2 Der neue Ansatz – Social Trading erobert das Netz
2.1 Was ist Social Trading?
Morgens 7:30 Uhr: Sebastian Reese sondiert die Lage. Ein Blick auf sein Smartphone gibt ihm erste Hinweise auf die bevorstehende Eröffnung an den Terminmärkten. Eine Viertelstunde später sitzt der Vollzeittrader in seinem privaten Handelsraum vor dem Rechner. Reese ist in seinem Handelsstil flexibel. Er handelt aktuelle Nachrichten, die über den Ticker laufen und die Kurse von Aktien, Devisen oder Rohstoffen beeinflussen. Aber achtet auch auf charttechnische Ausbrüche oder Top- und Bodenbildungen im Kursverlauf. Mitte August 2014 will der Trader günstig bei Gold einsteigen. Schon früh morgens ist es soweit: Ein kräftiger Rutsch drückt den Preis für die Feinunze auf 1.275 Dollar – Reese schlägt zu und kauft, er geht »long« in Gold. Er ist einer der Stars der Social-Trading-Plattform Wikifolio. Dort gibt er nach Abschluss seiner Trades kurze erklärende Kommentare ab, die alle Besucher des Portals einsehen können. Die Erfolge seiner Käufe und Verkäufe bilden die Wertentwicklung eines Zertifikates ab, das Anleger selbst an der Börse kaufen können. Inzwischen sind drei Millionen Euro in das Wikifolio mit dem Titel »SR wisdom capital spekulativ« investiert.
15:59 Uhr: »Patternicus« baut eine erste »Short-Position« im Dax auf, er setzt darauf, dass der Index weiter fällt. Fünf CFD-Dax-Kontrakte nutzt er dafür. CFD, Kürzel für contracts for difference, bilden den Index fast exakt ab, jede Bewegung des deutschen Börsenbarometers vollziehen sie im Sekundentakt nach. Wenige Minuten später schließt er die Position wieder, mit einem kleinen Gewinn. In der folgenden Stunde wiederholt Patternicus den gleichen Trade mit der selben Positionsgröße. Der Dax fällt weiter, insgesamt um fast 100 Punkte. Alle Trades landen im Gewinn. Patternicus hat sein Konto auf der Social-Trading-Plattform ayondo um 1.000 Euro hochgetraded. Rund 700 »Follower« haben den Trader auf ihrer Watchlist bei ayondo. Ein Teil von ihnen folgt den hochriskanten Transaktionen mit ihrem eigenen Konto und echtem Geld, andere nur mit ungläubigem Staunen.
Anfang September 2014: Die Mitglieder des Top100-Clubs von sharewise haben ein buntes Aktienportfolio zusammengebaut. Die von der Empfehlungs-Plattform auserkorenen besten Hobby-Analysten setzen auf Tech-Werte wie Apple oder Amazon, sehen aber auch weiteres Kurspotenzial bei Nebenwerten aus dem deutschen SDax oder dem chinesischen Solar-Hersteller Jinkosolar. Die gemittelten Daten aus der Online-Gemeinde gehen an den Konsortialführer eines eigens aufgelegten Aktienfonds. Die Bank Hauck & Aufhäuser kauft binnen kurzer Zeit die Aktien der neuen Favoriten und stockt deren Anteil im »H&R sharewise Community A« mit der Wertpapierkennnummer HAFX5N auf. Die Fondsanteile sind über alle Direktbanken online zu kaufen, aber auch bei allen Banken und Sparkassen.
Der Blick auf die oben beschriebenen derzeit wichtigsten Vertreter der neuen »Branche« in Deutschland zeigt gleich die Spannbreite, die das Phänomen in wenigen Jahren auch in Deutschland erreicht hat. In allen Fällen werden eine oder mehrere typische Social-Web-Funktionen genutzt.
- >Nutzer müssen sich auf allen Plattformen registrieren, um Teil eines sozialen Netzwerks zu werden.
- >Es werden Produktbewertungen (nämlich zu Aktien, Indizes, Anlageklassen oder dem Gesamtmarkt) abgegeben.
- >Mithilfe kollektiver Intelligenz soll Mehrwert für alle geschaffen werden.
- >Handelsstrategien werden im Sinne des Social Sharing zur Verfügung gestellt und diskutiert.
- >Trader können blog- oder microblogartige Kommentare abgeben.
- >Transaktionen erhalten durch Benachrichtigungsfunktionen an die Nutzer den Charakter eigener Newsfeeds.
Beim Social Trading bleibt es aber nicht beim gegenseitigen Informieren und Diskutieren in der Community. Es wird auch »getradet«, »gezockt« oder investiert. Die Möglichkeit des Kaufs und Verkaufs von Wertpapieren oder Derivaten im Finanzmarkt gehört dazu.
Social Trading ist der Einsatz von Social-Web-Anwendungen plus Transaktion
Das ist die Kurzfassung einer Begriffsbeschreibung, die in diesem Buch genutzt wird.
