1 »Klappt es?«
1.1 Die Funktions-Perspektive der »klassischen« Sexualtherapie
Theoretische und praktische Konzepte entstehen nicht einfach so. Sie haben Vorfahren. Ähnlich wie bei echten Familien gehen auch hier die Nachkommen ihre eigenen Wege, selbst wenn oder gerade wenn es den Alten nicht gefällt. Anders ist Entwicklung kaum möglich. Das gilt auch für die systemische Sexualtherapie, wie ich sie in diesem Buch ausführe und die es ohne ihre »klassischen« Vorläufer so nicht gäbe. Das Attribut »klassisch« verwende ich in doppelter Absicht: Ich möchte sie würdigen und zugleich zur Vergangenheit erklären. Das geht natürlich nicht einfach per Deklaration. Ich will es in diesem ersten Kapitel genauer begründen.
Als 1970 der Mediziner William H. Masters und die Psychologin Virginia E. Johnson ihr sexualtherapeutisches Konzept vorstellten, eröffneten sie den Boom einer Therapie, der ohne Vorgänger war: Ein klares, transparentes Konzept auf der Basis solider empirischer Forschung und Erfolgsquoten von über 90 % – das hatte es zuvor noch nie gegeben. Und das auf einem Gebiet, in dem bis dahin kaum mehr als improvisiert und dilettiert wurde. Ein sensationeller Fortschritt also. Das Jahrzehnt danach wurde, aus dem Stand heraus, zur Hochkonjunktur der Sexualtherapie dieses Typs, der Masters-Johnson-Therapie. Relativ schnell wurden an vielen Orten Sexualambulanzen und -sprechstunden eingerichtet, einzelne Forschergruppen untersuchten Varianten und Modifikationen des ursprünglichen therapeutischen Konzepts (Annon 1974, Kaplan 1974, 1979, LoPiccolo und LoPiccolo 1978, Rosen und Leiblum 1995). Die Patientennachfrage war immens und verstärkte den Schwung, den die Forscher und Therapeuten fortsetzten. A star was born.
Masters und Johnson hatten, ehe sie ihr therapeutisches Konzept vorstellten, in den fünfziger und sechziger Jahren Grundlagenstudien zur Physiologie der menschlichen Sexualität durchgeführt, die das bis dahin fragmentarische Wissen über die sexuellen Funktionsabläufe erheblich erweiterten und aus dem Halbdunkel sexueller Mythen in das Licht empirischer Daten brachten (Masters und Johnson 1966). In Hunderten von Laboruntersuchungen wurden Blutdruck, Herzfrequenz, Hautwiderstand, Pupillendurchmesser, Atmungsfrequenz, genitale Durchblutung, anatomische Veränderungen der Genitalien, Hautverfärbungen bei sexuellen Aktivitäten, also bei Masturbation und Geschlechtsverkehr im Labor, protokolliert und systematisiert. Ihre Ergebnisse führten zu zwei Konzepten, die beide als historische Meilensteine der Sexualwissenschaft gelten: der »Human Sexual Response Cycle« (HSRC) und der klitorale Orgasmus.
Der sexuelle Reaktionszyklus bündelt die Vielfalt der zentralen und peripheren sexuellen Reaktionen zu einem in sich schlüssigen Reaktionsmuster. Demzufolge lassen sich vier Phasen der sexuellen Reaktion unterscheiden: Erregung, Plateauphase, Orgasmusphase und Refraktärphase. Mit dem HRSC war die Sexualität lehrbuchfähig. Der HSRC galt von da an als die universelle Grammatik des normalen, ungestörten, »gesunden« sexuellen Ablaufs, der biologische Kern dessen, was zur Sexualität gehört.
Dieser normative Aspekt wurde in der Folge von feministischer und sozialwissenschaftlicher Seite kritisiert und relativiert (Gagnon 1990, Tiefer 1991). Die Kritik betraf die Verdinglichung eines häufig vorkommenden Verhaltensmusters zu »Natur«. Warum, so wurde etwa eingewandt, muss eine sexuelle Erregung zu einer Plateauphase führen? Die Erregung könnte ja auch flüchtig oder kurzfristig sein. Warum soll der Orgasmus notwendiger Teil eines sexuellen Geschehens sein? Muss man von Störung sprechen, wenn der Orgasmus ausbleibt oder gar nicht erst intendiert ist? Warum der hohe Stellenwert der Refraktärphase, die sich zudem bei Männern und Frauen erheblich unterscheidet? Die Kritik kreist um zwei Kernpunkte: (1) der HSRC nehme ein soziales Geschehen (Geschlechtsverkehr) aus dem interaktiven Kontext heraus, in dem es entsteht, und mache damit unzulässigerweise kulturelle zu natürlichen Abläufen. (2) der HSRC bagatellisiere den Unterschied zwischen männlicher und weiblicher Sexualität und stelle ein scheinbar geschlechtsneutrales Muster dar, das faktisch aber von einer männlichen Sicht dominiert sei. Diese Kritik hat in den letzten Jahren durch die Auseinandersetzungen um die Diagnose weiblicher Sexualstörungen noch einmal starken Auftrieb bekommen (Bancroft 2000, 2002, Matthiessen und Hauch 2004, Tiefer 2004).
