Einleitung
»Wir werden immer maßloser. Immer größere Autos, immer weiter fort in den Urlaub. Etwas mehr natürliche Bescheidenheit würde uns gut tun.«
Uli Hoeneß
Neulich war ich mit meiner Frau in der Eisdiele. Wir hatten es etwas eilig, glücklicherweise war die Schlange nicht allzu lang. Es hat dann trotzdem ein bisschen länger gedauert. Vor uns war eine Mutter mit ihren zwei Kindern dran, vielleicht acht und vier Jahre alt.
»Schau mal, Jonas, die haben auch Butterkeks, das magst du doch«, sagte die Frau zu ihrem Jüngsten.
»Öh …«, machte das Kind.
»Oder lieber Schlumpfeis? Und guck mal: Nutella!«
»Hmmpfff …«, machte das Kind.
»Dann nehmen wir jetzt einmal Butterkeks und einmal Schlumpf«, sagte die Mutter.
»Nein!«, schrie da das Kind, »drei!!!«
Es folgte eine längere Diskussion über das gesundheitliche Für und Wider großer Eismengen, die Vorzüge von Keksstückchen in cremigen Bällchen und mögliche Sanktionen bei fortgesetztem Trotz, die schließlich in einen Kompromiss aus zwei Kugeln mit bunten Streuseln mündete. Als sie über den Tresen gereicht waren, schaute das Kind trotzdem etwas bedröppelt. »Will aber Schokolade!«, rief es im Weggehen. Der Rest verhallte weitgehend ungehört.
Ich muss gestehen: Mir geht es gelegentlich wie Jonas, ich kann mich einfach nicht entscheiden. Als wir vor acht Jahren in unser Viertel zogen, gab es im Umkreis von einem Kilometer genau eine Eisdiele, sie muss so um die 15 Sorten angeboten haben, ich glaube, die exotischste war Tiramisu. Heute hat jede zweite Straße im Kiez einen Eisdealer, die wollen auch leben, klar – wahrscheinlich überbieten sie sich deshalb von Sommer zu Sommer mit lustigeren Sorten. Gerade erst habe ich Litschi-Sauerrahm, Weiße Schokolade-Ingwer und Ziegenmilch-Erdbeere probiert. An Gurke-Zimt, Avocado-Chilli und Guinness habe ich mich noch nicht so recht rangetraut, wahrscheinlich bin ich altmodisch, aber ich finde, Eis sollte etwas Süßes sein. Komischerweise kann ich fast nirgendwo mehr Malaga entdecken. Egal, habe ich eh nie gemocht. Ich hasse Rosinen.
Manche der Läden gleich um die Ecke haben inzwischen 40 Sorten im Angebot. Gleichzeitig. Drüben in Westberlin soll es sogar eine Diele mit 99 Geschmäckern geben. Wobei ich vermute, dass da auch ordentlich Auswahl für Diabetiker und Veganer dabei ist, ein bisschen was mit Sojamilch und das eine oder andere Laktosefreie. Aber trotzdem, 99 Sorten, das ist schon ein Wort. Dafür reicht nicht mal ein ausgiebiger Sommer. Die Kugeln sind nämlich auch stetig größer geworden, leider bin ich heute immer schon nach zweien pappsatt. Zumal man jetzt ja meistens auch den Becher vertilgen kann. Er besteht aus irgendetwas Essbarem. Vermutlich sogar bio. Ich weiß nicht, wie es anderswo ist – aber ich glaube, eismäßig sind wir in Berlin ganz gut aufgestellt.
Manchmal beschleicht mich jedoch ein etwas komisches Gefühl. Würden wir etwas vermissen, wenn es, sagen wir: nur 30 Sorten gäbe? Wer denkt sich die anderen alle aus? Und wieso? Gibt es Menschen, die im Herbst zum Eismann gehen und sagen: Du, ich hätte nächste Saison gerne ein Eis aus 70-prozentiger ecuadorianischer Schokolade und einem Hauch mexikanischer Jalapeños? Wer weiß.
Bitte, ich gönne jedem seine Rosinen, aber ganz ehrlich: Mich überfordert das Angebot bisweilen. Zumal es ja nicht nur beim Eis immer weiter zunimmt. Schauen Sie in den Supermarkt. Glücklicherweise haben wir kein Haustier. Aber ich vermute, bis ich bei Kaufland oder Rewe die 20 Meter Hunde-, Katzen-, Hamsterfutter abgeschritten, die Preise verglichen, die Nährstoffe begriffen und die Auswahl getroffen hätte, wäre zu Hause mein Pudel verhungert. Und wenn nicht alles täuscht, bauen die jedes Jahr einen Meter an. Keine Ahnung, wieso. Machen uns 24 Anti-Schuppen-Shampoos glücklicher als 23? Ich habe meine Zweifel.
Trotzdem eröffnen in den Innenstädten immer mehr und immer schickere Kaufhäuser. In denen wir immer mehr Sachen kaufen. Im Schnitt besitzt jeder von uns inzwischen 10000 Dinge. Das ist schön. Nur: Die Hälfte davon liegt, einmal angeschafft, ungenutzt und unbeguckt in der Gegend herum. Dinge, die nicht gebraucht werden, aber Platz brauchen. Weshalb auch unsere Wohnungen seit Jahrzehnten immer größer werden. Und damit teurer. Weswegen wir wiederum mehr arbeiten müssen, damit wir sie uns leisten können. In diesen Wohnungen leben wir zwar immer häufiger allein, das macht aber nichts, weil es so viele andere schöne Ablenkungen gibt. In unseren Wohn- und Schlafzimmern zum Beispiel beglücken uns gewaltige Flachbildschirme rund um die Uhr mit mehreren hundert Kanälen.