Im US-Wikipedia wird Social Trading beschrieben als
»Prozess, bei dem sich Investoren im Internet zum Großteil oder sogar vollständig auf Informationen verlassen, die von Nutzern selbst mithilfe von verschiedenen Web- 2.0-Anwendungen zusammengestellt wurden, um daraus Entscheidungen zum Handel mit Finanzprodukten abzuleiten.«22
Im Umkehrschluss bedeutet dies: Banken, Fondsgesellschaften oder auch Emittenten von anderen Anlageprodukten stehen beim Social Trading nicht mehr im Zentrum des Geschehens. Die Gemeinschaft der Anleger entscheidet selbst, welche Informationen bei der Anlage wichtig sind, und berät erst einmal innerhalb der Community.
Bei der Produktentwicklung verrichten die Akteure der »alten Anlegerwelt« nur noch Hilfsdienste. Die Zusammensetzung von Fonds-Portfolios wird durch den Willen der Community bestimmt, Zertifikate so »designed«, dass sie der Kontoentwicklung von gefragten Tradern folgen – und nicht mehr dem Willen von hochbezahlten Produktmanagern beim Emittenten. In anderen Fällen läuft der komplette Anlageprozess unabhängig von der Finanzbranche ab – etwa, wenn Differenzkontrakte abseits der normalen Produktwelt auch noch auf eigenen Handelsplattformen gehandelt werden.
Alte Werte neu definiert
Von einer »Demokratisierung der Finanzanlage« sprechen deshalb viele der Plattformmacher oder Finanziers, die Social Trading betreiben oder unterstützen. Klar ist zumindest, dass Anhänger des Social Tradings nach dem Vertrauensverlust der Banken und Berater neue Wege beschreiten und dabei alte Werte neu definiert haben. Auf der Suche nach Vertrauen und Zuverlässigkeit werden Social-Media-Kriterien genutzt. Das sind zum Beispiel die Zahl der »Follower«, die messbare Treffsicherheit bei der Analyse von Aktien oder die Performance und die Risikomaße bei Top-Tradern. Auch technische Zuverlässigkeit schafft Vertrauen. Wie sicher ist die Daten- und Kursversorgung? Wie korrekt die Ausführung eines Trades?
Der Glaube an die höhere Vertrauenswürdigkeit innerhalb der Nutzergemeinde gehört gewissermaßen zum Wertekanon des Social Tradings. Genau wie zwei weitere Grundannahmen, die nachfolgend beleuchtet werden sollen:
- >Die Anlegergemeinde schafft einen Mehrwert durch ihre kollektive Intelligenz.
- >Innerhalb der Community stellen einzelne Finanz- und Tradinggenies ihr Wissen allen anderen Anlegern zur Verfügung.
2.2 Wie funktioniert kollektive Intelligenz?
Schwarmintelligenz, kollektive Intelligenz, die Weisheit der Vielen – viele Social-Trading-Anbieter nutzen diese Reizworte, um den Nutzen ihrer Dienste zu bewerben.
In den Medien, aber selbst in der Wissenschaft werden einige eindrucksvolle Beispiele dieser kollektiven Intelligenz beschrieben und lebhaft diskutiert.
Zwei der bekanntesten von ihnen hat der amerikanische Journalist und Autor James Surowiecki vorgestellt.23 Zum einen die berühmte Ochsenschätzwette: Auf einer Nutztiermesse in Westengland verfolgte der Naturforscher Francis Galton 1906 einen Schätzwettbewerb, bei dem das Gewicht eines Ochsen getippt werden sollte. 787 Personen gaben eine Schätzung ab. Zur Überraschung Galtons lag der Mittelwert dieser Schätzungen um weniger als ein Prozent entfernt vom tatsächlichen Gewicht des Tieres.
Ein zweites Beispiel, ebenfalls von Surowiecki aufgegriffen, spielt im Jahr 1968: Die Suche nach dem gesunkenen amerikanischen U-Boot USS Scorpion verlief über Monate erfolglos. Dann bat der US-Tiefseewissenschaftler John Craven mehrere US-Marinespezialisten, eine Schätzung für die Lage des Bootes abzugeben. Die ausgewerteten und gemittelten Schätzungen führten laut Surowiecki zu einem Punkt, der nur 200 Meter von der tatsächlichen Position mitten im Atlantik entfernt war.24
Dass es so etwas wie »Schwarmintelligenz« gibt, wissen wir bereits durch die Beobachtungen in der Tierwelt, wie bei Zugvögeln oder Fischschwärmen. Die einzelnen »relativ unintelligenten« Tiere erzeugen durch ihr Verhalten in der Gruppe eine Art höhere Intelligenz. Etwa, indem sie als Schwarm Angreifer irritieren oder, im Fall der Ameisen, ganze Staaten errichten, von denen das einzelne Insekt gar nichts weiß.
Schwarmintelligenz ist auch durch den Bestseller-Roman von Frank Schätzing25 zum populären Modebegriff geworden.
Bei der Übertragung auf den prinzipiell schon »relativ intelligenten« und sozial agierenden Menschen hapert es aber, vor allem, wenn es allzu sehr »menschelt«.
Eine Studie der ETH Zürich aus dem Jahr 2010 unter der Leitung von Dirk Helbing nämlich zeigt, dass bei einer Befragung von 144 Studenten die Schätzwerte der Probanden immer schlechter wurden, je mehr die einzelnen Teilnehmer von den Schätzungen der anderen Versuchspersonen erfuhren. Geschah dies, näherten sich die folgenden Schätzungen immer mehr an, Extremwerte verschwanden ganz und gar, der Mittelwert der Prognosen entfernte sich...