1 Grundlagen
1.1 Die Bedeutung des Fachs
Matthias Karst
Frage 1
Warum gibt es akute Schmerzen?
Akute Schmerzen garantieren im Sinne einer Warnfunktion das Überleben.
Menschen, die aufgrund eines genetischen Defekts keine Schmerzen empfinden können, bemerken schmerzhafte Verletzungs- und Krankheitssymptome nur spät oder gar nicht, weshalb bei ihnen die Lebenserwartung herabgesetzt ist.
Frage 2
Warum gibt es chronische Schmerzen?
Es gibt eine Vielzahl von chronischen Erkrankungen, die nicht ursächlich behandelbar sind und die mit Schmerzen einhergehen können. Chronische Schmerzen können durch neurobiologisch verankerte Lernvorgänge zu einer eigenständigen Erkrankung werden.
Sowohl akuter Schmerz als auch Lernen sind überlebensnotwendige Mechanismen. In Abhängigkeit von somatischen, psychologischen und sozialen Faktoren kann in der Kombination aus akutem Schmerz und Lernen ein chronischer Schmerz resultieren, der oft keine erkennbare Funktion aufweist. Die Entstehung chronischer Schmerzen lässt sich durch frühzeitige therapeutische Maßnahmen verhindern oder verlangsamen.
Frage 3
Wie häufig treten chronische Schmerzen auf?
Die Punktprävalenz liegt in Deutschland bei 17%, europaweit bei 19%. Das sind in Europa 129 Mio. Menschen, in Deutschland 12 Mio.
Mehr als 80% der Deutschen klagen mindestens 1-mal im Leben über Rückenschmerzen. Eine feinere epidemiologische Aufschlüsselung, die 2014 publiziert worden ist, ergab für Deutschland 27% (23 Mio.) mit „einfachen“ Schmerzen (allein zeitliche Dimension), 7,4% (6 Mio.) mit hoher Beeinträchtigung und 2,8% (2,2 Mio.) mit starker emotionaler Beteiligung.
Frage 4
Was kosten Schmerzen?
Schmerzen kosten nicht nur Lebensqualität, sondern auch viel Geld. Die USA geben jährlich mehr als 210 Mrd. Dollar hierfür aus.
In Deutschland werden die Kosten für Rückenschmerzen auf jährlich ca. 50 Mrd. Euro geschätzt, 72% davon bedingt durch Arbeitsausfälle und frühzeitige Berentung. Schmerzen kosten auch das Leben: Das Selbstmordrisiko von Patienten mit chronischen Schmerzen ist mindestens doppelt so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt.
Frage 5
Wie sieht die Versorgungssituation von Patienten mit chronischen Schmerzen in Deutschland aus?
70% aller Patienten mit chronischen Schmerzen werden von ihrem Hausarzt betreut. 27% sind in der Behandlung eines Orthopäden. Nur 2% sind schmerzmedizinisch betreut.
In Deutschland stehen den ca. 2–3 Mio. Patienten mit schweren chronischen Schmerzen und starker emotionaler Beeinträchtigung, bei denen der Schmerz selbst zur Erkrankung geworden ist, nur knapp 1200 Schmerzmediziner gegenüber, sodass nur etwa jeder achte Patient versorgt werden kann. Es wird von einer Unterversorgung in der Größenordnung von ca. 2500 Einrichtungen ausgegangen. Es gibt in Deutschland keinen Facharzt für Schmerzmedizin. Das Fach Schmerzmedizin ist als Querschnittsfach 14 erst 2012 in den Fächerkanon des Medizinstudiums aufgenommen worden. Ab 2016 kann der letzte Abschnitt des Medizinstudiums, das praktische Jahr, nur absolviert werden, wenn zuvor das neue Querschnittsfach Schmerzmedizin durchlaufen worden ist.
1.2 Grundsätze der Diagnostik
Matthias Karst
Frage 6
Wie lassen sich Schmerzen erfassen?
Die Anamnese von Schmerzen soll Auskunft geben über Lokalisation, Qualität, Quantität, Beginn und Dauer (zeitlicher Verlauf), Provokationsfähigkeit sowie Beeinflussbarkeit des Schmerzverlaufs.
