1. BUMM! EINDRÜCKE VON EINER SALAFISTISCHEN BENEFIZVERANSTALTUNG
Die zwei Männer an der Straßenecke tragen wallende weiße Gewänder, weiße Häkelkäppis, Sandalen und eindrucksvolle Vollbärte. Na bitte, hier bin ich richtig. Denn die zwei sehen fast genauso aus wie die jungen Herren, die man in den vergangenen Jahren immer häufiger in Zeitungartikeln und Fernsehberichten sieht, wenn es um den Salafismus geht. Und deswegen bin ich ja hier: um mir ein Bild von »echten Salafisten« zu machen.
Das »Benfiz für Syrien« im »Saal Orient« am Rande der Essener Innenstadt ist dafür das Richtige. Denn der Verein »Ansaar International«, der das Treffen an diesem Sonntag im Juli 2013 veranstaltet, ist in der Salafisten-Szene fest verankert. Die Menschen, die ich hier treffen werde, sind also Gegner der Demokratie. So lässt es zumindest der jüngste Bericht des Verfassungsschutzes erwarten. Darin heißt es, »dass Salafisten die Geltung staatlicher Gesetze ablehnen«. Außerdem bilde »das von Salafisten verbreitete Gedankengut den Nährboden für eine islamistische Radikalisierung, die zuweilen zu Gewaltbereitschaft und schließlich auch zu einer anschließenden Rekrutierung für den islamistischen Terrorismus führen kann«.
Die jungen Männer, die mich an den großen Eisentoren am Eingang zum Hinterhof begrüßen, sehen glücklicherweise nicht so aus, als würden sie sich gleich einen Sprengstoffgürtel umschnallen wollen. Sie tragen Turnschuhe, T-Shirt und Jogginghose – nicht mal einen Bart – und sehen »ganz normal« aus. Als ich erzähle, warum ich hier bin, sind sie höflich, aber auch skeptisch. Die Medien würden ja immer alles verdrehen, sagen sie. Immerhin – sie lassen mich herein.
Die Frauen betreten den »Saal Orient« durch einen anderen Eingang als die Männer. Der Bereich, in dem sie sich aufhalten dürfen, ist mit Stellwänden aus weißem Kunststoff abgetrennt. Was auf der Bühne passiert, können die Frauen, von denen einige sich mit einem Ganzkörperschleier verhüllt haben, nur auf einer Leinwand verfolgen. Ich gehe durch den Männereingang und betrete einen lang gezogenen Raum, der den sprichwörtlichen Charme einer Bahnhofshalle versprüht. An der Decke hängen billige Kronleuchter. An den runden Tischen mit den transparenten Plastikdecken sitzen etwa 50 Männer, später werden es sogar rund 120 sein. Manche tragen ihre Pluderhosen, Gewänder und zum Turban gebundenen Kopftücher so selbstverständlich, als wären sie damit zur Welt gekommen; bei anderen sieht es nach Karnevalskostüm aus. Besondere Mühe haben sich 17-jährige Zwillinge gegeben. Häkelkäppis und Jalabiyas (so nennt man die weiten Gewänder) sitzen perfekt. Nur der Bart will noch nicht recht sprießen. Auch ihr blasser Teint zeugt davon, dass sie nicht aus einem arabischen Wüstendorf angereist sind – sondern eher aus Bottrop, Bochum oder Duisburg.
Zur Tür kommt ein Mittzwanziger mit Baseballkappe herein, der an seinem Smartphone herumnestelt und anschließend seine Kumpels abklatscht, als wäre er auf dem Fußballplatz. Rechts neben dem Eingang sitzen fünf Jugendliche in Freizeitklamotten, die sich freundlich lächelnd und in Siegerpose mit dem Handy fotografieren lassen. Mich beruhigen diese Bilder – sie irritieren mich aber auch. Denn eine Veranstaltung von Menschen, die die »Geltung staatlicher Gesetze ablehnen« und den Nährboden legen, der »zum islamistischen Terrorismus führen kann«, habe ich mir anders vorgestellt.
