Einleitung
1 Vielschichtige Begegnung – Implikation und Mehrebenen-Kommunikation als therapeutische Kunst
»Ich steh’ mir selbst im Weg.«
»Dann treten Sie doch ein wenig zur Seite!«
»Wenn es so einfach wäre!«
»Entschuldigen Sie, ich habe mich ungenau ausgedrückt. Ich meine natürlich, dass der, der Ihnen im Weg steht, zur Seite treten soll, damit der andere von Ihnen, dem er im Weg war, weitergehen kann.«
»Das wäre schön …«
»Könnten Sie Ihrer Seele denn einen schönen Gruß ausrichten, dass sie den Verkehr da drinnen neu regelt – also dass der, der im Weg steht, zur Seite rückt, und ansonsten der, dem Sie im Weg stehen, einen kleinen Umweg drumherum macht?«
»Ich weiß nicht … ich richte es ihr aus.«
»Das braucht gar kein großer Umweg sein, wenn einem jemand im Weg steht und der nicht von selbst weggeht. Manchmal hat er sogar einen Grund, warum er da steht. Sehen Sie, da, wo wir heute Ampeln verwenden, gab es früher einen Schutzmann, der hat die Autos, Radfahrer und Fußgänger angehalten und durchgewinkt, immer, wie es gerade benötigt wird. So stell ich mir das vor. Sagen Sie Ihrer Seele, dass sie das so macht?«
»Das mache ich!«
Was geschieht in diesem Therapiegespräch? Warum gibt der Klient den anfänglichen Widerstand gegen die merkwürdigen Ideen seines Therapeuten so bald auf? Wie kommt es, dass er am Schluss froh und erleichtert wirkt, obwohl über sein Problem als solches gar nicht gesprochen wurde?
Um zu verstehen, wie therapeutische Kommunikation (und womöglich Kommunikation überhaupt) funktioniert, brauchen wir ein Verständnis dessen, was zwischen den Zeilen gesagt und gehört wird. Das ungesagt Gesagte, das Angedeutete und das Erwähnte, was sofort vergessen wird, weil es von anderen Inhalten überholt wird, bestimmt über die Wirkung des Besprochenen.
Allein schon der verbale Teil unserer Kommunikation ist viel zu dicht, als dass wir all die Nuancen des Gesprochenen, die unser Unbewusstes hört, bewusst verstehen und auswerten können. Welchen Unterschied macht es etwa, ob ich sage: »Dann treten Sie doch ein wenig zur Seite!« oder »Und wenn Sie einmal ein wenig zur Seite treten würden …?« oder »Jetzt treten Sie doch einmal zur Seite!«? Es macht einen Unterschied! Der Klient wird unterschiedlich auf jeden der Sätze reagieren, und jeder Klient wird ein wenig anders auf die jeweilige Botschaft reagieren. Obwohl jeder Mensch ein Original ist und unterschiedlich reagiert, gibt es Gemeinsamkeiten in den Interpretationen und Reaktionen auf bestimmte Worte und Sätze – sonst könnten wir ja nicht kommunizieren und dabei auf einen gemeinsamen Nenner kommen!
Zu den gesprochenen Worten mit ihren unterschwellig wirksamen Bedeutungen kommen die nonverbalen Inhalte hinzu. Dazu gehört zum einen der sichtbare Teil der Körpersprache: Mimik und Gestik, der Atem und völlig unwillkürliche Reaktionen wie die Veränderung der Pupillenweite und der Gesichtsfarbe, der Lidschlag oder Magen- und Darmgeräusche.
Zur nonverbalen Kommunikation gehört aber auch der hörbare Teil der Körpersprache, also der Teil des Sprechens, der nicht in Schrift zu fassen ist: Tonhöhe und Satzmelodie, Sprechgeschwindigkeit, Sprechrhythmus und Pausen, Stockungen im Sprachfluss, Stimmklang und -fülle, Lautstärke und Lautstärkeentwicklung (Dynamik). All das wird vom Unbewussten ausgewertet und zum Verständnis mit herangezogen.
Wieder macht es einen Unterschied, wie ich den Satz »Dann treten Sie doch ein wenig zur Seite!« ausspreche:
- mit freundlichem Grinsen und einem Augenaufschlag,
- mit verschränkten Armen und heruntergezogenen Mundwinkeln,
- mit geschürzten Lippen, fragenden Kinderaugen, geneigtem Kopf,
- laut und abrupt, mit abfallender Melodie, wie eine Behauptung,
- langsam und leise, mit sanftem, warmem, nachdenklichem Klang,
- mit langsamem, tiefen »dann« zu Beginn, einer Pause danach und dem Rest des Satzes hoch und schnell ausgesprochen.
Gleiches gilt für die Körpersprache und die Stimme der Klienten. Die nonverbale Kommunikation der Klienten gibt aber nicht nur Aufschluss über die Bedeutung, die sie ihren Worten geben möchten, oder die Art, wie sie die Beziehung zur Therapeutin oder dem Therapeuten gestalten, sie gibt auch beispielsweise ausführliche Auskünfte darüber,
- was die Klienten in dem Alter erlebt haben, von dem sie gerade sprechen,
- welche Symptome sie haben bei Krankheiten, die sie ansprechen,
- was sie unterdrücken, verschweigen oder unterschwellig erleben,
- wie die vorangegangene Intervention ihr Befinden verändert und
- wie gut sie schon mit Belastungen umgehen können.
