NICHT JEDES KANU KENTERT
Alexa erzählt davon,
dass das Leben gar nicht so gefährlich ist.
Bedingt durch gewisse Erlebnisse in meiner Kindheit hatte ich ziemlichen Respekt vor Gewässern – bis Marcus kam. Mein Vater hatte es nämlich super gefunden, meinen Bruder, meine Schwester und mich ständig in gefährliche Situationen auf dem Wasser zu bringen. Er liebte es, mit uns Kindern auf der Nordsee herumzupaddeln. Zum Entsetzen meiner Mutter trugen wir bei diesen riskanten Aktionen nie Schwimmwesten. Mein Vater wollte sich da nicht »reinreden« lassen.
Ehrlich gesagt hatte ich also nicht nur Muffensausen, was Gewässer anbelangte, sondern auch vor Männern in Kanus auf offener See. Im Laufe meiner Kindheit hatte die Küstenwache unsere Familie mehr als nur einmal retten müssen. Ich erinnere mich an Sommerferien, in denen mein Papa mit uns Kindern bei dichtem Nebel aufs tosende Meer hinaus paddelte, um zu beweisen, dass uns nichts passieren konnte. Wir Kinder saßen kreischend im Kanu und flehten, wieder zurück an den Strand zu dürfen. Ein anderes Mal mussten sich mein Vater und mein kleiner Bruder stundenlang auf einem Seezeichen festklammern, weil das Kanu gekentert war. Dann hatte es wieder bei Windstärke zwölf ein schwieriges Manöver gegeben, bei dem Teile unserer Familie beinahe ertrunken wären –
was wiederum zur Folge hatte, dass meine Mutter ständig ein »komisches Gefühl« hatte, sobald mein Vater mit uns Kindern in See stach, was mein Vater wiederum als »ziemlich störend« empfand und zuweilen mit Ärger darauf reagierte.
Als kleines Mädchen hatte ich also außerdem gelernt, dass Männer es überhaupt nicht mochten, wenn Frauen ihnen ihre Fähigkeit absprachen, Situationen richtig einzuschätzen und auch zu beherrschen – und dass diese zwei entgegengesetzten Sichtweisen unweigerlich zum nächsten Ehekrach führten.
Dummerweise schlug Marcus für unseren ersten gemeinsamen Familienausflug ausgerechnet vor, wir könnten uns ein Familienkanu ausleihen und damit irgendwelche Flüsse hinauf und hinunter paddeln. Um nicht gleich meine kindliche Prägung offenzulegen, machte ich sofort eine begeisterte Miene und sagte mit höher gepitchter Stimme: »Tolle Idee! Super! Ich liebe Abenteuer!« Ich gab mir alle Mühe, meinen eigenen Worten zu glauben. In gewisser Hinsicht liebte ich ja auch das Abenteuer. Ich schaffte es nur nicht, dieses auch hundertprozentig zu leben. Also dachte ich mir: »Jetzt ist offenbar der Zeitpunkt gekommen, an dem ich lerne, das Abenteuer zu leben!«
Ich gebe zu, bisher hatte mir das Abenteuer im Bereich »Freizeitgestaltung« nicht sonderlich gefehlt. Aber mir war klar, dass ich mich, damit sich Marcus und meine Beziehung in voller Pracht entfalteten, ein gewisses Stück auf ihn zu bewegen musste. Aber nicht, indem ich mich zusammenriss und etwas tat, was ich eigentlich gar nicht wollte, sondern indem ich etwas ablegte, was ich schon längst nicht mehr wollte. In diesem Fall die Angst vor Gewässern. Tatsächlich wollte ich Crocodile-Dundee-mäßig keine Angst vor gar nichts mehr haben. Ich wollte die Frau meines Lebens werden: angstfrei, abenteuerlustig, vertrauensvoll.
Wir mieteten uns also ein Familienkanu. Als Symbol für unsere familiäre Zusammengehörigkeit. Was Marcus natürlich nicht ahnte: Ich kam mir schon irre heldenhaft vor, als meine Kinder und ich in diesen wackligen Strohhalm einstiegen. Und zwar ohne Schwimmwesten, weil der Boots-Verleiher gerade keine dahatte. Als wir dann alle Mann auf den schmalen Bänkchen saßen, dachte ich: »Es ist der helle Wahnsinn! Das Kanu ist noch nicht gekentert!«
Marcus war viel mehr begeistert, wie gut ich paddeln konnte. Das hatte ich mir natürlich als kleines Mädchen bei meinem Papa abgeguckt. Ich war selbst erstaunt, wie genial ich das draufhatte, und war meinem Vater schlagartig dankbar! Als hätte ich in meinem Leben nichts anderes getan, paddelte ich los. Ich ging richtig schwungvoll zur Sache und auch Lilly und Rasmus meinten stolz: »Oha, Mama! Wir wussten ja gar nicht, dass du so gut paddeln kannst!« Weil ich mit meinen Kindern noch nie solche Ausflüge unternommen hatte. Was zum einen daran lag, dass ich bisher nicht hatte paddeln wollen, auf der anderen Seite wären Lilly, Rasmus und ich nie zu so einer entlegenen Paddelstelle gekommen, da ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht Auto fuhr. Auch so eine Folge von kindlicher Konditionierung. Von wegen: »Lass keine Frau hinters Steuer! Sie baut definitiv einen Unfall!« Aber das ist ein anderes Thema, dem ich mich erst ein paar Jahre später stellen musste, als Marcus wegen zu hohen Punktestandes in Flensburg seinen Führerschein herausrücken musste.