Auf dem etwas erhöhten Podium steht ein Mann, der sich Abdurrahman nennt. Er trägt Turnschuhe, eine schwarze Pluderhose und ein T-Shirt, auf dem das Logo von »Ansaar International« aufgedruckt ist. Er ist etwa 1,70 Meter groß, schlank und trägt einen schwarzen Vollbart. Um seinen Kopf hat er ein »Palästinenser-Tuch« gewickelt, so wie es seinerzeit der Anführer der PLO, Yassir Arafat, trug – und einige meiner Freunde, als sie noch jung und wild waren und mit dem Tuch ihre Zugehörigkeit zur linken Szene demonstrieren wollten. Abdurrahman, so wird er mir später erzählen, ist 33 Jahre alt und heißt eigentlich Joel Kaiser. Früher war er Rapper der Gruppe BTM Squad. Dann fing er an, »den Islam zu praktizieren«. Den Verein »Ansaar International« hat er im Sommer 2012 gegründet. Er ist der Vorsitzende und auch der Organisator der heutigen Veranstaltung.
»Alles Lob gebührt Allah, dem Herrn der Welten. Ich bezeuge, dass es keinen Gott gibt, der angebetet werden darf, außer Allah«, beginnt Abdurrahman seinen Vortrag. »Allah möge uns zu denen machen, die den Islam verstehen«, sagt er. »Und den Islam verstehen, heißt, sich am Vorbild des Propheten Mohammed, Friede und Segen sei auf ihm, zu orientieren und an den goldenen Generationen, die nach ihm kommen.« Dann berichtet er von den Erfolgen seiner Hilfsorganisation. Neun Krankenwagen hätten sie bei ihrer letzten Tour nach Syrien übergeben können, eine Million Verbandsmittel und jede Menge Medikamente, Rollstühle und Krücken sowie Lebensmittel, Windeln und Spielsachen. Demnächst soll sogar ein 2 000 Quadratmeter großes Waisenhaus fertig werden. Unsere Hilfe, so verspricht Abdurrahman, »kommt zu hundert Prozent bei den Bedürftigen an«.
Nach ihm betritt ein gewisser Abu Rumaisa die Bühne. Der Mann gehört zur C-Klasse der deutschen Prediger-Szene. Er schreit dermaßen, dass ich mir Sorgen um die Lautsprecheranlage mache. Wie Abdurrahman spricht auch er auf Deutsch, mischt aber (wie fast alle salafistischen Prediger) immer wieder arabische Einsprengsel wie ma shaa allahh1* (großartig), subhan allah (Gepriesen sei Allah), akhi (Bruder) oder wa-llahi (Bei Gott) in seine Vorträge ein. Wenn Abu Rumaisa etwas besonders wichtig ist, sagt er nach dem Satz »Bumm!«. Die Zuhörer interessiert das wenig. Sie quatschen, manchen fallen auch die Augen zu. Kein Wunder, denn es ist Ramadan, der islamische Fastenmonat, und die Männer haben seit ungefähr zehn Stunden nichts gegessen und nichts getrunken.
Von dem wirren Vortrag Abu Rumaisas bleibt nur in Erinnerung, dass er die Arbeit von Unicef schlechtredet (»Die schmeißen Zelte hin, und die Flüchtlinge müssen sie selber aufbauen«); dass er die Rückkehr der Syrer zur Religion lobt (»Die Frauen sind alle bedeckt!«); und dass er ohne erkennbaren Zusammenhang sagt, dass Juden, Christen, Aleviten, Buddhisten und Hindus kuffar (Ungläubige) sind – dass man aber trotzdem »fair und gerecht« zu ihnen sein soll. In meinen Ohren klingt das etwa so beruhigend, als würde man sagen, dass »Neger« unarisch seien – dass man sie aber trotzdem nicht einfach so verprügeln dürfe.
