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Sie nannten mich Mehmet

Geschichte eines Ghettokindes

AutorChristoph Straßer, Muhlis Ari
Verlagriva Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783864133794
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Muhlis Ari wurde in den 1990er-Jahren als »Crime-Kid«, »Horror-Kid«, »Klaukind« und »Schrecken von Neuperlach« landesweit bekannt. Der Sohn türkischer Einwanderer, geboren in München, hatte bis zu seinem 14. Lebensjahr mehr als 60 Straftaten begangen und galt als schwer erziehbar. Die Behörden gaben dem jugendlichen Serientäter das Pseudonym »Mehmet«. Dieser Name wurde zum Symbol für eine gescheiterte Integration und einen überforderten, ausländerfeindlichen Rechtsstaat, der das Kind schließlich minderjährig und ohne seine Eltern in die Türkei abschob. Mehmet sprach damals zwar bayrischen Dialekt, aber kein Türkisch - die Türkei kannte er nur aus dem Urlaub. Authentisch und ohne zu beschönigen schildert »Mehmet«, der heute 29 Jahre alt ist und noch immer unfreiwillig in der Türkei lebt, seine Kindheit in München-Neuperlach, sein Leben im plötzlichen Fokus der Medien und wie es ist, als Kind allein in einem fremden Land ausgesetzt zu werden.

Muhlis Ari wurde 1984 als Kind türkischer Einwanderer in Deutschland geboren und wuchs in einer Hochhaussiedlung im Münchner Problembezirk Neuperlach auf. Er machte bereits als Kind durch zahllose Diebstähle und Einbrüche, Körperverletzungen, Erpressungen, Nötigungen und Raubüberfälle auf sich aufmerksam. Diverse Resozialisierungsmaßnahmen scheiterten, er wurde rückfällig. Schließlich schoben die Behörden den 14-Jährigen ohne seine Eltern in die Türkei ab. Der Fall schlug bundesweit hohe Wellen.

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Leseprobe

Teil 1 
München-Neuperlach, Deutschland


Was für ein feiger, widerlicher Mensch, der durch brutales Prügeln seine Mitschüler terrorisierte und in München Angst und Schrecken verbreitete.

Tobias Westphal am 21. September 2012 in der Jungen Freiheit

»Ich hab’ dich was gefragt, du Pisser!«

Ich machte einen Schritt auf den Typen zu, der sich sofort hilflos umschaute. Er war vielleicht neun oder zehn Jahre alt, also nicht älter als wir.

Marco und Dimo standen von der Tischtennisplatte auf und kamen zu uns herüber. Klar, der kleine Penner überlegte, ob er abhauen konnte, das hatten auch sie gleich erkannt.

»Bist du’n Depp, oder kannst du nicht sprechen?«, fragte ich den Jungen, der jetzt die Fäuste ballte.

Man konnte fast riechen, dass er sich gleich in die Hosen machte.

Ich holte aus und gab ihm eine Ohrfeige. Auch Issam und Stefan kamen zu uns herüber, hielten aber noch Abstand. Sie wussten, dass ich den Deppen hier ohne Probleme allein schaffte.

Er hielt sich die Wange, sagte aber kein Wort.

Ich drehte mich lachend zu meinen Freunden um.

»Der ist behindert oder so. Der redet einfach nicht.«

Stefan kam zu mir und klopfte mir auf die Schulter.

»Lass’ mich mal«, sagte er und holte ohne ein weiteres Wort aus.

Seine Faust traf den Jungen direkt im Gesicht. Er taumelte ein paar Schritte zurück, fing sich dann aber wieder und starrte uns, an einen Zaun gelehnt, mit riesigen Augen an.

»Lasst mich in Ruhe«, sagte er plötzlich leise. »Ich wollte nur zum Bus.«

»Der Bus ist jetzt weg«, grinste Admir.

»Was glotzt du uns dann so scheiße an, statt zu deinem scheiß Bus zu gehen? Hm? Was du so geglotzt hast, hab’ ich dich gefragt.«

Ich ging wieder zu ihm, packte ihn am Kragen und schmiss ihn mit Wucht gegen den Zaun.

Der Typ machte einen Satz und rannte los.

»Der Wichser haut ab!«, rief ich, aber Stefan hatte ihn schon mit einem Tritt in die Beine gestoppt.