Die exakte Diagnostik von Schmerzen ist die entscheidende Voraussetzung für erfolgreiche Therapieansätze. Die wesentliche Tätigkeit eines Arztes für Schmerzmedizin besteht in diagnostischer Aktivität. Deshalb sollte man nicht von „Schmerztherapie“ sprechen, sondern von „Schmerzmedizin“.
Frage 7
Was ist das Besondere einer Schmerzanamnese?
Die Schmerzanamnese orientiert sich an dem biopsychosozialen Modell.
Während die biomedizinische Vorgehensweise nach den mit dem Schmerz verbundenen strukturellen Veränderungen fragt, orientiert sich die biopsychosoziale Vorgehensweise v.a. an der Frage nach der betroffenen Person. Also nicht nur „Um was für Schmerzen handelt es sich?“, sondern auch „Wer hat diese Schmerzen?“. Das biopsychosoziale Modell wurde erstmals von L. Engel in Science 1977; 196: 129–136 vorgestellt.
Frage 8
Welche Hilfsmittel werden bei einer Schmerzanamnese zusätzlich eingesetzt?
Psychometrische Testverfahren.
Dabei handelt es sich um Skalen und Fragebögen, die Aussagen zur Schmerzausprägung, psychiatrischen Störungen und Funktionalität liefern. Hierzu gehören auch die numerische Ratingskala (NRS) und visuelle Analogskala (VAS), mit der die Schmerzintensität erfasst wird. Die erste NRS der Menschheit hatte in der griechischen Mythologie der blinde Seher Teiresias benutzt, als er von den Göttern gefragt wurde, wer von den beiden Geschlechtern mehr sexuelle Lust empfindet. Seine Antwort: Mann NRS 1, Frau NRS 9.
Eine Skala, die Begriffe enthält, wie die verbale Ratingskala, und gleichzeitig nach der Funktionalität fragt, wie die Functional Pain Scale (FPS), hat den Vorteil, die Bedeutung des Schmerzes für den Betroffenen zu erfassen. Dies ist deshalb wesentlich, weil die Therapie von chronischen Schmerzen hauptsächlich auf die Funktionsverbesserung abzielt.
Frage 9
Warum ist es so wichtig, den Umgang des Patienten mit seinem chronischen Schmerz zu erfassen?
Schmerzen sind nicht nur ein Produkt nozizeptiver Vorgänge, sondern auch davon abhängig, was der Betroffene glaubt und erwartet, also wie er die Situation interpretiert.
Selbst bei überwiegend körperlich begründeten Schmerzen kommt es zu umfassenden psychosozialen Wechselwirkungen, Veränderungen des Lebensstils und einer Interpretation der Situation durch den Patienten abhängig von seinen Überzeugungen. Ein Sprichwort hierzu lautet: „Pain is a basic Fact. Misery is an Option.“ Untersuchungen aus der funktionellen Bildgebung haben gezeigt, dass v.a. das mesolimbische System am emotionalen Lernen von chronischen Schmerzen beteiligt ist.
Frage 10
Worin liegt das Hauptproblem im Umgang mit funktionellen Schmerzstörungen?
Bei nicht ausreichender Reflexion kann es zu Enttäuschungen in der Arzt-Patienten-Beziehung kommen.
Auf dem Boden der überwiegend schematischen biomedizinischen Ausbildungserfahrung mit traditionell strikter Trennung somatischer und psychischer Krankheiten und Störungen kann der Gedanke in den Vordergrund gelangen, dass der Patient die Symptome willentlich hervorruft und der Therapeut Opfer eines Betrugs ist. Im Gegensatz zu Personen mit simulierten Störungen leiden Patienten mit funktionellen Störungen genauso stark – wenn nicht sogar mehr –, wie Patienten, die ein eindeutig somatisch oder psychisch definiertes Störungsbild zeigen.
1.3 Grundsätze der Behandlung
Matthias Karst
Frage 11
Was ist die entscheidende Strategie bei der Behandlung akuter Schmerzen?
Schnelle und effektive Schmerzlinderung.
Diese Vorgehensweise ist nicht nur ethisch, sondern v.a. auch medizinisch geboten. Eine erfolgreiche Schmerzlinderung reduziert Komplikationen (z.B. Lungenentzündung) und hilft Sensibilisierungs- und Chronifizierungsprozesse zu verhindern.
Frage 12
Was ist die wichtigste Strategie bei der Behandlung chronischer Schmerzen?
Entscheidend ist das...