In einer Pause kann ich mich endlich mit meinen Tischnachbarn unterhalten. Die drei Mittzwanziger gegenüber wären mir auf der Straße nicht weiter aufgefallen. Der Mann direkt neben mir guckt dagegen so finster drein, als könne er unter seinem Gewand jederzeit eine Kalaschnikow hervorholen. Vor lauter Vollbart sieht man sein Gesicht kaum, er hat einen dunklen Teint und trägt ein Häkelkäppi. Ein Foto von ihm würde gut auf die Titelseite der Bild-Zeitung passen – neben einer Schlagzeile wie »Terror-Alarm«, »Warum hassen sie uns so?« oder »Dieser Verrückte will uns alle umbringen«.
Mustafa ist aber ganz nett. Er ist alleine hier und zum ersten Mal auf so einer Veranstaltung, erzählt er – und freut sich offenbar, dass er sich mit mir unterhalten kann. Seine Mutter ist Serbin und sein Vater Bosnier. Mustafa selbst ist dagegen ein echtes Kind des Ruhrpotts. Geboren und aufgewachsen ist er in Dortmund, jetzt lebt er in Essen. Mit den Ländern, aus denen seine Eltern kommen, habe er nichts zu tun, sagt er lachend. Dann erzählt er, dass er früher viel auf Baustellen gejobbt hat und seit vier Jahren Bürokaufmann ist. Während Mustafa spricht, rasiere ich ihm in Gedanken seinen Rauschebart ab und stelle ihn mir als Arbeitskollegen, als Bekannten oder als Verkäufer meiner Lieblingsbäckerei vor. Ich glaube, wir würden uns gut verstehen.
Mustafa sieht zwar aus wie ein alter »Salafisten-Hase«. Tatsächlich aber hat er den Islam erst im Februar 2012 angenommen. Mit Religion hatte er vorher nie etwas zu tun, sagt er. Im Herbst 2011 habe er dann »so einen inneren Antrieb« gespürt: »Ich dachte, nur Playstation spielen, kann es ja wohl nicht sein. Und die Urknall-Theorie hat mir auch nicht gereicht. Was war denn davor? Da muss es doch etwas geben, dass das alles erklärt.« Auf welcher Internetseite er sich über den Islam informierte, weiß er nicht mehr. Danach habe er sich jedenfalls einen Koran gekauft – und war überzeugt, »die wahre Religion« gefunden zu haben. Was das bedeutet? »Das heißt, dass ich glaube, dass Allah unser Schöpfer ist, und dass wir ihm dienen müssen, aber niemandem sonst«, sagt er. Und warum trägt er deswegen Vollbart, Gewand und Häkelkäppi? »Das ist, weil Mohammed das so gemacht hat, und weil wir ihm nachfolgen«, sagt Mustafa. Muss man das wirklich so ernst nehmen? Mustafa bleibt nett, wird aber energisch. »Eine Religion ist kein Hobby«, sagt er. »Man muss überzeugt sein und alles befolgen. Sonst ist das keine Religion.«
Inzwischen haben sich auch unsere Tischnachbarn eingeschaltet. Karim, ein 26-jähriger Chemie-Student aus Bochum mit kurz geschorenen Haaren, Bart, Jeans und rot-weiß kariertem Hemd, sagt, dass er früher »wild abgefeiert« habe. Sein Vater und seine Mutter kamen aus Marokko nach Deutschland. Wie Mustafa kennt Karim das Land seiner Eltern aber nur aus dem Urlaub. Als »richtiger Deutscher« fühle er sich aber auch nicht. »Ich bin hier fremd, aber auch in Marokko bin ich fremd.«
Muslim ist Karim zwar seit seiner Geburt. Bis er 18 war, habe er sich aber kaum mit Religion...