnerungen ragen einige besonders deutlich hervor: die Verabschiedung des ersten Solidarpaktes, der erste Streik in der Metallindustrie, erste bedeutende Industrieansiedlungen und die erste Wiederwahl des Landtages im Herbst 1994.
Die Jahre 1991 und 1992 waren Jahre der Suche nach dem richtigen Weg in die neue Welt der Freiheit, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Vierzig Jahre sozialistische Diktatur hatten tiefe Spuren hinterlassen. Die Folgen der kommunistischen Herrschaft und ihrer Zentralplanwirtschaft lasteten auf dem Land und seiner Bevölkerung. Die Bausubstanz seiner Städte und Dörfer und die Infrastruktur waren verbraucht, seine Umwelt schwer beschädigt. Das Leben und Denken der Menschen war geprägt durch die Allgegenwart der Sozialistischen Einheitspartei, ihren Herrschaftsanspruch, ihre Kontrollwut und ihre Unmenschlichkeit. Furcht und Misstrauen reichten bis in die Familien und den Kreis der Freunde. Selbst nach dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung trafen wir auf unserer ersten Rundreise durch das Land auf Menschen, die umgetrieben waren von der Sorge, die überwundenen Herrscher könnten ihre Macht noch nicht verloren haben.
So kehrte nach der Freude über die wiedergewonnene Freiheit und die Hoffnung auf ein freies Leben die Sorge zurück, wie es weitergehen sollte. Vor allem: Wie lebt man mit der verantworteten Freiheit. Die marktwirtschaftliche Ordnung samt ihren sozialen Verpflichtungen stellte hohe Ansprüche an eine Bevölkerung, deren bisherige wirtschaftliche Erfahrungen sich für die Bewältigung der neuen Herausforderungen nur begrenzt nutzen ließen. Alles musste gleichzeitig angepackt werden: die Beseitigung des Überholten, die Gründung des Neuen, das Erlernen freiheitlicher Ordnungen und die Gestaltung des Lebens. Dem stand eine bisher nicht erlebte Fülle von Optionen und Möglichkeiten gegenüber. Zugleich wurde es durch zahlreiche Risiken geprägt, die ihre Ursachen nicht zuletzt in der wiedergewonnenen Freiheit hatten. Noch nie hatte sich in der Geschichte der Neuzeit eine ähnliche Umwälzung der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse in einem so kurzen Zeitraum ereignet wie in den ostdeutschen Ländern nach dem Fall der Mauer und der deutschen Wiedervereinigung.
Was dieser Umbruch für das geeinte Deutschland zu bedeuten hatte, vor allem für den Westen der wiedervereinigten Nation, beschäftigte die große Mehrheit der Westdeutschen jedoch kaum. Sie hatten schon bisher die deutsche Teilung als dauerhafte Wirklichkeit erlebt, falls sie ihr überhaupt für das eigene Leben bedeutsam erschien. Man wusste wenig über die DDR. Die von Ludwig Erhard in den 1950er Jahren begründete Erforschung ihrer Verhältnisse wurde 1972 eingestellt. Ein politisch relevantes Interesse am Schicksal der Ostdeutschen, das sich auch in dem politischen Wunsch ausdrückte, Opfer oder doch besondere Leistungen für die Überwindung der Teilung zu bringen, war kaum vorhanden. Westdeutschland hatte sich an die Teilung gewöhnt. Ihre Realität, und die damit verbundenen Entlastungen hatten sich, wenn man so will, während der vierzig Jahre seit der Teilung zu einem Besitzstand entwickelt. Es gab keinen zwingenden Anlass, ihn in Frage zu stellen. Viele traf deshalb der durch die Ostdeutschen bewirkte Fall der Mauer nach der Freude eher wie ein Schock. Selbst Helmut Kohl, der sich immer für die Einheit eingesetzt hatte, fehlte angesichts dieses Besitzstandes der Mut, vor der Bundestagswahl 1990 von einer Steuererhöhung zur Finanzierung der Kosten der Einheit zu sprechen.
So dauerte es bis in die zweite Hälfte der ersten Wahlperiode, ehe man im Westen Deutschlands damit begann, sich ernsthaft mit den wirtschaftlichen und finanziellen Folgen der Wiedervereinigung für den westlichen Teil Deutschlands zu befassen. Das Ergebnis langer Debatten und Auseinandersetzungen über unzureichende Vorschläge der Bundesregierung war am Ende der im Frühjahr 1993 zwischen Bund und Ländern vereinbarte Solidarpakt. In ihm manifestierte sich zum ersten Mal die Selbstverständlichkeit der gelebten Solidarität der Westdeutschen mit den Ostdeutschen. Er war aber auch Ausdruck und Ergebnis der Kreativität der föderalen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland.
Denn nicht die Bundesregierung und der Bundestag waren die Schöpfer dieses neuen und einmaligen Paktes, mit dessen Hilfe zusammenwachsen sollte, was zusammen gehörte. Es waren die Bundesländer. Ihre Ministerpräsidenten trafen sich im Februar 1993 im Cecilienhof zu Potsdam, dem Ort, an dem die vier Siegermächte nach Kriegsende 1945 die Teilung Deutschlands beschlossen hatten. An diesem historischen Ort wollten sie ihren Beitrag zu einem gesamtdeutschen Solidarpakt beschließen. Er sollte helfen, die Folgen des Unrechts zu überwinden, das den Ostdeutschen durch rund 45 Jahre Teilung und Unterwerfung unter die Herrschaft des Kommunismus widerfahren war. Einstimmig entwickelten sie ihren Gegenentwurf zu den Vorschlägen der Bundesregierung. Im März 1993 wurde ihr Konzept in Bonn nach gemeinsamen Anstrengungen zusammen mit der Bundesregierung beschlossen.