Die zweite große Begriffsschöpfung war die Unterscheidung zwischen vaginalem und klitoralem Orgasmus. Masters und Johnson entlarvten den Mythos, »gesunde« Frauen müssten beim vaginalen Verkehr orgasmusfähig sein, indem sie zeigten, dass die Orgasmusreaktion der Frau von der direkten oder indirekten Stimulation der Klitoris abhängt (Sherfey 1974). Ungewollt trugen sie damit aber zu einer neuen normativen Ausrichtung bei, die zielorientierte und erfolgreiche Klitorisstimulation sozusagen sexualobligatorisch zu machen.
Die Auseinandersetzung zwischen Entspannung und Angst
Auf der Basis dieser beiden Schlüsselentdeckungen entwickelten Masters und Johnson ihr Therapiekonzept, das lerntheoretische wie humanistische Elemente enthält, obgleich es sich nicht explizit auf eine therapeutische Schule bezieht. Dem leitenden lerntheoretischen Axiom zufolge schließen sich sexuelle Erregung und Angst physiologisch aus. Die Autoren haben zum einen Ängste im Auge, die sich aus sexualfeindlichen Tabus und Verboten herleiten, welche in der Entwicklungszeit der Therapie, den sechziger Jahren des prüden und konservativ-religiös dominierten nordamerikanischen Mittelwestens, die mächtigen und ubiquitären Determinanten der herrschenden Sexualkultur waren.
Zum andern – und für ihr therapeutisches Vorgehen noch zentraler – fokussierten sie die Versagensangst, also die Angst, sexuell nicht zu funktionieren, keine Erektion, eine zu frühe Ejakulation, keine Erregung, Lubrikation und Orgasmus zu haben. Aus heutiger Sicht könnte man die Versagensangst – im Gegensatz zu den »klassischen« sexualfeindlichen Ängsten, die Masters und Johnson ja nicht neu entdeckt, sondern übernommen hatten – bereits als »moderne« Angst bezeichnen, in der sich die neue Norm, sexuell erfolgreich und funktional zu sein, zu erkennen gab. Masters und Johnson hatten mit der »Performance anxiety« den Antipoden des HSRC kreiert und damit das dynamische Spannungsfeld aufgemacht, innerhalb dessen sich ihr therapeutisches Vorgehen plausibilisieren ließ und seine Dramaturgie entfaltete: die Auseinandersetzung zwischen Entspannung und Angst.
Das Setting, das beim Standardvorgehen von einem Therapeutenpaar durchgeführt wird, sieht eine abgestufte Reihe halbstandardisierter Verhaltensvorgaben vor, sogenannte »Übungen«, mit denen das Paar Erfahrungen machen kann. Sie sind eingerahmt von einem Koitusverbot, das die Versagensangst dadurch außer Kraft setzen soll, dass die Gelegenheit zum Scheitern genommen wird. Die Verhaltensvorgaben beginnen mit der Aufgabe, dass die nackten Partner sich streicheln sollen, wobei der rezeptive Partner sich entspannen soll. Das findet in einem streng limitierten zeitlichen Rahmen statt1, um die Angst vor Erregung, Nähe, Überwältigtwerden zu kontrollieren. Die jeweilige Phase ist erfolgreich abgeschlossen, wenn beide Partner sich angstfrei entspannen können. Bei jeder Phase kommt ein Element dazu, das einen Schritt in Richtung sexuelle Erregung bedeutet (Tab. 1; Details bei Arentewicz und Schmidt 1993, Fahrner und Kockott 2002, Gromus 2002).
Tabelle 1: Sensate-Focus-(»Streichel-«)Übungen
- Sensate Focus 1: Genitalien werden ausgespart;
- Sensate Focus 2: Genitalien werden oberflächlich mit einbezogen;
- Sensate Focus 3: Genitalien werden »erkundet«, aber nicht stimuliert;
- »Spiel mit der Erregung«: durch begrenzte genitale Stimulation wird ein spielerischer Umgang mit Erregung im Sinn von kommen und gehen lassen erprobt;
- Einführen des Penis ohne Bewegungen;
- Einführen mit vorsichtigen Bewegungen;
- Koitus ohne Einschränkung.
Dieses phasenweise Vorgehen, das – lerntheoretisch gesehen – einer Desensibilisierungslinie folgt, wird ergänzt durch spezielle Techniken beim Vaginismus und bei der frühzeitigen Ejakulation und durch gelegentliche gleichgeschlechtliche Einzelgespräche, also der Therapeutin mit der Klientin, des Therapeuten mit dem Klienten und – je nach Ausrichtung der Therapeuten – allgemein paartherapeutische Interventionen jenseits der sexuellen Thematik. Ein solches schrittweises Vorgehen ist eine geduldige territoriale Arbeit, bei der die Entspannung langsam Land gewinnt und der Angst zunehmend Land abnimmt. Das aus der humanistischen Psychotherapie kommende Bild, wonach Therapie im Wesentlichen dem persönlichen Wachstum gewidmet sein solle, ist eine weitere zentrale Metapher: Die »verschütteten Triebe« (Pfäfflin und Clement 1980), die lediglich am Wachstum gehindert sind, kommen von selbst zu sich, wenn erst ihre Behinderung durch repressive äußere oder verinnerlichte Normen abgetragen ist. Entspannung ist das individuelle und paarpsychologische Ökotop, in dem das Wachstum von Wohlbefinden, Selbstverwirklichung und Lust möglich ist.
Der Abschied
In einer Literaturanalyse kamen 1994 die beiden Sexualwissenschaftlerinnen Leslie Schover und Sandra Leiblum zu einem ernüchternden Ergebnis: Sie konstatierten eine Stagnation der sexualtherapeutischen Entwicklung seit Mitte der...