Unsere Autos werden auch immer größer. Was irgendwie komisch ist. Weil ja doch der Platz in den Städten immer enger wird. Wollen wir das von den Autobauern? Oder wollen die Autobauer das von uns? Und macht das einen Unterschied? Wir reisen immer öfter, weil es so schön billig und bequem ist. Aber die Reisen selbst werden immer kürzer, weil wir nicht die Zeit und die Ruhe haben, uns weit weg von allem zu entspannen. Weit weg sind wir ohnehin nie, unsere digitalen Fenster in die Welt haben wir immer bei uns, so dass wir stets und überall wissen, was unsere Freunde gerade machen, die auch immer zahlreicher werden, seit sie über einen Klick jederzeit Verbindung mit uns aufnehmen können.
Und was fürs Haben gilt, gilt auch fürs Wissen und fürs Können. Ständig sind wir dabei, uns fortzubilden und zu optimieren. Wir trimmen unseren Geist, um in einer stetig komplexer werdenden Arbeitswelt bestehen zu können. Wir hetzen durch die Schule und stehen danach vor der Frage, für welchen der inzwischen 16000 Studiengänge wir uns einschreiben sollen. Die Möglichkeiten sind nahezu unendlich: An deutschen Universitäten kann man »Accessoire Design« und »Accounting, Auditing and Taxation« studieren, »Advanced Functional Materials«, »Adventuremanagement«, »Agrobiotechnology«, »Air Quality Control« und »Ambient Assistant Living« – und das ist nur ein winziger Bruchteil der Fächer mit A. Dass kaum jemand so recht weiß, was das ist, ist nicht weiter schlimm. Es wird schon einen Markt dafür geben.
Genauso wie es einen Markt für uns selbst gibt. Deswegen modulieren wir pausenlos unseren Körper, damit er den gephotoshopten Ikonen aus der Werbung ähnelt. Dafür legen wir uns sogar immer häufiger unters Messer und lassen uns schön operieren. Koste es, was es wolle. Als sei unser Organismus nur eines von den Dingen, die gelegentlich ein Update benötigen.
Kurzum: Alles wird immer mehr. Aber heißt das auch, dass zwangsläufig immer alles besser wird?
Der Glaube an ein stetiges Wachstum hat in Ländern wie Deutschland inzwischen »zivilreligiöse Qualität«.[1] »Probieren Sie mal aus, wie Ihre Umwelt reagiert, wenn Sie mitteilen, dass Sie jetzt nichts mehr lernen möchten, es sei nun mal genug. Oder nicht mehr verreisen möchten, Sie hätten schließlich genug gesehen. Und überhaupt wollten Sie sich nicht mehr entwickeln, Sie seien nun einfach fertig«, schreibt der Soziologe Harald Welzer. Dasselbe gilt für den Unternehmenschef, der seine Renditeerwartung plötzlich nach unten schrauben würde. Für den Bundesligaverein, der statt einer maximalen Punktezahl ein möglichst schönes Spiel zum Saisonziel erklären würde. Oder für den Autokonzern, der seinen Luxuslimousinen freiwillig eine PS-Diät verordnen würde. Das wäre ein Verzicht, der unweigerlich Kursverluste, Fanproteste, Kaufboykotte zur Folge hätte. Wachstum ist ein Fetisch, dem es zu huldigen gilt. Ihn in Frage zu stellen unerhört. Die Gleichung Wachstum = Wohlstand = Zufriedenheit hat sich wie ein Ohrwurm eingenistet in unseren Köpfen. Dabei geht die Rechnung schon lange nicht mehr auf.
Niemand bestreitet die Notwendigkeit von Wirtschaftswachstum dort, wo Mangel herrscht, wo Menschen nichts zu essen, kein Dach überm Kopf und kein Geld für die Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse haben. Was aber ist mit Gesellschaften, in denen die große Mehrheit bereits alles hat? Und das mehrfach? Zumindest im statistischen Durchschnitt?
Die Länder Westeuropas und Nordamerikas haben seit den 1950er Jahren einen historisch beispiellosen Aufschwung erlebt. Zwar waren die dortigen Volkswirtschaften bereits seit Beginn der Industrialisierung kontinuierlich gewachsen, aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg ging es plötzlich steil bergauf – und zwar für Sieger wie für Besiegte. Eine schlüssige Erklärung dafür lieferte der Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith bereits 1958 in seinem Buch Gesellschaft im Überfluß: Nach dem großen Gemetzel verfügten demnach alle Industrieländer über eine gewaltige, plötzlich nutzlos gewordene Kriegsmaschinerie, die nun schleunigst umgewidmet werden musste, um die Einkommen und Arbeitsplätze von hunderten Millionen Menschen zu sichern. Aus der Kriegsmaschine wurde eine Konsummaschine, die Bedürfnisse weckte, von denen Otto Normalverbraucher nicht einmal geahnt hatte, dass er sie je haben würde. Der Plan ging auf und verschaffte den betreffenden Ländern binnen kürzester Zeit einen exorbitanten Lebensstandard. Von dem eine kleine Minderheit zwar sehr viel mehr profitierte als die große Mehrheit. Aber immerhin.
Die Sache, warnte Galbraith, habe jedoch einen Haken. Oder besser: zwei. Zum einen treibe die unablässige Produktion von mehr oder weniger nutzlosen Gütern den Staat...