Der Junge fiel hin und heulte laut auf, ich rannte zu ihm und trat ihm mit ganzer Wucht in den Bauch. Der Typ krümmte sich, und ich konnte sehen, dass er sich bei seinem Sturz die Handflächen am Asphalt aufgerissen hatte.

»Wenn du das nächste Mal hier vorbeikommst, dann glotzt du nicht mehr, kapiert?«

Ich stand über ihm und trat ihn ein weiteres Mal.

»Ob du das kapiert hast, hab’ ich dich gefragt.«

»Ja …«, jammerte der Junge am Boden.

»Ja, was?«, schrie Stefan und trat ihn ebenfalls.

»Ja, ich hab’ das kapiert.«

Mittlerweile liefen ihm die Tränen aus den Augen, außerdem kroch schon der erste Rotz aus seiner Nase.

»Lass mal abhauen«, schlug Admir vor. »Bevor der sich noch vollpisst.«

Ich nickte, und Dimo spuckte den am Boden Liegenden noch an, bevor wir wieder zu unserem Platz bei der alten Tischtennisplatte gingen.

Aus den Augenwinkeln sahen wir, dass der Kleine aufstand und sich vom Acker machte. Eine gute Idee, wenn er nicht noch mehr Schläge kassieren wollte.

»Der hat sich bestimmt vollgeschissen, der Schwule«, lachte Stefan, während Dimo das erbeutete Portemonnaie durchwühlte.

»Dann hast du jetzt die Scheiße am Schuh, Muhlis«, grinste Marco.

»Verpiss dich«, sagte ich und stieß ihn ein Stück von mir weg. »Wenigstens stinkt dann nur mein Schuh, nicht wie bei dir alle Klamotten.«

»Hurenzon«, maulte Marco und hockte sich auf die Wiese.

»Hurenzon« war eine unserer speziellen Abwandlungen. »Hurensohn« sagte hier schließlich jeder.

Dimo warf das Portemonnaie in ein Gebüsch.

»Kein Geld, nur der Kinderausweis und ’ne scheiß Monatskarte«, sagte er.

Die nächste Stunde verbrachten Marco, Dimo, Admir, Stefan, Issam und ich damit, uns gegenseitig zu verarschen und irgendwelchen Scheiß zu erzählen. So wie immer hier bei uns im Hof.

Der Hof, das war eine Wohnsiedlung in München-Neuperlach. Eine große Grünfläche, umringt von Hochhäusern. Hier wohnten wir in großen, grauen Dingern, die von außen alle gleich aussahen und noch bis heute aussehen. Eine kleine Welt für sich, die man eigentlich nie verlassen musste. Diejenigen, die Jobs hatten, arbeiteten normalerweise irgendwo gleich um die Ecke, und einkaufen konnte man ebenfalls direkt im Viertel, da man uns immerhin das PEP vor die Nase gesetzt hatte, das Perlacher-Einkaufs-Paradies. Ich hatte mich immer gefragt, warum man »Einkaufsparadies« nicht zusammengeschrieben hatte. Wahrscheinlich, weil PEP einfach besser klang als PE. So war das hier. Egal, wie scheiße irgendwas war, es sollte zumindest gut aussehen. Vermutlich aus demselben Grund hatte man auch möglichst viele Bäume und Grünflächen zwischen die Betontürme gepflanzt.

»Soll’n wir ins PEP?«, fragte Admir.

Wir zuckten alle mit den Schultern, standen aber vom Rasen und der Tischtennisplatte auf, um uns auf den Weg zu machen. Niemand von uns hatte je Geld dabei, von ein paar Pfennigen vielleicht abgesehen, trotzdem hingen wir im PEP eigentlich die meiste Zeit des Tages rum. Wenn wir nichts Besseres zu tun hatten, was sehr selten der Fall war. Außerdem war es erst früher Nachmittag, wir waren erst vor zwei Stunden aus der Schule gekommen, also lag noch eine ganze Menge Tag vor uns. Und zu Hause rumhängen kam nicht infrage. Zu langweilig. Da war das riesige Einkaufszentrum schon interessanter, die Einkaufsstraßen auf mehreren Etagen, die Supermärkte, Drogerien, Boutiquen, Apotheken … Im PEP gab es praktisch alles. Ganz genau wie in einer amerikanischen Mall. Zumindest stellten wir uns das so vor, denn abgesehen von den Urlauben in unseren jeweiligen Heimatländern hatte noch keiner von uns Deutschland verlassen. Marcos Eltern waren Italiener, Dimo kam ursprünglich aus Kroatien, genau wie Admir. Allerdings war er Bosnier, glaube ich. Egal, für uns waren beide Jugos. Issam kam aus dem Iran, und Stefan hatte das Pech, deutsche Eltern zu haben. Für ihn gab es deshalb keine zwei oder drei Wochen Sonne im Jahr wie für mich, wenn meine Eltern mit mir und meinen beiden älteren Brüdern in die Türkei flogen. Meine Eltern besaßen dort ein kleines Haus in der Nähe von Çerkezköy, einer Industriestadt etwa einhundert Kilometer westlich von Istanbul. Das haben sie bis heute noch.