Dass es nach einer wie immer gearteten Wiedervereinigung zu einer solidarischen Anstrengung Westdeutschlands keine Alternative geben konnte, war schon vor dem Fall der Mauer meine Überzeugung. Denn wir in der westlichen Bundesrepublik Deutschland waren der Bevölkerung keines anderen Staates mehr verpflichtet, unseren Wohlstand mit ihr zu teilen, als den Deutschen im anderen Teil Deutschlands. Teilen bedeutete nicht nur die Freiheit mit den Ostdeutschen zu teilen, sondern auch die Verantwortung für eine freiheitliche, rechtsstaatliche Ordnung. Die Teilhabe musste deshalb auch die wirtschaftlichen Grundlagen der Freiheit umfassen. So selbstverständlich, wie diese den Westdeutschen geworden waren, so selbstverständlich musste es uns auch sein, zur Entwicklung des wirtschaftlichen Fundaments für die Freiheit im anderen Teil Deutschlands beizutragen: als Treuhänder der Freiheit der Ostdeutschen.
Kaum war der Solidarpakt beschlossen, zeichnete sich in Sachsen ein Tarifkonflikt ab. Die IG Metall forderte eine beachtliche Lohnerhöhung und eine längerfristige Vereinbarung über die weitere Lohnentwicklung. Die Arbeitgeber lehnten die Forderungen ab. Ihre Gegenvorschläge wurden von der Gewerkschaft nicht ernst genommen. Die Lage war ungewöhnlich, weil man sie nicht mit westdeutschen Ausgangslagen vergleichen und sich deshalb bei ihrer Lösung auch nicht an westlichen Erfahrungen orientieren konnte. Als die wirtschafts- und sozialpolitische Einheit zwischen beiden deutschen Staaten am 1. Juli 1990 in Kraft trat, verdiente ein Facharbeiter im Osten in etwa ein Drittel so viel wie sein Kollege im Westen. Arbeitete er in einem normalen östlichen Betrieb, war allerdings auch die Produktivität seines Unternehmens wesentlich geringer als die des westdeutschen Kollegen.
Daraus entwickelte sich ein Dilemma: Wurden die Ostlöhne zu schnell an die im Westen angeglichen, wurden die ostdeutschen Arbeitgeber überfordert. Wartete man zu lange mit der Angleichung, musste man damit rechnen, dass der ostdeutsche Facharbeiter seinen Arbeitsplatz im Westen suchte. Das Problem bestand darin, einen vernünftigen Mittelweg zu finden, der die weitere Produktion im Osten erlaubte ohne beide Seiten, Arbeitnehmer und Unternehmen, zu überfordern. Aber bei der Suche nach diesem Weg standen sich ebenfalls unterschiedliche Interessen im Wege. Die ostdeutschen Arbeitgeber wollten ihre Mitarbeiter nicht verlieren. Und sie fanden bei vielen Verständnis für ihre Haltung. Für die Verhandlungen mit der Gewerkschaft fehlte ihnen die notwendige Erfahrung. Denn deren Verhandlungsführer kamen aus dem Westen. Ostdeutschen Gewerkschaftsfunktionären hätte bereits das Vertrauen der Belegschaften gefehlt.
Deshalb suchten die ostdeutschen Arbeitgebervertreter den Rat der westdeutschen Arbeitgeber und ihrer Organisationen. Manche der Handelnden unter ihnen wurden jedoch verdächtigt, in Ostdeutschland an hohen Löhnen interessiert zu sein, um die Konkurrenz aus dem Osten zu schwächen und Facharbeiter aus Ostdeutschland zu gewinnen. Es war die Zeit, in der die Wiedervereinigung im Westen einen Boom und damit Nachfrage nach Fachkräften ausgelöst hatte. Um sie wurde in Ostdeutschland mit großzügigen Angeboten geworben. Ein Knäuel an widerstreitenden Interessen entwickelte sich, der das eigentliche Tarifgeschehen überlagerte und eine Einigung erschwerte. Dass sie dann doch im Mai 1993 gelang, ist Persönlichkeiten auf beiden Seiten des Verhandlungstisches zu verdanken.
Die zweite Halbzeit wurde auch zu einer Zeit der Erneuerung. VW investierte in Mosel und Chemnitz. Der damalige, für den Binnenmarkt, später für Wettbewerb in der EU-Kommission zuständige Kommissar Mario Monti ebnete uns die Wege durch das herrschende Dickicht der Subventionsregeln. Dass sie während der ersten Jahre des Wiederaufbaus überhaupt auf Ostdeutschland zum Schutz der westlichen Unternehmen angewendet wurden, machte kaum Sinn. Weitere folgten VW: Siemens, Wacker-Chemie, AMD aus den USA, Feddermann aus Israel, später BMW und Porsche. Wir nannten sie Leuchttürme. Sicher: die grünen Landschaften blühten noch nicht. Aber sie trieben zahlreiche Knospen in Gestalt einer neuen mittelständigen Wirtschaft, in allen Teilen des Landes.
Die erste Legislaturperiode endete im September 1994 mit den Landtagswahlen. Längere Zeit war ich nicht sicher, ob ich noch einmal kandidieren sollte. Schließlich war ich damals bereits 65 Jahre alt. Für einen Wechsel in die Wissenschaft oder die anwaltliche Tätigkeit war es nicht zu spät. Aber...