Die Körpersprache kann daher gut zur Anamnese und zur Einschätzung des Therapiefortschritts verwendet werden. Berichtet ein Klient Ereignisse von früher, wird er die selben psychovegetativen Reaktionen zeigen, die er in der Situation selbst zeigte. Erzählt ein Klient etwa von seinem Heuschnupfen, beginnt er sich zu kratzen, an den Augen zu reiben, er fängt an zu näseln oder sich zu räuspern. Kommt die therapeutische Arbeit zum Ziel, wird er auch dann, wenn von Pollen die Rede ist, keines dieser Symptome zeigen. Erzählt der Klient von seiner Schlafapnoe, wird er atmen, als ob er Luftnot habe. Nach erfolgreichen Interventionen für einen regelmäßigen Atem wird er bei der Vorstellung zu schlafen ruhig und tief atmen. Erzählt ein Klient von Erlebnissen, die ihn traumatisiert haben, werden die Stockungen in seiner Sprache die Therapeutin früh darauf hinweisen, dass besondere Umsicht gefordert ist. Je näher der Klient sich der Erinnerung des traumatischen Erlebens nähert, desto länger und häufiger werden die Stockungen in seiner Sprache und desto mehr kommen sie an Stellen, wo sie syntaktisch keinen Sinn ergeben. Am Ende einer gelungenen Traumatherapie wird ein Klient, auf das belastende Ereignis oder Trigger-Situationen angesprochen, wenig oder keine Anzeichen von Belastung zeigen. Seine Stimme wird vermutlich klar und deutlich klingen, sein Atem und Sprechfluss werden gleichmäßig sein, seine Motorik wahrscheinlich ruhig, aber beweglich sein. Wir können das Erreichte regelmäßig mit einem »Vorher-Nachher-Test« überprüfen, indem wir die ursprünglich belastenden Situationen ansprechen, die nonverbalen Reaktionen der Klienten darauf beobachten und so die Effektivität der Therapie wesentlich steigern.
Jede Etappe auf dem Weg vom belasteten zum befreiten Erleben ist von sichtbaren und oft auch hörbaren Reaktionen begleitet. Nach hilfreichen Interventionen verändern sich Körperhaltung, Gesichtsausdruck, Atem, Stimmklang, Sprechrhythmus, Beweglichkeit und andere Parameter von Stressanzeichen hin zu Zeichen der Entlastung.
Mehrebenen-Kommunikation, also Kommunikation auf vielen Ebenen gleichzeitig, ist etwas Alltägliches. Für Therapeuten, Erzieher, Seelsorger und andere Helfer kann es nützlich sein, auch bewusst Worte mit heilender Wirkung zu gebrauchen. Wenn wir lernen, Bilder und Worte zu identifizieren, die uns und andere potenziell schwächen und schädigen, können wir auch heilende Formen finden. Eine so geschulte Wahrnehmung können wir zur Anamnese, Diagnostik und Prognostik nutzen. Sie hilft uns zu verstehen, was den Klienten belastet, wie das Problem entstanden sein kann und inwieweit im Verlauf der Therapiestunde eine Veränderung der Symptomatik eintritt.
Das Buch soll dazu beitragen, auf vielen Ebenen die Wahrnehmung für die Implikationen dessen, was Klienten und Therapeuten ausdrücken, zu schärfen. Das Nur-Angedeutete und das Unausgesprochene, das über das Gelingen der therapeutischen Kommunikation entscheidet, soll deutlich wahrnehmbar werden. Dahinter steht die Überzeugung: Gespräche spielen sich vor allem zwischen den Zeilen des ausdrücklich Gesagten ab.
In erster Näherung geht es darum, unwillkürlich ablaufende Kommunikationsprozesse ins Bewusstsein zu heben und uns zu befähigen, diese wahrzunehmen und zu nutzen. Zeitweise werden wir dieses Wahrnehmen und diese Nutzung bewusst praktizieren, dann wieder werden wir, ohne es zu merken, auf mehreren Ebenen gleichzeitig therapeutisch kommunizieren. Wie ein Klavierspieler sein Stück erst dann gut spielen kann, wenn nicht mehr sein bewusstes Denken es bearbeitet, sondern seine Finger es für ihn spielen, so ist es auch hier.
Wie lernt man therapeutische Mehrebenen-Kommunikation? Wie lernt man, auf vielen Ebenen gleichzeitig zu hören und zu sprechen und mit dem Unbewussten des Klienten in einer heilenden Interaktion zu sein? Man lernt es wie das Tanzen – oder auch wie das Autofahren, wobei wir gleichzeitig mit Händen und Füßen, Augen, Ohren und dem Hals, der den Kopf dreht, aktiv sein können, um auch auf überraschende Situationen schnell zu reagieren.
Einen therapeutischen Umgang mit Implikationen und Mehrebenen-Kommunikation lernen wir, indem wir uns die Prozesse, die dabei stattfinden, für Augenblicke ins Bewusstsein rufen. Anschließend können wir sie wieder »vergessen« im Wissen, dass unser unwillkürliches Denken das Gehörte jetzt neu versteht und Entscheidungen trifft, schneller und vielschichtiger als alles, was unser bewusstes Denken zustande bringt.
Um zu beschreiben, was da »zwischen den Zeilen« geschieht, wird oft der Begriff »Dissoziation« gebraucht. Der Begriff, wie er hier verwendet wird, stammt aus der Hypnotherapie. »Dissoziation« bezeichnet demnach nicht speziell unerwünschte oder krankhafte Abspaltungen von bewusstem...