Wir betraten das PEP und suchten als Erstes nach einer Möglichkeit, uns zu setzen. In den Läden hatten wir ohne Geld nichts verloren, weswegen wir erst einmal sehen wollten, was der Tag so brachte. Wir gingen zu einer der Bänke, die man überall verstreut aufgestellt hatte, damit sich die Leute, die hier einkauften, ab und zu etwas ausruhen konnten. Ich sprang auf die Sitzfläche, und die Oma, die bereits dort hockte, zuckte vor Schreck zusammen.

»Was ist?«, fragte ich und setzte mich so auf die Lehne, dass ich mit dem Fuß ihre Einkaufstasche umwarf.

Die Frau schüttelte den Kopf und sah etwas sauer zu mir herauf, sagte aber nichts, weil auch die anderen fünf nun zu der Bank kamen. Sie krallte sich ihre Tüte und machte sich wieder auf den Weg. Wir hätten ihr nichts getan, aber es war ja nicht unser Problem, wenn sie Angst hatte. Wir verteilten uns auf der Bank und schauten uns die Leute an, die an uns vorbeiliefen.

»Ich hab’ Durst«, sagte Admir und schaute gequält.

»Dann hol’ dir doch was, du Depp«, antwortete Issam, und wir anderen lachten.

»Dann gib mir Geld, Idiot.«

»Bin ich das Sozialamt, Spasti?«

»Muhlis, hol mal Cola für uns«, sagte Stefan, der sich neben mich gesetzt hatte und mich mit der Schulter anstieß.

»Wie denn? Ich hab’ nix einstecken«, sagte ich.

Stefan begann, an meiner Jacke zu zupfen.

»Wie vorgestern eben. In die Taschen passen doch locker drei Dosen. Können wir ja dann teilen.«

»Mach doch selbst«, sagte ich nur und riss den Stoff meiner Jacke aus seinen Fingern.

»Traust dich nicht?«, schaltete sich nun auch Marco ein, und sofort waren alle Augen auf mich gerichtet.

»Klar trau’ ich mich, ich hab’ nur keinen Bock. Ich sitz’ hier nur.«

»Wenn Muhlis Angst hat, dann geh ich eben«, maulte Dimo und stand von seinem Platz auf. »Ist ja wohl kein Problem, mal eben Cola zu holen.«

Ich stellte mich auf die Bank und sprang herunter.

»Ich komm mit, sechs Dosen passen bei dir doch gar nicht in die Jacke.«

»Cool«, nickte Dimo, und gemeinsam entfernten wir uns von der Gruppe. Wir kamen uns wie zwei Elitesoldaten vor, die sich für das Team in die Schlacht warfen. Cola oder sonst irgendwas zu klauen war zwar überhaupt keine Schwierigkeit, wir hatten das schon x-mal gemacht, aber immer wieder genoss ich die bewundernden Blicke meiner Freunde, wenn ich mich bereit erklärte, ihnen etwas zu besorgen. Dimo und ich betraten einen kleinen Supermarkt, der etwas teurer war als die Discounter und in dem deswegen nicht ganz so viel los war wie in den größeren Geschäften. Hier »kauften« wir öfter mal ein, denn ohne lange Schlangen an den Kassen war es einfacher, abzuhauen, wenn man doch erwischt werden sollte. Wir schlenderten gemütlich in die Getränkeabteilung und sahen uns um, ob irgendeine Verkäuferin in der Nähe war. Dann nahm Dimo zwei Dosen Cola aus dem Regal und schob sie in seine Jackentaschen. Ich machte das Gleiche, versuchte aber, noch zwei mehr zu ergattern. Immerhin waren wir zu sechst, und wenn ich mit zwei Dosen mehr als...

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