An diesem herrlichen Nachmittag im Frühsommer fand Marcus es erst einmal toll, dass er eine Familie gefunden hatte, die nicht selbst Auto fuhr und noch nie Ausflüge unternommen hatte. Mal abgesehen von denen, die risikoarm und mit dem Fahrrad durchzuführen waren. Also: Eisessen im Park oder ein Besuch im Naturkundemuseum.
Das bedeutete für ihn, dass er uns, wie einer Hand voll Außerirdischer, quasi die ganze Welt zeigen konnte. Finde mal solche Leute! Das wird schwierig! Weswegen Marcus sein Glück kaum fassen konnte. Er sprudelte über von irrwitzigen Ideen bezüglich krasser Freizeitgestaltung, Urlauben und Wochenendausflügen. Ich glaube, er hatte richtig Sorge, dass wir nicht alles schaffen könnten, bevor die Kinder in zehn Jahren aus dem Haus sein würden.
Inzwischen erfasste mich so ein regelrechter wohliger Grusel, je klarer mir wurde, dass diese neue Liebe, die ich ja für die Ewigkeit plante, definitiv einige ziemlich heftige Herausforderungen für mich bringen würde. Und da ich zumindest während meiner ersten Ehe gelernt hatte, dass es nichts brachte, auf seinen eigenen beschränkten Standpunkt zu beharren, da dadurch der Raum, in dem man sich als Paar bewegte, immer enger und enger wurde, bis schließlich niemand mehr atmen konnte, nahm ich mir vor, jede noch so heftige Challenge in Sachen »lebensbedrohliche Ausflüge« anzunehmen und somit sämtliche angstgesteuerten Einschränkungen loszulassen. Allerdings ohne dass Marcus etwas davon merkte. Schließlich wollte ich nicht, dass er sich schockiert von mir abwendete, weil ich zum Beispiel gerade noch eine Frau war, die sich vor der bakteriellen Verunreinigung von Flusswasser fürchtete.
Ich gebe zu: Das klingt richtig paranoid! Und vielleicht gibt es wenige Menschen, die sich ausgerechnet vor der bakteriellen Verunreinigung von Flusswasser fürchten. Das ist eben Ergebnis meiner ganz persönlichen kindlichen Programmierung. Für die ich nichts kann. Aber wenn sich jeder einmal dazu befragen würde, vor welchen idiotischen Dingen er Angst hat, könnten wir alle zusammen eine Wahnsinns-Liste erstellen über absurde Dinge, vor denen wir uns fürchten.
Meine beste Freundin Theresa hat zum Beispiel Angst, den falschen Mann geheiratet zu haben!
Wie auch immer. Ich war extrem entschlossen, an diesem Tag einige kindliche Konditionierungen loszulassen – um Marcus zu imponieren und besonders auch um Lilly und Rasmus nicht auf die gleiche einschränkende Weise zu konditionieren. Nie sollten sie sich vor Paddelfahrten oder vor Flusswasser fürchten. Ich paddelte also eifrig drauf los und gab mir alle Mühe, nicht an die bakterielle Verunreinigung zu denken, was nicht leicht war, weil ordentlich Flusswasser um uns herumspritzte. Ich nehme an, ich sah ziemlich angestrengt aus, was aber nichts machte, da ich vorne im Kanu saß, während sich die Kinder mit Marcus hinter mir über mögliche Babynamen unterhielten. Denn: interessanterweise beschlossen Lilly, Rasmus und Marcus auf dieser Kanufahrt, dass in nächster Zeit noch einige Geschwister dazukommen würden.
Diese Planung machte mir wiederum gar keine Angst. Meine Augen wurden immer größer. Mein Herz öffnete sich immer mehr. Ich war so voller Glück, dass ich jemanden gefunden hatte, der genauso gerne eine glückliche Familie haben wollte wie ich. Einer, der voller Begeisterung drauflosrannte. Einer, der nicht nur redete, sondern auch vollbrachte. Einer, der keinen Dünkel hatte, sein vorheriges, gutsortiertes Leben aufzugeben – zugunsten einer gemeinsamen Zukunft. Um uns herum flatterte und zwitscherte es. Die blätterbepackten Baumkronen rauschten und blinkerten sacht im Wind. Libellen surrten über das silbrige Schilf und ich fühlte mich so unglaublich befreit, ganz ohne Last, fast wie ein Kind, während ich meine neue Familie hinter mir im Kanu fröhlich plappern hörte. Über die neuen Geschwisterchen, ob Junge oder Mädchen, oder beides. Zwillinge. Drillinge und so weiter. Dass die zukünftigen Babys allerdings Nepomuk oder Lila heißen sollten, machte mich dann doch etwas nervös.
Aber das verging mir auch gleich wieder, als Marcus vorschlug, dass wir an der nächsten Flusszweigung anlegen sollten, weil da laut Bootverleiher am Ufer eine Schrebergartenparty steigen sollte. Mit Grillen und Bier und so weiter. Mir rutschte sofort das Herz in die Hose. Ich wusste ja nicht einmal mehr ganz genau, in welcher Region Deutschlands wir uns hier eigentlich befanden. Es war ein bisschen Out of Nowhere. Stichwort: Gilbert Grape – Irgendwo in Iowa! Ich dachte: »Hier herrschen bestimmt ganz eigene Regeln.« Ich hielt es also für besser, sich nicht einfach bei Schrebergartenkumpels selbst zum Fest einzuladen. Das konnte ich mir natürlich nicht anmerken lassen. Schließlich wollte ich möglichst abenteuerlich rüberkommen. Ich nickte also nur zur Bestätigung: »Ja! Klasse!« Und betete leise vor mich hin, dass bitte, bitte diese verdammte Schrebergartenparty heute nicht...